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September

Take the Bus, Link to Wirtschaftswetter

Zwei Mal im Jahr, im März und im September, treffen wir uns im Schöneberger Café Karussell, um über die Ereignisse der letzten sechs Monate zu plaudern. Wir sind zehn.
An diesem 27. September, es war übrigens der Wahlsonntag, aber das nur am Rande, waren wir elf. Es saß eine mit am Tisch im Garten des Karussells, die ich nicht kannte, und sie saß mir gegenüber. Seltsame Frau. Das ist kein Menschengesicht, dachte ich spontan und erschrak. Unsinn! Es war lediglich ein ungewöhnliches Gesicht, oval, vollkommen symmetrisch, vollkommen faltenfrei, obwohl diese Frau um die vierzig war. Ich kann nicht sagen, woran ich ihr Alter erkannte, am Zustand des Teints jedenfalls nicht, vielmehr schien irgendetwas an ihr mich darauf hinzuweisen, und zwar pausenlos. Was genau es war? Ich weiß es bis heute nicht.
Eine der Freundinnen musste die seltsame Vierzigjährige mitgebracht haben. Es wäre höflich gewesen, sie uns vorzustellen. Oder sie ins Gespräch mit einzubeziehen, sie saß nämlich vollkommen für sich da. Mir wurde unbehaglich, ohne zu wissen warum. Die anderen redeten ber Politik und die in zwei Stunden zu erwartenden Hochrechnungen, der Kellner kam, ich bestellte mir ein Bier. Die Unbekannte zögerte einen Augenblick, dann sagte sie, sie wolle dasselbe wie ich trinken.
Becks?", fragte der Kellner.
„Ein Bier!"
Becks ist ein Bier!", erklärte er, genervt, wie es sich für einen echten Berliner Kellner gehört.
Sie beeilte sich zu nicken, war beinahe etwas erschrocken.
Ihre Kleidung war auch seltsam. Altmodisch. Ein grauer Wollrock in Glockenform, eine Bluse aus Kunstfaser, zugeknöpft bis zum Kinn. Dazu aber eine Handtasche aus einem dieser modernen Hightech-Gewebe.
Ein leichter Regen setzte ein, der Kellner spannte den Sonnenschirm über uns auf, ich sah, dass die Unbekannte kein Stück Schirm abbekommen hatte, ich wollte aufstehen und den Schirm zurechtrücken, da bemerkte ich, dass sie zwar im Nieselregen saß, ihre Haar aber vollkommen trocken blieb. Ein Schauer lief mir den Rücken hinunter, ich ließ mir nichts anmerken, sondern richtete den Schirm so, dass auch sie keinen Regen abbekam..
Am Tisch wurde noch immer über Politik gesprochen, ich konnte mich nicht entschließen mitzureden, die Unbekannte mir gegenüber schwieg auch, hin und wieder machte sie den Eindruck, als hörte sie dem Gespräch zu; was gesagt wurde, schien ihr dagegen vollkommen unsinnig zu erscheinen.
Sie holte einen Zettel aus ihrer Hightech-Tasche. Sie starrte darauf, dann beugte sie sich zu mir vor, gab mir den Zettel und sagte: „Du musst aufpassen!"
Ich betrachtete das Stück Papier: Der Ausschnitt eines Stadtplans von Schöneberg. Hauptstraße, Ecke Akazienstraße ein Kreuz in blau.
Sie stand auf und ging in Richtung Toilette.
Meine Tischnachbarin wollte wissen, wer rot gewählt hatte. Also weiter mit Politik. Wir bestellten eine neue Runde. Eine Stunde verging. Die Unbekannte kam nicht wieder. Ich fragte, wer sie mitgebracht hatte und ob man nicht nach ihr schauen sollte; in vielen Kneipen geht es nachlässig zu, was Reparaturen angeht, die Toilettentüren klemmen schon mal.
„Wen mitgebracht?", kam es der Reihe nach.
„Die Frau, die mir gegenüber saß!"
Die anderen schauten sich an, schließlich lachte eine, dann lachten alle. Aber meine Scherze wären auch schon mal einfallsreicher gewesen, wurde moniert. Mir hätte niemand gegenüber gesessen, der Platz wäre die ganze Zeit leer gewesen, da der Stuhl kaputt war. Der Stuhl wurde hochgehoben, tatsächlich fehlte ihm ein Bein.
Ich verabschiedete mich sofort, es war kurz nach zehn, und noch weit vor dem allgemeinen Aufbruch. Egal, ich eilte die Akazienstraße bis zur Hauptstraße hoch, dort, wo auf dem Plan das blaue Kreuz war, hielt der Bus in Richtung Rathaus, wo ich wohnte. Ich ließ mein Auto stehen und stieg ein.
Am nächsten Morgen hörte ich im Radio, dass sich in der letzten Nacht gegen elf am Rathaus ein furchtbarer Verkehrsunfall mit elf Toten zugetragen hatte.

Stichwörter: SEPTEMBER * WAHL * REGEN * BLAU * ROT
von Jutta Gansen

Zu allen Mini-Stories der Reihe: Privat-O-Mat


2009-11-05 Juliane Beer, Wirtschaftswetter
Text: ©Juliane Beer
Stichworte: Jutta Gansen
Illustration: ©ap
Fotos Themenbanner: ©Cornelia Schaible
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