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Das Briefgeheimnis

Brief, Link Wirtschaftswetter

Du liebe Güte! Herzliche Grüße! Soll ich mit herzlichen Grüßen meine Miete zahlen? Natürlich eine alte Frau, zittrige Schrift, kaum zu entziffern. Nee, diese Omas. Entweder nur ihre dämlichen herzlichen Grüße, oder ein Zehn-Mark-Schein. Zehn Mark wohlgemerkt. Mark! Und die riechen dann, als kämen sie aus dem seit neunzig Jahren nicht mehr gewaschenen Sparstrumpf, nämlich aus dem, den Gustav noch getragen hat. Diese Welt ist verroht. Niemand denkt mehr an seinen Nächsten. Oder an den Briefträger. Nicht mal mehr die alte Oma.
Themenwechsel: Ich habe langsam keinen Überblick mehr, das gebe ich offen und ehrlich zu. Ungefähr sieben Säcke voll Post stehen noch in meiner Kammer. Du liebe Güte, das sind ungefähr hundertausend Briefe. Aufmachen brauche ich sie aber Gott sei Dank nicht mehr alle; mit der Zeit wird man Profi, entwickelt ein System zum Aufspüren von Scheinchen in Briefumschlägen. Die Geschäftskorrespondenz fliegt zum Beispiel sofort in den Mülleimer. Erkenne ich mittlerweile, ohne auf den Absender schauen zu müssen. Ich sage nur: Fensterumschlag. Mit der Privatpost hat man leider nicht so leichtes Spiel. Die Briefe, die handschriftlich adressiert sind, werden also zunächst gerieben. Ein Schein in einer Glückwunschkarte oder zwischen einem Brief erzeugt ein bestimmtes Geräusch, oder, nein, besser ausgedrückt: Ein Schein erzeugt ein gewisses Glücksgefühl in den Fingerspitzen, und das durch zwei Schichten Papier hindurch. Wenn man sein Handwerk versteht. Sie sind jetzt empört? Ach, hören Sie mir doch auf! Wissen Sie was ich verdiene? Ah, ja.
Das ist wie in der Gastronomie. Das Servicepersonal verdient wenig, aber der Chef weiß, dass es ein ordentliches Trinkgeld gibt, wenn sich die Mitarbeiter nur ordentlich anstrengen. Die Post sieht das genauso. Die Löhne sinken weiter, die Briefdienstleister wissen nämlich, dass heutzutage in der Regel andere Summen verschickt werden als früher zu Hochlohnzeiten. Von den Omabriefen mal abgesehen. Aber weder Tante noch Onkel würden den Konfirmanden heutzutage mit einem zweistelligen Geldschein zu beglücken versuchen, wie zu meiner Jugend.
Ach was, ich verstoße auch nicht gegen das Briefgeheimnis! Ich lese das Zeug doch gar nicht. Oder würden Sie jeden Abend hundert Briefe lesen? Eher nicht, wie?!
Bitte? Sie kommen mir jetzt mit Unterschlagung?! Kokolores! Seien Sie froh, dass ich tue, was ich tue. Von meinem Gehalt kann ich nicht leben, ich erwähnte das bereits. Würde ich es dennoch versuchen, könnte es passieren, dass ich am Ende des Monats, sagen wir ab dem Zwanzigsten, aufgrund des Ausfalls von Frühstück und Mittagessen einfach vom Fahrrad kippen würde. Und jetzt stellen Sie sich mal Folgendes vor: Das Herunterkippen vom Fahrrad passiert während ich durch einen Park radle. Durch den Grunewald gar. Sie wissen, dass es dort seit einigen Jahren wieder Wölfe gibt. Ich würde also vor lauter Auszehrung vom Fahrrad kippen, mitsamt meiner Postbotentasche, die Wölfe kämen, ich könnte mich, geschwächt vom Hunger, nicht mehr wehren, nicht mehr verhindern, dass jene Wölfe mich, meine Tasche und deren Inhalt zerfledderten. Dass Ihr Brief dabei wäre, ist wahrscheinlicher, als dass er unter den Sendungen ist, die ich jeden Tag beiseite sortiere. Reine Wahrscheinlichkeitsrechnung. Also lassen Sie mich im Ruhe mit Ihrem miesepetrigen Gerede und seien Sie froh und dankbar, wenn Ihre Post auch tatsächlich bei Ihnen ankommt und nicht im Grunewald vom Wolf gefressen wird!

Stichwörter: BRIEFTRÄGER * POST * GELD * LESEN * UNTERSCHLAGUNG
von anonym*

Zu allen Mini-Stories der Reihe: Privat-O-Mat


2009-10-13 Juliane Beer, Wirtschaftswetter
Text: ©Juliane Beer
Stichworte: anonym, *Name ist der Redaktion bekannt
Illustration: ©ap
Fotos Themenbanner: ©Cornelia Schaible
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