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Schulanfang aus der Retroperspektive

von Birgid Hanke

Foto Füße Schulanfang aus doppelter der Retrospektive: Eine kleine Zwischenbilanz
Mein Kind ist im letzten September zur Schule gekommen. Seitdem ist alles anders, sehr viel anders, so viel anders, wie ich es mir doch nicht vorgestellt hätte. Wer hat eigentlich im letzten Jahr mehr lernen müssen, wir Eltern, insbesondere ich als Mutter oder meine kleine Schulanfängerin ?

Einen Tag nach ihrem sechsten Geburtstag wurde sie eingeschult. Zu früh oder gerade richtig ? Lieber doch noch ein Jahr in die Vorschule, in der die beste Freundin aus dem Kindergarten nach der vierzehntägigen Probezeit mit allen anderen bekannten Kindergartenkindern gelandet ist ?
„Ich will zu Charlie in die Vorklasse“, weinte das Kind.
„Macht euch bloß nicht abhängig davon“, mahnte Charlies vernünftige Mutter.
„Kinderfreundschaften zerbrechen genauso schnell, wie sie entstehen.“
„Ich möchte Ihre Tochter behalten“, sagte die Klassenlehrerin bei dem Besprechungstermin nach dreiwöchiger Probe/Beobachtungszeit und verströmte Zuversicht. „Sie schafft das.“
„Ich hätte sie gerne bei mir in der Vorschulklasse“, sagte die Vorschullehrerin und lächelte so lieb.
Warum ? „Sie ist manchmal schon bei den einfachsten Aufgaben so verkrampft und wird dann zappelig.“ „In anderen Bereichen wiederum brillant“, mischt sich die Klassenlehrerin wieder ein. Sie blättert im ersten Übungsheft unserer Tochter und zeigt auf die von ihr mit Perfektion gelösten Aufgaben. (Nicht anders haben wir Eltern es auch von ihr erwartet). Und unisono:
„Wir wissen es nicht. Wir möchten die Entscheidung gerne Ihnen überlassen.“

„Ich will in die Vorklasse, Frau Ebert ist so nett“, quengelte da Kind. „Und deine Klassenlehrerin ?“ „Ist auch nett, aber nicht sooooo nett.“
„Laß uns ihr das eine Jahr noch schenken“, sagte der weichherzige Papa.

Aber erst nachdem er seine Kränkung, daß seine Tochter, die schönste und klügste von allen, eventuell doch noch nicht „richtig“ schulreif war, überwunden hatte.
„Gut, schenken wir ihr das eine Jahr. Sie kommt in die Vorschule“, entschieden die Eltern. Alea jacta erat ? Mitnichten ! Eine Nacht drüber schlafen, und alles sah für Muttern wieder ganz anders aus. „Sie kommt in die reguläre Klasse“, entschied sie nun. „Warum denn das auf einmal ?“ wundert sich der Vater. „Weil sie, wenn sie nächstes Jahr erst eingeschult wird, schon sieben und damit zu alt ist. Dann wird sie ein Überflieger, und sie lernt niemals richtig zu lernen, sich etwas erarbeiten zu müssen“, erklärte Muttern laut: „So, wie es mir ergangen ist“, fügte sie im Geiste hinzu. Und das Kind weinte. „Ich will in die Vorschulklasse zu meiner besten Freundin Charlie und allen anderen aus dem Kindergarten. In meiner Klasse kenne ich doch niemanden.“ „Bis zu den Herbstferien“, rangen wir ihr ab. „Wenn du dann immer noch in die Vorschule willst, geht das in Ordnung.“ Nach einer Woche war die Vorklasse nur noch Babykram.

„Weihnachten kannst du lesen“, versprach ich meiner Tochter. Große ungläubige Kinderaugen. Der Vater tippte sich an die Stirn. „Jetzt hör mal auf zu spinnen. Du bist ja eine richtige Eislaufmutti.“ Eine der schlimmsten Schmähungen, mit der mann mich treffen kann. „Sie wird Weihnachten lesen können,“ wiederholte ich beharrlich meine Behauptung, denn das Kind kannte schon lange die Buchstaben, jeden einzelnen. Schon als Dreijährige hatte sie doch immer schon am Kühlschrank mit den Magnetbuchstaben gespielt. Aber sie buchstabierte sie eben auch immer nur einzeln. „Du mußt sie zusammenziehen beim Lesen, hintereinander zusammen ziehen“, hatte Muttern schon lange gepredigt. Innerhalb von sechs Wochen Schule war genau dieser Prozeß vollzogen. Wie hat die Lehrerin das geschafft ? Ein kleines Wunder.

Der erste Elternabend: Der immer noch vertraute Mief im Schulgebäude , wieder das Sitzen auf den viel zu kleinen Stühlen, aber doch schon ein bißchen größer als im Kindergarten. Klassenkasse, Wahl des Elternbeirats, unbekannte Gesichter. In jedem von ihm stand jedoch geschrieben, daß seine kleine Tochter oder Sohn das einzig wahre Wunderkind dieser Anfängerklasse sei, hochbegabt und intelligent und sooooo sensibel. Wie auch meine Tochter, der es aber absolut nichts ausmacht, zu spät zu kommen. Chronisch ! „Mach hin, mach hin, beeil dich, du kommst zu spät !“ Ewige mütterliche Hetzerei am Morgen. „Ist mir doch iiiiigal !“ die trotzige Entgegnung.

Der erste Elternsprechtag: „Ja“, sagt die Lehrerin und verströmt Genugtuung. „Sie ist ein Schulkind. Ihre Leistungen sind wirklich gut. Aber das mit der Pünktlichkeit muss sie nun nach fast einem halben Jahr endlich kapieren.“ Sie kapiert es nicht, wird nicht wach, trödelt beim Frühstücken, trödelt beim Zähneputzen, trödelt beim Anziehen, legt sich einfach halb angezogen auf das Wohnzimmersofa. „Beeil dich, beeil dich, du kommst zu spät !“ Warum ist das so schwierig ? Vielleicht weil Mama selbst das Aufstehen morgens so schwer fällt ? Und diese verdammte Gleichgültigkeit !

„Ist mir doch iiiigal ?“ „Ist ihr nicht egal“, sagt die Klassenlehrerin. „Es ist ihr schon peinlich, auch wenn sie etwas vergessen hat.“ Und was sie alles vergißt. Vom Verlieren ganz zu schweigen. Zweieinhalb Paare Handschuhe, zwei Mützen, der hübsche dunkelblaue Hut mit der roten Paspel, der ihr so gut stand, ein Turntrikot, ein Wollschal, ein Halstuch lautet die Bilanz des ersten Winters. Grundsätzlich kommt sie mir ohne Mütze, Schal und Handschuhe entgegen. „Mir ist warm, ich friere nicht.“ Warum sehen die anderen Kinder immer richtig angezogen, richtig gewaschen und gekämmt aus ? Verlieren die nie etwas ? Doch, die schulische Fundstelle, wo sich allerlei stapelt, tröstet mich und ist außerdem sehr ergiebig. Alle paar Wochen Kontrollgang brachte einiges wieder, nur nicht den hübschen Hut. Wie halten es die anderen Eltern ?
„Ich lasse sie einfach frieren, ich kaufe nicht dauernd nach“, sagte die eine.
„Meine muß ihre verlorenen Sachen vom Taschengeld bezahlen.“
Unsere bekommt noch kein Taschengeld. Sie hat noch keinerlei Beziehung zum Geld. Wird sie es jemals bekommen, barmt die Mutter mit ihren eigenen diesbezüglichen Schwierigkeiten.

Das Kind wächst, schießt in vier Monaten um vier Zentimeter in die Höhe. Die runde Weichheit des Körpers geht ihr im ersten Schulhalbjahr gänzlich verloren. Sie wird groß und staksig. Das herzige Pausbackgesicht ist endgültig verschwunden, zeigt sich als wehmütige Erinnerung nur noch ab und an im entspannten Tiefschlaf. „Ein schönes Mädchen, sie hat ja so ein schmales Gesicht bekommen,“ wundern sich die anderen. Ein fremdes Gesicht, denkt die Mutter traurig, vor allen Dingen, wenn es sich vor ihr so trotzig verschließt.

„Du kannst nicht über mich bestimmen !“ lautet die patzige Erwiderung, wenn Mamma zunächst freundlich um etwas bittet und schließlich ungeduldig im Befehlston verlangt. Der eiserne Vorhang ist schon längst gefallen. Was für ein fremdes Gesicht. Die Augen zeigen nicht mehr das strahlende Blau der Jahre zuvor. Mal sind sie grau, mal sind sie grün. Besonders grün und besonders groß, wenn es ihr schlecht geht. „Bist du unglücklich ? Ich habe das Gefühl, du bist über irgendetwas unglücklich ?“ fragt die Mutter mit lektürefrischer Empathie. Die Miene verschließt sich, der Kopf schüttelt heftig. „Nein, ich bin nicht unglücklich. Geh mir endlich aus dem Bild. Du störst.“ Und die Mutter seufzt und macht sich aus dem Zimmer. Kinderkanal! Fluch und Segen zugleich.
Kämpfe, endlose Kämpfe zwischen Mutter und Tochter, um das Essen, das grundsätzlich „iiiiiigitt !“ ist. Bei anderen ißt sie nicht, bei anderen frißt sie. Um die Klamotten, winters um die Sandalen oder die geliebten Lackschühchen, die im Tiefschnee getragen werden sollen. Im Sommer um die hohen Gummistiefel, in denen sie bei fast dreißig Grad durch die Gegend schlurft. Um die Mithilfe im Haushalt, mal Tisch decken oder nur die leere Klopapierrolle auswechseln. Eine winzige, nur ihr obliegende Pflicht, sozusagen als Fingerübung für spätere Aufgaben. Wird grundsätzlich abgelehnt und vergessen.

Wo ist mein hilfsbereites Kind, das sich fast überschlug, um Mamma helfen zu können, nur geblieben ? Zwei Jahre ist es her. Mit vier war sie zuverlässiger als jetzt. Ganz zu schweigen von ihrer Hilfsbereitschaft. Sie ist einfach nicht vorhanden, als habe es sie nie gegeben. Habe ich sie zuviel rennen lassen ?
„Du sollst von deinen Kinder keine Pflichterfüllung verlangen, sondern sie zur Hilfsbereitschaft anleiten“, predigt die vollpädagogische Freundin. Verdammt noch mal, ist mir doch egal, wie das definiert wird. Ich will, daß mir meine Tochter hilft, sich nicht immer nur an den gedeckten Tisch setzt und mault, wenn sie ihn abräumen soll. Im Hort muß sie das ja auch tun, tut sie es hilfsbereit und pflichtbewußt, sagen die Erzieherinnen. Als ihre Mutter kann ich das ja wohl auch von ihr erwarten. Ja, ich verlange das von ihr, schließlich bin ich ihre Mutter und damit genauso eine Autorität wie ihre Lehrerin, für die sie alles tut. Und für mich ? Ich verlange zumindest Respekt und Gehorsam!! Jawoll, ganz autoritär ! Zack, zack und auf der Stelle. Nach Grenzen und klaren Anweisungen sehnen sich doch die Kids von heute, steht in dem anderen Fachbuch.

„So sieht also dein Demokratieverständnis aus“, mokiert sich die basisdemokratische Freundin und lächelt perfide. Und ich knicke schuldbewußt zusammen und schiele neidisch auf ihre siebzehnjährige Tochter, die sich gerade liebevoll an sie schmiegt, mit der man sich so wundervoll unterhalten kann, weil sie so klug und vernünftig ist, fast wie mit einer gleichaltrigen Freundin. So eine Tochter hätte ich auch gerne einmal. Ob ich sie jemals haben werde ? Wir haben nur noch so wenig Zeit für uns ganz alleine. Und diese wenige besteht zumeist aus Kämpfen, zermürbend und nervenaufreibend. Will ich mir ganz bewußt etwas mit ihr vornehmen, hat sie kein Interesse daran, oder wir fangen an zu streiten. "Du kannst nicht über mich bestimmen !" Halb fünf ist es, wenn ich sie vom Hort abhole. Ein langer Tag liegt hinter ihr. Das eben noch so ausgelassen fröhlich tobende Kind verwandelt sich bei meinem Anblick in Sekundenschnelle in ein greinendes, forderndes Monstrum. „Ich will mich aber noch verabreden.“ Obwohl sie genau weiß, daß dergleichen während der Schulwoche nicht sein soll. So wurde es vereinbart, zusammen mit ihr. Feste Vereinbarungen, Versprechungen ?
Um etwas zu erreichen, verspricht sie das Blaue vom Himmel, um nichts davon einzuhalten. „Versprochen ist versprochen.“ Dieser früher auf der Stelle wirkende Appell verhallt längst ungehört. „Versprechen kann man brechen“, lautet die Replik, und der elterliche Adrenalinspiegel steigt. Die jahrelang bewährte „Einszweidrei-Pädagogik“ hat ihre Wirkung verloren. Das Zählen wird ausgereizt, bis zur letzten Sekunde, bis der gereizte Elternteil aufspringt und Schlimmeres androht. Schwarze Pädagogik.
Dabei wollten wir doch alles so viel anders und so viel besser machen als unsere Eltern!


1999 Birgid Hanke, Wirtschaftswetter
Text + Fotos: © Birgid Hanke

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