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Auf und davon

Auszug aus ihrem neuen Buch "Kreuzkölln - Superprovisorium"

von Juliane Beer

Die alten Punks haben in jungen Jahren das Haus ihrer Eltern nicht verlassen, um in ein von denen finanziertes und saniertes Eigenheim zu ziehen. Sie sind einfach abgehauen, um nichts anderes ging es. Zu zweit, manchmal sogar zu dritt haben sie sich in Einzimmerwohnungen mit Ofenheizung einquartiert oder in besetzten Häusern, ohne Geld zumeist, nur frei atmen wollten sie. Die Zeit? Das Westberlin der 1980iger Jahre.

Sam und Marlon lernten sich im besetzten Haus Bülowstraße 10 kennen, wo sie von da an ein Zimmer, riesig wie eine Bahnhofswartehalle, belegten. Die Decke war so hoch, dass selbst eine Baustellenleiter nur gerade eben reichte, wollte man die Glühbirne wechseln. Um den Aufstieg von zweihundert Fledermäusen zu vollenden, stand Sam mit Pinsel und Farbeimern eine Nacht lang auf der obersten Leitersprosse, erleichtert, dass die Tiere kurz vor dem Ziel zur Besinnung kamen, Halt machten und sich ein Plätzchen zum Abhängen suchten. Die Echoortung hatte ihnen offenbar sowohl das letzte Hindernis vor dem Gipfel angezeigt, als auch zu verstehen gegeben, dass selbst wenn sie das unmögliche schafften, nämlich die Zimmerdecke durchstießen, darüber lediglich das Krematorium, der Schornstein auf sie wartete.

Ansonsten traf man Sam abends auch in der Gemeinschaftsküche, wo sie sich eine Thermoskanne voll Pfefferminztee zubereitete. Jeden Abend, bevor sie ins Bett kroch, die gleiche Prozedur. Um sie herum Gewerkel und Gebell, Dead Kennedys, Einstürzende Neubauten und eine Session mit Trommeln Marke Eigenbau aus Metallschrott, immer Geschrei wegen der Unordnung, im Spülbecken türmte sich der Abwasch, der roch atemberaubend, aber niemand wagte mehr, den Geschirrberg abzutragen, aus Furcht vor der Vegetation darunter. Sam fand das widerlich, aber nur um in den Genuss einer aufgeräumten Küche zu kommen, wollte sie nicht bei Menschen bleiben, die ihr Leben mit Hilfe hässlicher Gefühle zu bezwingen versuchten. So zog sie die hässliche Küche vor - bei Menschen, die sich bemühten, mit aufgeräumtem Kopf ihr Leben zu betrachten. Angesichts dieser Wahl wusste Sam von nun an, dass sie sich für immer auf ihre Entscheidungen würde verlassen können.

So stand sie mit chlorblondiertem Irokesenschnitt inmitten dieser Aufführung, holte ihre eigene Kanne vom Regal und goss in aller Ruhe, meistens summend, ihren Pfefferminztee auf. Kam sie zurück ins Zimmer lümmelte sich Marlon auf dem Hochbett, hatte den uralten Fernsehapparat angeschaltet, glotzte gelangweilt zu, wie die kaputten Bildröhren das Bild gummiartig dehnten und streckten, hörte dazu Blixa Bargeld, denn Ton gab der Fernseher schon lange nicht mehr von sich, und das Risiko* hatte soeben zugemacht. Roch Marlon den Pfefferminztee, war das Maß voll. Statt über Nacht in seiner Lieblingsbar gegenüber abzusteigen, jetzt also Lazarett? Er drehte die Musik so laut, bis Klopfzeichen von der Wand zum Nachbarzimmer kamen. „Lazarett, ach was!“, geiferte Marlon, „Behindertenheim, das trifft es!“ Nebenan wurde jetzt auch aufgedreht, Marlon zog nach.

Sam versuchte, über den Unsinn der nun beginnenden Rallye hinwegzusehen, sie hatte zu diesem Zeitpunkt bereits begriffen, dass es ohne Konkurrenzkampf nicht ging, nirgends, auch nicht im besetzten Haus. So ließ sie Marlon und dem Kerl aus dem Nachbarzimmer und natürlich auch dem aus dem Zimmer darunter, von wo jetzt unrhythmisches Getrommel anhob, das Vergnügen am Wettstreit um den avantgardistischsten Radau im Haus.

Just in diesem Moment rief zweimal wöchentlich aus Paderborn die Großmutter an, bei der Sam aufgewachsen war; die Versorgerin, wie Sam sie nannte, seit sie dem Standquartier ihrer Kindheit und Jugend entkommen war. Als könnte die alte Dame die Szene durchs Telefon mitansehen, beschwor sie ihre Enkelin, die möge zur Vernunft kommen und endlich aufhören, sich die Welt in Fehlfarben auszumalen. Andernfalls würde es böse mit ihr enden, bevor überhaupt irgend etwas begonnen hatte. Wäre es nicht vielmehr an der Zeit, Marlon, den Freund aus großbürgerlichem Hamburger Haus, zu heiraten? Eine gut bezahlte Stelle würde der bald antreten; was das anging, war die Versorgerin zuversichtlich. Unbezahlte Praktika ab drei Jahren bis hin zur Rente waren Mitte der achtziger Jahre noch nicht erfunden.

Dennoch, in die Fußstapfen der Eltern zu treten, war zu diesem Zeitpunkt bereits weitgehend abgeschafft. Wer arbeiten ging, bekam dafür zwar Geld, wer aus großbürgerlichem Haus kam, konnte aber trotzdem oder gerade deshalb verweigern und sich zu den Punks gesellen.
Doch wie auch immer, vor der Hochzeit war es nach Meinung der Versorgerin geboten, dass Sam eine Hauswirtschaftsschule besuchte. Um gleich zu lernen, wer Herr und wer Hund war, vermutete Sam.

„Und sparen werdet ihr etwas von Marlons Gehalt, hörst du, Samanta!“ Auf der Bank in Form eines Bausparvertrags wäre das Geld sicher bis die zwei sich davon ein Häuschen hinstellen wollten. Und wenn dann Nachwuchs käme, würde die junge Mutter sich freuen, einen kleinen Garten ihr Eigen zu nennen...
„Willkommen in der Hölle!“ stellte Sam dazu fest und legte auf.
Unbekümmert haben sie und Marlon sich am nächsten Morgen im Hof mit einem Wasserschlauch abgespritzt; es gab ja keine Dusche im Haus. Im Sommer tobten die zwei durch den wild bewachsenen Hinterhof, bis der Wind sie trocken gepustet hatte. DerMuff der Eltern oder auch Großeltern, der sie restumwölkte war ihr einziges Problem und musste ausgelüftet werden. Ansonsten würde alles gut werden.

Berlin, 2012. Sam und Marlon haben sich längst getrennt und sind bis heute in unmittelbarer Nähe des anderen geblieben. Obwohl er die Ansichten von ihr unerträglich findet und umgekehrt. Zum Beispiel ihre Kapitalismus-Schelte. Geradezu lächerlich für eine Künstlerin!, stellt Marlon immer wieder fest. Eine Künstlerin bräuchte entweder Käufer mit Kohle oder den kapitalistischen Staat, der sie durchzöge.
Oder eine sozialistische Gesellschaft, die gerecht verteilen würde, wirft Sam an dem Punkt ein, aber das erheitert Marlon nur noch mehr. Ja, das will er sehen! Genossin W. verschönert die Wände eines volkseigenen Betriebs. Genossin W., ihres Zeichens Eigenbrötlerin, erliegt einer Nervenschwäche, weil beim Wände verschönern kollektiv auf sie eingeredet wird. Von jedem der seine Verbesserungsvorschläge einbringen möchte.

Sam hört schon jetzt nicht mehr hin

.

Marlon hingegen meint innerhalb der letzten Jahre begriffen zu haben, dass der Kapitalismus, so wie er ausgeartet ist, zwar nichts taugt, aber funktionieren dürfte, wenn man sich einen Katalog voll Regeln überlegen würde. „Vollkommene Gleichheit und Gerechtigkeit wird es nicht geben, nie, nimm´s hin, Sammy! Schon gar nicht mit Menschen wie den unseren, die kaum etwas mehr lieben, als einen Gott oder wenigstens ein paar Chefs über sich zu stellen, die festlegen zu lassen was gerecht oder ungerecht ist, um sie dann dafür zu hassen oder anzubeten.“
„Das bedeutet?“, will Sam wissen. „Am besten gleich das Feld den Chefs und Göttern überlassen?“

Marlon winkt ab. „Falsche Fährte. Schau dir mal die Zwanzigjährigen von heute an, die wissen Bescheid,“ er grinst spöttisch, „weil ihnen beigebracht wurde, dass nur Verlierer und zu belächelnde Figuren Gerechtigkeit einfordern, und zwar ohne zu kapieren, was Gerechtigkeit überhaupt ist.“
Damit ist Marlon bei seinem Thema der letzten Monate angelangt: Der ausgeartete Kapitalismus, Berlin und seine jungen Einwanderer.
*Das Risiko war eine legendäre Berliner Bar unter den Yorkbrücken

Buch-Werbung + Infos:
Kreuzkölln - Superprovisorium
von Juliane Beer
Erscheint im September:
bei michason & may, Frankfurt a.M.
ISBN: 978-3862860326


2013-07-01, Juliane Beer, Wirtschaftswetter
Text: © Juliane Beer
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