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Gedanken über das Altern

von Moon McNeill

Meine Großmutter väterlicherseits war über neunzig Jahre alt, als sie einmal empört ausrief:

“Ich bin doch noch keine Greisin!“

Und in der Tat: Geistig und an Bildung konnte sie es noch mit so manchem aufnehmen, der sie wegen ihres Alters herablassend behandelte. Ich erinnere noch, welche ironischen Kommentare dieser Ausruf im Kreise der nachfolgenden Generation auslöste. Ich fand meine Oma taff. Sie machte mir mit diesem Satz deutlich, dass es gleitende Zustände des Alterns gibt und nicht die übliche Einteilung in Kindheit, Jugend, Erwachsensein und Alter.

Auch das Alter hat noch viele Nuancen, findet neue Interessen und kennt ungeahnte Entwicklungsmöglichkeiten. Inzwischen hat man das sogar in der Wirtschaft erkannt und veranstaltet Seniorenreisen oder Computerkurse für Oldies. Die Oldies sind ein Markt, sie haben eine eigene Partei gegründet, leben in Wohnprojekten und scheinen ein neues Selbstbewusstsein zu haben. Das klingt ganz, als hätten sie es in den Jahren zuvor verloren. Warum eigentlich?

In meiner Wahrnehmung waren die Alten immer die wirklich wichtigen Menschen meines Lebens. Ich bin im Kreise vieler alter Tanten und Onkel groß geworden, die Titulierungen wie „Oldies“ und „Senioren“ oder gar "Silver Generation" wenig interessant gefunden hätten. Ihr Alter nahmen sie lediglich als gegebenes Fortschreiten des Lebens wahr, zu bedauern oder zu beschönigen gab es da nichts, eine neurotische Aufwallung war es nicht wert.

Dieses Fortschreiten des Lebens hatte den Vorteil, dass man sein Leben genießen konnte. Oft bevölkerten Familienmitglieder aller Altersstufen die Wohnung und man konnte sie liebevoll bewirten. Man konnte Erinnerungen austauschen und auffrischen, Neues lernen und Altes wieder entdecken. Man konnte die Jungen unterstützen, mit ihnen teilen, was man hatte oder ihnen Erfahrungen weitergeben, die unersetzlich waren. Vor allem aber konnte man gewiss sein, im Kreise der Familie geborgen zu sein und Liebe geben zu dürfen. Alt sein war nach dem Krieg ein Privileg. Man war dankbar, dass man noch lebte; dass man noch anderes als Schrecken und Leid erlebte. Seine Daseinsberechtigung musste man angesichts dessen nicht erklären. Man war einfach da.

Diese stete, liebevolle Anwesenheit war tröstlich und gut - eine feste und verlässliche Komponente, ohne die das Leben einfach unvorstellbar war. Ich lauschte den Erzählungen der alten Tanten hingerissen, denn sie sprachen oft von Familienmitgliedern, die im Krieg verloren gegangen waren. Nur durch sie konnte ich diese kennen lernen und mich später als Teil dieser Familiengeschichte begreifen.

Foto Kind mit Frauen Heute ist alles anders. In den neunundvierzig Jahren meines irdischen Lebens habe ich die Veränderungen in den Familienstrukturen beobachtet und den Verlust der Bedeutung der Alten als den schmerzlichsten Prozess meines Lebens erlebt. Die Generation meiner alten Tanten und Onkel ist mittlerweile für immer gegangen. Das Lachen meiner Tanten ist verklungen - nur die stets präsente Geborgenheit ist mir geblieben, weil ich mich täglich an sie erinnere. Sie lebt in mir fort und vermittelt mir die Grundfeste in einer erschütternd verunsichernden Welt. Manchmal bleibe ich auf der Straße stehen, weil ich einem alten Menschen begegne, der diese selbe, mit Liebe gepaarte Würde im Gesicht trägt, die dem Alter grundsätzlich zu eigen sein sollte. Oft spreche ich solche Menschen an und unterhalte mich eine Weile mit ihnen. Ich mag das versonnene Lächeln bei mir und meinem Gegenüber, wenn man danach wieder seiner Wege geht.

Meine Großmutter starb im hohen Alter von 105 Jahren. Irgendwann gehe ich langsam meinem eigenen Alter entgegen. Es steht für mich außer Frage, dass ich keine "Seniorin" und kein "Oldie" werden will. Ich werde eine echte Alte!


2005-07-01 by Moon McNeill, Wirtschaftswetter
Text: © Moon McNeill
Banner: ©Angelika Petrich-Hornetz
Foto: ©Sabine Neureiter
Schlussredaktion: Ellen Heidböhmer
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