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Allein und mittellos?

von Angelika Petrich-Hornetz

Menschen unter Regenschirmen Zum Kaffee eingeladen zu werden ist immer eine schöne Sache, zumal bei einem netten Paar, das sich lange kennt und zugetan ist. Elsie P. und Siegfried M. sind so ein angenehmes Paar - seit mehr als fünfzehn Jahren fest zusammen. Man spürt, dass sie sich mögen, ein böses Wort, nicht selten der Anfang vom Ende vieler Paar-Beziehungen, fiel bei ihnen in all den Jahren des Zusammenseins nie. Und so ist es dann vielleicht auch ganz verständlich, wenn dem Gast irgendwann einmal im Laufe einer solchen Einladung, an einem schönen, sonnigen Nachmittag, die spontane Frage entweicht: „Warum heiratet ihr eigentlich nicht?“

Die sich in den letzten Jahren häufende Reaktion auf eine so unbedarfte Frage überrascht den Gast: Zuerst betretenes Schweigen und dann wird herum gedruckst. Siegfried sagt, sie wären nun schon so lange „soo“ zusammen, Elsie fügt hinzu, in ihrem Alter (sie ist gerade über und er Mitte 60) "heiratet man einfach nicht mehr". Das leuchtet einem jüngeren Fragenden nicht immer unbedingt ein. Warum sollte man nicht heiraten, nur weil man über 60 ist, wenn man sich liebt, alles teilt und zusammen bleiben möchte? Die Beantwortung dieser aufrichtig gestellten Frage ist indes nicht so einfach, wie es zunächst erscheint.

Was zuerst nach einer kaum ungewöhnlichen Entscheidung klingt - denn immer mehr Paare in sämtlichen Alterklassen entscheiden sich nun einmal für die früher sogenannte wilde Ehe - hat für einige Menschen nämlich finanzielle Vorteile. Umgekehrt wirkt sich eine Heirat für diese nachteilig aus. Und genau das kann zu interessanten, ganz modernen Wohn- und Lebensformen führen, die man eher von jüngeren Leuten in Großstädten, doch kaum bei älteren Menschen auf dem Land erwarten würde.

Elsie P und Siegfried M. zum Beispiel leben beide in ihren jeweils eigenen Häusern, jedenfalls offiziell. Tatsächlich hat Siegfried M. sein Haus jedoch vermietet und bewohnt auf dem Papier lediglich noch die kleine Dachgeschosswohnung, die mit einer kleinen Küche und einem kompletten Bad ausgestattet ist. In der Praxis übernachtet dort aber höchstens mal der Besuch seiner Mieter-Familie. Siegfried M. selbst wohnt bei seine Freundin Elsie – inoffiziell versteht sich. Elsie P. hat das Untergeschoss ihres Hauses ihrer Tochter inklusive deren Familie für einen Mini-Betrag ebenfalls vermietet und bewohnt das Obergeschoss, vier Zimmer, Küche, Bad – Platz genug für sie und für Siegfried. Nur: Das, was nicht nur die Spatzen in der kleinen Ortschaft von den Dächern pfeifen, oder worüber sich der Gast bei den zahlreichen Festen des beliebten Paares wundert, darf offiziell niemand wissen: Sehr sorgfältig wird nach außen hin der Eindruck vermieden, man sei das, was man eigentlich ist, nämlich eine eheähnliche Lebensgemeinschaft.

Bei Elsies und Siegfrieds Freunden, die im gleichen Ort wohnen, ist die Konstellation noch abenteuerlicher. Hildegard und Rolf, beide 75, wohnen nämlich im selben Haus, doch in zwei getrennten Wohnungen. Seit 20 Jahren sind sie schon ein Paar, das alles gemeinsam unternimmt und doch wieder nicht – offiziell sind sie nämlich nur Hausbesitzer und Mieterin - ein Umstand, der die katholische Hildegard zwar manchmal etwas bedrückt, doch immer noch nicht so sehr, dass sie je auf die Idee kommen würde, ihre Verbindung mit einem Zusammenzug oder gar einer Heirat zu legitimieren und damit auf die Witwenrente zu verzichten, die sie seit dem Tod ihres Ehemannes vor 25 Jahren bezieht.

Und damit sind wir bei einem der möglichen Gründe für die neuen Wohn- und Lebensformen zwischen älteren Paaren, selbst in erzkatholischen Gegenden und auf dem flachen Land, wo der städtische Ausdruck „Lebensabschnittsgefährte“ eigentlich ein Unwort ist: Der Ehepartner ist lange verstorben und der zurückgebliebene Partner offiziell allein und mittellos. Dass dieser Status auch weiter einer bleibt, selbst wenn er seit Jahrzehnten nicht mehr der Realität entspricht, lohnt sich für die Bezieher von Hinterbliebenenrenten und ihren Partner durchaus, hat doch der Gesetzgeber festgeschrieben, dass durch eine Wiederheirat die Witwenrente, die gleichermaßen auch für Witwer gilt, schlicht entfällt.

Dabei ist die Wiederheirat nicht ganz unattraktiv und mit einem geringen Risiko behaftet: Sollte eine erste, neue Ehe, nach dem Ableben des ersten Ehepartners, scheitern, leben die alten Ansprüche wieder auf. Das nennt sich dann Rente nach dem vorletzten Ehegatten. Nur wer ein drittes Mal heiratet, der bekommt keine „Rente nach dem vor-vorletzten Ehegatten“ mehr. Versüßt wird die Wiederheirat außerdem durch eine Abfindung: Bei einer großen Witwenrente ist dies immerhin ein 24-facher Monatsbeitrag der Rente, bei der kleinen Witwenrente, die bis zum Ende der ursprünglichen Befristung zustehenden Beträge, Abfindungen, wie man sie sonst nirgends im Sozialgesetzbuch findet und lediglich für den Umstand, irgendwann einmal verheiratet gewesen zu sein – ob mit oder ohne Kinder - die spielen in diesem Versorgungsmodell gar keine Rolle – eine Tatsache, die Familienverbänden und einigen Demographen zunehmend zu einem Dorn im Auge anschwillt.

Trotz dieser sta(a)ttlichen Mitgift verzichten viele ältere Paare dennoch auf die Wiederheirat beziehungsweise wollen auf die Witwen-Renten nicht verzichten, auch wenn diese plus das Einkommen oder die Rente des Lebenspartners durchaus auskömmlich sein mögen. Für nicht wenige Frauen der älteren Generationen aus den damals üblichen, reinen Hausfrauen-Ehen ist die Witwenrente außerdem nicht selten das erste eigene Einkommen, über das sie ganz allein verfügen können. Auf diese neue „Selbständigkeit“ will man nicht verzichten, zumal die Beträge – zumindest im einzelnen – für das Gros der Empfängerinnen eher klein ausfallen.

Änderungen an solchen Besitzständen sind außerdem nicht sehr beliebt. Die Industriestaaten versuchen zwar händeringend Faktoren in ihre Rentensysteme einzubauen, die jüngere Generationen und Kinderziehende besser berücksichtigen sowie entlasten, doch die allgemeine Panik vor Sozialkürzungen sitzt inzwischen tief . Erst letztes Jahr lehnten zum Beispiel die Schweizer eine Abschaffung der Witwenrente bei Kinderlosigkeit und eine Absenkung der Witwenrente bei gleichzeitiger Anhebung der Waisenrente – so dass Familien mit minderjährigen Kindern keine Nachteile erleiden – in einer Volksabstimmung ab. Sozialminister Couchepin, der seitdem versucht eine Light-Version seiner Reformvorschläge durchzusetzen, um die Rentenkassen zu entlasten, wird querbeet durch alle Parteien von links nach rechts scharf kritisiert.

Neben der Witwenrente aus den Rentenversicherungen gewähren manche Unternehmen eine betriebliche Witwenrente und auch die kann, bei entsprechenden Regeln, bei einer Wiederheirat wegfallen. Für die nächsten Rentnergenerationen hat sich zwar schon einiges (zum Negativen) geändert, die Beträge der großen Witwenrente wurden von 60 auf 55 Prozent abgesenkt, es gibt einen Kinderfaktor durch Erziehungszeiten und weitere Detailänderungen – im Groben und Ganzen jedoch hat sich wenig daran geändert, dass eine Rente lediglich auf den Umstand gewährt wird, das jemand irgendwann einmal verheiratet war und dessen Partner längst verstorben ist, wie gesagt, Kinder sind in diesem Modell nicht vorgesehen.

Selbstverständlich gibt es immer noch genug Menschen, die auf die Hinterbliebenenversorgung - die grundsätzlich gut ist, eben weil sie dazu da ist, soziale Härten zu begrenzen - angewiesen sind, weil diese Rente tatsächlich ihr einziges und in ihrer Lebenssituation auch ihr einzig mögliches Einkommen darstellt. Besonders hart trifft es zum Beispiel junge Witwen unter 45 Jahren, die mehrere kleine Kinder zu versorgen haben. Allein auf sich gestellt werden sie durch ihre Kinder an einer eigenen Erwerbstätigkeit und damit auch an der Erarbeitung einer eigenen Erwerbsrente gehindert, und sie müssen wegen ihrer Jugendlichkeit und einer kurzen Ehedauer mit einer kleinen Witwenrente auskommen. Doch gerade vor diesem Hintergrund und auch wegen der jüngsten, öffentlichen Empörungen über die Zunahme von Haushaltsgründungen durch Hartz-IV-Empfänger , darf man ruhig einmal daran erinnern, dass die Hinterbliebenen-Rente genau für diejenigen gedacht war, deren Allein-Versorger oder Versorgerin verstarb und die auf diese Rente tatsächlich angewiesen sind.

Einige sehr junge Witwen und Witwer zum Beispiel, die keine Kinder versorgen müssen, sind eigentlich auch nichts anderes als arbeitslos, aber da sie einmal verheiratet waren und der Partner starb, beziehen sie eben eine Rente. Und nicht wenige von ihnen achten darauf, dass sie bei den „Hinzuverdienstgrenzen“ soweit darunter bleiben, dass ihnen diese Rente weiter gezahlt werden muss – vielleicht dreißig, vierzig Jahre und länger - bei einer kurzen Ehedauer ein echtes Minusgeschäft für die Rentenkassen, zumal wenn keine Kinder aus dieser hervorgingen. Dies soll natürlich nicht diejenigen in Misskredit bringen, die auf die Leistung angewiesen sind. Doch ist es wirklich in Ordnung, wenn sich die gleiche Person ohne eine rentenrechtlich wirksame Ehe und ohne zu versorgende Kinder ganz schlicht arbeitslos melden müsste?

Und ist der Unterschied zu einem Hartz-IV-Empfänger wirklich so groß, der ebenso jahrzehntelang in die Sozialkassen eingezahlt haben kann wie ein Rentenempfänger? Für die Einzahler in die Sozialkassen zumindest ist die Auswirkung diesselbe, wer von beiden einen zweiten Haushalt betreibt und damit eine vielleicht seit Jahrzehnten bestehende eheähnliche Lebensgemeinschaft verschweigt, die zur Leistungskürzung beitragen würde.

Es scheint aber ein großer Unterschied zu sein, denn über die Beziehungs- und Wohnformen von Hartz-IV-Empfängern wird in der Presse berichtet. Die öffentliche Entrüstung ist jenen Arbeitslosen sicher, die aus finanziellen Gründen zwei Haushalte führen. Noch größer war die Empörung über die Aufforderung einer Beratung gegenüber einem Leistungsbezieher, doch einfach seine Partnerin neu zu definieren und sich offiziell als Wohngemeinschaft zu deklarieren. Hinterbliebene hingegen, die das gleiche praktizieren, waren solcher Kritik bisher nicht ausgesetzt. Mit ihrer Verschwiegenheit und ausweichenden Antworten sorgen sie vor und halten den Schein aufrecht, sie seien allein und mittellos. Dass sie auch in Zukunft nicht behelligt werden, dafür sorgen die Gesetze. Nur macht es die umgekehrte Alterpyramide der Gesellschaft damit keinesfalls leichter, solche Lebensmodelle auch auf Dauer zu finanzieren.

Wer soll schon diese, teilweise sehr kreativen, Praktiken wie und womit kontrollieren? Sozialämter, die bei Pflegekosten auf Kinder zurückgreifen und Richter, die Ex-Ehegatten zum Unterhalt verdonnern, haben einen Vorteil: Die Verwandtschaftsfrage sowie gegenseitige Unterhaltspflicht ist öffentlich belegt und eindeutig geklärt, gegenwärtig Verheiratete und Familien sind aus dieser Sicht immer die Dummen gegenüber Unverheirateten und Kinderlosen, für die im Zweifelsfall und aus Mangel an Verwandtschaft ersten Grades immer der Staat sorgen wird und muss.

Strandkorb Nebulöse Lebensgemeinschaften, mit einem oder mehreren Wohnsitz(en), die angeblich nichts miteinander zu tun haben, wird man schwer bis gar nicht habhaft. Das einzige, was offiziell bekannt ist, ist eine zurückliegende Ehe, die durch die Hinterbliebenen-Rente immer öfter die Lebensgrundlage für ein zweite Chance bietet – und nicht immer, aber immer öfter mit einer neuen Partnerschaft und einem Leben verbunden sein kann, das von Einsamkeit und Mittellosigkeit weit entfernt ist. Was den wirklichen Nutznießern, nämlich sicher nicht den Beziehern sehr kleiner Renten, sondern eher denen, die eigentlich gut zurecht kommen vielleicht recht und billig sein mag, wird für die arbeitende Generation, die solche Leistungen erbringen muss, immer mehr zu einem Fass ohne Boden, zumindest dann, wenn das Modell noch weiter Schule machen sollte. 2001 betrugen die Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung 224 Milliarden Euro – 32 Prozent des gesamten Sozialbudgets der Bundesrepublik Deutschland. Von den 23,3 Millionen Renten entfielen 75 Prozent auf Versicherungsrenten und 25 Prozent auf die Hinterbliebenen der Versicherten.

Und was ist die Moral der Geschichte? Elsie P. und Siegfried M. haben inzwischen trotzdem geheiratet und sind nebst Hochzeitsreise von der Abfindung damit zufrieden, nicht mehr jedem in der ländlichen Umgebung ihr zuvor gelebtes und doch recht kompliziertes Beziehungs-Wohnmodell erläutern zu müssen. Bei anderen ist die Rente so klein, dass es keine Alternativen zu geben scheint, als weiter im Sinne alleinerstehende(r) Hinterbliebene(r) aufzutreten und die tatsächlich vorhandene Lebens-Partnerschaft nur sehr privat zu leben – unter anderem auch gefördert durch einen Arbeitsmarkt in Deutschland, der zum Beispiel im Gegensatz zu den Niederlanden immer noch viel zu wenig ältere Arbeitnehmer beschäftigen will und sie damit viel zu früh aufs Altenteil schiebt, und das heißt in der Praxis: in das Rentensystem abschiebt.

Fraglich bleibt dabei auch, wo das Modell „Ehe und Familie“ eines Tages enden wird, wenn es sich niemand mehr leisten kann oder will, sich - unter Verzicht auf staatliche Versorgung, sei es diese oder jene – zur Benutzung derselben Küche und desselben Badezimmers öffentlich zu bekennen.


2005-08-11 Angelika Petrich-Hornetz, Wirtschaftswetter
Text: ©Angelika Petrich-Hornetz

Fotos: ©Sabine Neureiter

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