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Berichte aus der chinesischen Gegenwart 5. Folge

Shi Da Yu Tian – Essen ist größer als der Himmel

von S. Stern

Xujiahui Metrocity
Es ist kurz nach 11:00 Uhr und langsam macht sich bei uns im Büro eine gewisse Unruhe bemerkbar. Meine chinesischen Kollegen wetzen nervös auf ihren Stühlen hin und her, schauen ständig auf ihre Uhr und flüstern sich zu: “Chifan, chifan“.
Um spätestens 11:30 ist die Produktivität auf dem Nullpunkt angelangt und selbst der Ruhigste in unserem Team ist nicht mehr wirklich konzentriert bei der Sache. Ich schmunzle insgeheim, denn ich kenne diesen Zustand „unruhiger Erwartung“ bereits gut. Täglich, pünktlich zur selben Zeit beobachte ich dasselbe Ritual. Jetzt gebe auch ich nach und wir brechen geschlossen zum gemeinsamen „Chifan“, dem Essen auf.

Nicht immer gelingt es mir diesen unstillbaren Drang meiner Kollegen zu doch recht früher Mittagszeit mit Humor zu nehmen, denn nicht immer erlauben es die betrieblichen Abläufe den Stift ganz einfach fallen zu lassen. Dennoch, so befremdlich der frühe Gang zum Mittagstisch nach wie vor für mich ist, ich habe gelernt mit dieser kulturellen Gegebenheit zu leben. Dass ich um 11:30 noch nicht so wirklich Lust auf ein Mittagessen habe und ab und zu meine mitgebrachte Jause dem chinesischen Essen vorziehe, stößt andererseits wiederum bei vielen meiner chinesischen Kollegen auf Unverständnis.

Essen hat hier in China mit unserer Vorstellung von chinesischer Küche – geformt von der Flut an Chinalokalen überall in Europa – nur wenig zu tun. Man begibt sich hier auf kulinarisches Neuland und erhält Einblick in die Seele der Chinesen. Der Stellenwert des Essens geht für einen Chinesen über den der reinen Nahrungsaufnahme hinaus und ist mehr als ein bloßes geschmackliches und olfaktorisches Erlebnis. „Für das Volk bedeutet Essen den Himmel“ überliefert uns Konfuzius und ganz nach chinesischer Manier wurde der Spruch dem von Superlativen geprägten Zeitgeist angepasst und lautet nun: „Essen ist größer als der Himmel“. Viel mehr kann ein Spruch den Wert der Nahrungsaufnahme wohl nicht verdeutlichen.

Die Größe des Landes hat zudem eine unglaubliche Vielfalt an verschiedenen kulinarischen Genüssen als auch den dazugehörigen Gebräuchen und Sitten hervorgebracht.

Jadelöwe Der herausragende Stellenwert des Essens hat seine Wurzeln zum Teil in der Geschichte des chinesischen Volkes, das immer wieder von Hungersnöten und Entbehrungen geschüttelt wurde. „Ni chi fan le ma?“ „Hast Du schon gegessen?“ dient oft als Begrüßungsformel und als Beweis für die allgegenwärtige Bedeutung von Essen. Man liegt jedoch falsch, wenn man daraus schließt, dass Chinesen ausschließlich elegante, luxuriöse Lokale bevorzugen. Chinesen sind nicht zwangsläufig so anspruchsvoll, was die Optik eines Restaurants betrifft, und oft ist der kulinarische Himmel ein schäbiges Imbisslokal an einer stark befahrenen Straße. Der Boden klebt erfahrungsgemäß vom Küchenfett, das Mobiliar ist billig und heruntergekommen, die Schalen sind noch feucht vom kurz davor erfolgten Abwasch in einer Wanne mit schon bräunlichem Wasser und als Tischtuch dient eine Plastikplane, auf die während der Mahlzeit nach Herzenslust Speisereste gespuckt werden. Was für uns recht unappetitlich klingt und mir die Bedeutung meiner Hepatitis- Impfung klar vor Augen führt, ist oft geschmacklich ein überraschend leckeres Ereignis, und es offenbart sich hier in jedem Fall die Authentizität der chinesischen Küche.

Gegessen wird immer und überall. Von den kleinen Gemüse- und Fleischtäschchen (jiaozi) über gebratene Nudel (chaomian), den köstlichen Xiaolong Bao (mundgerechte, gefüllte Teigbeutel) bis hin zu den leckeren Spießchen mit Meeresfrüchten, Gemüse oder verschiedenen Fleischsorten kann man süße oder pikante Köstlichkeiten zu jeder Tageszeit in einer der vielen Garküchen erstehen.

Das Essen in China ein Erlebnis ist, dass man an liebsten mit Verwandten oder Freunden genießt zeigt allein schon der Umstand, dass man nie eine Mahlzeit für sich allein bestellt, sondern die Gerichte stets in Gemeinsamkeit ausgesucht und auch verzehrt werden. Im Idealfall gibt es einen gläsernen Drehteller auf dem Tisch, der die aufgetischten Speisen für alle Gäste zugänglich macht. Vor dem Essen wird oft lange die Speisekarte studiert und mit dem Kellner über die Zubereitung der Speisen diskutiert.

Obwohl ich schon eine ganze Weile in China lebe und auch schon ein gewisses sprachliches Selbstbewusstsein entwickelt habe, stelle ich bei dem Versuch Speisekarten zu lesen immer wieder eine Ernüchterung fest. Englischsprachige Speisekarten gibt es in den traditionellen, heimischen Lokalen nur ganz selten und der Bestellvorgang ist oft recht abenteuerlich für mich. Selbst wenn es mir gelingt das Zeichen für das Fleisch oder Gemüse zu identifizieren, das angeboten wird, so weiß ich dann noch immer nicht wie das Gericht tatsächlich zubereitet wird. Und genau in diesem Detail liegt die Besonderheit der chinesischen Küche. Jedes Gericht besteht auf 4 Schriftzeichen und teilt dem Kenner mit welche Sorte Fleisch, Fisch oder Gemüse wie geschnitten und zubereitet ist.

Ob würfelig oder in Streifen, ob in Austernsauce oder mit Fischgeschmack, die Variationen sind schier unendlich. Dazu kommen noch die vielen regionalen Unterschiede, die den Speisezettel nicht nur durch die Würzung, sondern zusätzlich mit exotischen Delikatessen wie Schlange, Frosch oder Qualle bereichern. Als Draufgabe gibt es noch eine Vielzahl von Gerichten, die sich Phantasienamen bedienen und mich mit „Ameisen klettern auf dem Baum“ oder "Löwenkopf“ in völliger Ratlosigkeit zu einem Trick der ersten Stunden greifen lassen. Ich schaue mich einfach auf den Nachbartischen um und bestelle per Fingerzeig, das was mir am Interessantesten oder auch am Vertrauenserweckenden aussieht. In den Restaurants wird stets viel Wert auf die Optik der Speisen gelegt, und aus Gemüse und Obst werden oft kleine florale Kunstwerke geschnitzt.

Jadelöwen Das gängige Reisklischee, das in den europäischen Chinarestaurants gepflegt wird. hat in China selbst keine Gültigkeit. Reis ist ein Essen für arme Leute und muss in einem Restaurant nicht nur explizit dazubestellt werden, sondern der Gast muss zudem mit Nachdruck darauf bestehen, den Reis zu den anderen Speisen serviert zu bekommen. Reis füllt und soll nicht den Platz für die sorgfältig gewählten Speisen rauben. So ist Reis hier keine Beilage, sondern bildet neben der Suppe, die noch die letzten Hohlräume des Magens füllen soll, den Abschluss des Essens. Desserts haben eigentlich keinen ausgeprägten Stellenwert und sie werden gemeinsam mit den anderen Gängen verzehrt. Bier, Schnaps als auch grüner Tee bilden die flüssige Zutaten eines chinesischen Mahls und auf den Ruf „Gan bei“ (trockener Becher) werden alkoholische Getränke in einem Zug geleert und auch gleich wieder befüllt.

Viele wichtige Entscheidungen werden in China bei Tisch getroffen. Für Geschäftspartner und Gäste scheuen die Chinesen weder Kosten noch Mühen, um ein üppiges und variantenreiches Mahl voller Köstlichkeiten auf den Tisch zu zaubern. Gäste werden vor allen anderen bedient und erhalten stets die besten Stücke. Leider handelt es sich bei den leckeren Happen oft um für uns seltsame, weniger verlockende Speisen, die durchaus Mut und Überwindung kosten können. Stinktofu, Mao Zedongs Favorit, erfordert wirklich geschmackliche Unerschrockenheit. Geschäftsessen beginnen meist schon sehr früh und finden auch nach dem Bezahlen ein sehr frühes und oft jähes Ende. Danach geht es auf zum Karaoke, aber das ist eine andere Geschichte ...


2004-12-13 copyright by S. Stern, Wirtschaftswetter
Text + Fotos: © S. Stern
Fotos Jadelöwen + Banner: Cornelia Schaible

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