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Abgeschossen

Erlebt und erzählt von Uli D*
Aufgeschrieben von Angelika Petrich-Hornetz

Sie war wieder in der Umkleide. Weg konnte ich trotzdem nicht, ich musste ihr nächstes Out-Fit begutachten. Also wartete ich. Vor mir eine große Fensterfront mit Blick auf die Einkaufstraße, eine Fußgängerzone. Ein Gewusel von Menschen. Familien, die mit großen Tüten aus den umliegenden Bekleidungs- und Schuhgeschäften kamen oder aus dem Lebensmittelmarkt, wahrscheinlich mit dem Wochenendeinkauf. Mindestens ebenso viele Jugendliche mit und ohne Rucksack, Einkauftüten oder irgendeinem Fastfood in der Hand. Ein paar Greise mit Rollatoren oder Einkaufstrolleys, Geschäftsfrauen- und Männer mit Aktentasche auf dem Heimweg und Spaziergänger und Bummler jeden Alters, die den Anflug von Frühling offensichtlich zum Bummeln, Schauen und Shoppen nutzten.

Zwei Leute setzten sich ab, von diesem üblichen geschäftigen Rummel, ein dicker, älterer Mann und ein jüngerer Mann, die miteinander redend zielstrebig einen Eingang gegenüber aufsuchten. Der junge Mann ging dort hinein, der Ältere wartete draußen. Er war gut gekleidet, Hemd, Weste, Krawatte und wahrscheinlich noch gar nicht so alt, doch das kahle Haupt und der enorme Bauchumfang ließen ihn älter wirken, als er war, vielleicht erst Ende dreißig oder Anfang vierzig. Dem Schild zu entnehmen, stand er vor irgendeiner Wohnungsgesellschaft. Vielleicht hatte er den jungen Mann, der eine Bleibe suchte, als Verwandter, Berater oder Betreuer begleitet?

Während ich über die möglichen Konstellationen des ungewöhnlichen Duos nachdachte, tauchte ein Schuljunge auf, etwa elf oder zwölf Jahre alt, einen Schulrucksack auf dem Rücken, Turnschuhe, kurze Hosen bis zum Knie, federnder Gang. Er passierte den Dicken, nichtsahnend - genauso nichtsahnend wie ich. Auf einmal guckte der Dicke nämlich kurz nach links, kurz nach rechts, er checkte die Lage, offenbar fühlte er sich sicher. Behände zückte er nun aus seiner Jackentasche ein Handy, zielte auf die Rückenansicht des federnd vorbeigehenden Jungen, der nichts davon mitkriegte, was gerade geschah, genauso wenig wie irgendeiner der sie zahlreich umgebenden Passanten, die alle mit sich selbst beschäftigt waren und diese Szene nicht bemerkten. Ich war wohl der einzige Zeuge.

Der Dicke klickte und klickte, sehr schnell, er schoss Fotos von der Rückenansicht des Jungen, er ging sogar etwas in die Knie, offensichtlich, um den Hintern des Jungen besser ins Bild zu bekommen. Das Ganze dauerte nur Sekunden. Der Dicke schien geübt. Flink verstaute er sein Fotohandy wieder in seiner Jacke, während er noch einmal nach links und rechts guckte - als hätte er eben noch eine Waffe in der Hand gehabt, für die er gar keinen Waffenschein hat, was deshalb niemand wissen darf.
Nun verschränkte er seine Arme auf dem Rücken, sah mit sich zufrieden aus und wippte leicht auf und ab. Da erschien der junge Mann wieder auf der Straße, der zuvor in dem Haus verschwunden war, beide sprachen kurz und gingen dann schweigend fort, als wäre nichts geschehen.

Ich fühlte mich benommen, als hätte ich so etwas wie einen Unfall erlebt. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt noch nie leibhaftig gesehen, wie jemand heimlich andere Menschen fotografiert. Man hört das nur, oder liest in der Presse, dass irgendwelche Paparazzi auf Prominente losgehen oder sich Schüler heimlich filmen und ihre Späße damit im Web treiben.

Meine Freundin kam aus der Umkleide. Ich schoss an ihr vorbei. Sie sah mich wegen dieser ungewöhnlichen Bewegung, mit der sie nicht gerechnet hatte, für einen Moment entsetzt an. Ich inspizierte die Umkleidekabine, mit Argusaugen, jede Ecke, jeden Winkel. Keine Kameras. "Was hast du denn?", fragte sie mich entgeistert. Ich schaute ihr in die Augen und sagte, dass ich es ihr später erkläre. Der Gedanke, dass jemand, wie es dieser Dicke mit dem Jungen getan hatte, etwa auch den Hintern meiner Freundin heimlich fotografieren könnte, machte mich wütend. Aber noch mehr fraß der Gedanke an mir, dass wir offensichtlich in einem Umfeld leben, in dem Menschen andere Menschen zum Objekt deklassieren.

Was ist das für eine verkommene Gesellschaft, in der sich Menschen für sich selbst jedes Recht herausnehmen, aber dieses Recht gleichzeitig anderen Menschen absprechen, indem sie diese benutzen, als handelte sich um irgendwelche Waren - als wären es tote Gegenstände, die man nach persönlichem Gusto konsumieren könnte?


2014-04-01, Uli D*
*Der Name ist der Redaktion bekannt
Text: ©Uli D*., aufgeschrieben von Angelika Petrich-Hornetz
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