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Hartz IV - Interview mit Prof. Dr. Christoph Butterwegge

Zum zehnjährigen Jubiläum von Hartz IV und dem neuen Buch
"Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik?"

Die Fragen der Wirtschaftswetter-Redaktion stellte Angelika Petrich-Hornetz

Wirtschaftswetter: Herr Professor Butterwegge, in Ihrem neuen Buch ziehen Sie Bilanz: Ist das zehnjährige Jubiläum von Hartz IV der alleinige Anlass oder kam aktuell noch einiges andere zusammen?

Christoph Butterwegge: Bisher fehlte eine umfassende Kritik an dem Gesetzespaket auf wissenschaftlicher Grundlage. Ich selbst hatte mich in Büchern zur Sozialstaatsentwicklung und zur Armut in Deutschland immer nur am Rande mit den Hartz-Gesetzen befasst. Je intensiver ich mich im Rahmen der Recherchen für das neue Buch mit dieser komplizierten Materie auseinander gesetzt habe, umso mehr wurde mir bewusst, dass es sich bei Hartz IV um ein zutiefst inhumanes System voller innerer Widersprüche handelt, das Menschen entrechtet, erniedrigt und entmündigt. Sowohl die von der Reform unmittelbar Betroffenen wie auch ihre Angehörigen und mit ihnen in einer „Bedarfsgemeinschaft“ zusammenlebende Personen werden stigmatisiert, sozial ausgegrenzt und isoliert. Es geht mir jedoch weniger um ein moralisches Werturteil, das unter Würdigung aller Gesichtspunkte vernichtend ausfallen muss, als um die Analyse der arbeitsmarkt-, beschäftigungs-, wirtschafts-, sozial- und gesellschaftspolitischen Implikationen von Hartz I bis IV.

Wirtschaftswetter: Wie lauten Ihre Hauptkritikpunkte an Hartz IV?

Christoph Butterwegge: Da gibt es mehrere, von denen ich gern ein paar nenne: Mit der Arbeitslosenhilfe ist eine Lohnersatzleistung abgeschafft worden, die den Lebensstandard von Langzeitarbeitslosen halbwegs sicherte. An ihre Stelle ist mit dem Arbeitslosengeld II eine reine Fürsorgeleistung getreten, die sich auf dem Niveau der Sozialhilfe bewegt. Das Arbeitslosengeld II müsste deshalb eigentlich Sozialhilfe II heißen, zumal es nicht nur Arbeitslose, sondern auch erwerbstätige „Aufstocker“ bekommen. Trotz jahrzehntelanger Erwerbsarbeit erhalten viele Langzeitarbeitslose genau so viel oder wenig Geld wie Menschen, die noch nie gearbeitet haben. Deshalb ist durch Hartz IV neben der Sozialstaatlichkeit auch die Leistungsgerechtigkeit unter die Räder gekommen.

Hartz IV ist aufgrund verschärfter Zumutbarkeitsregeln und drakonischer Sanktionen, die Bezieher von Arbeitslosengeld II bei „Pflichtverletzungen“ drohen, ein Gesetz der Angst, das aus unserer Gesellschaft eine Gesellschaft der Angst gemacht hat. Trotz des wohlklingenden Slogans „Fördern und Fordern“, mit dem die rot-grüne Koalition Hartz IV der Öffentlichkeit seinerzeit „verkauft“ hat, wird massiver Druck ausgeübt – nicht nur auf Langzeiterwerbslose, sondern auch auf Belegschaften, Betriebsräte und Gewerkschaften. Sie sollten konzessionsbereiter gemacht werden, schlechtere Arbeitsbedingungen und niedrigere Löhne zu akzeptieren. So ist die Arbeitswelt seit dem 1. Januar 2005 viel rauer und härter geworden. Es gibt immer mehr prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Fast jeder Vierte ist heute im Niedriglohnsektor tätig. In keinem hochentwickelten Industrieland hat dieser Bereich in den vergangenen Jahren so krebszellenartig gewuchert wie in der Bundesrepublik. 1,3 Millionen Beschäftigte müssen ihr Gehalt aufgestockt bekommen, weil der Lohn zu niedrig ist. Der Bund hat dafür seit 2005 bereits rund 75 Milliarden Euro ausgegeben – Steuergelder, mit denen der Staat jene Unternehmen subventioniert, die Lohndumping betreiben und nicht existenzsichernde Löhne zahlen.

Gleichzeitig dringt die Armut bis in die Mitte der Gesellschaft vor – eine verhängnisvolle Entwicklung, die weder ein naturwüchsiger Prozess noch ein unsozialer Kollateralschaden der Globalisierung ist, sondern von den verantwortlichen Politikern bewusst vorangetrieben wurde. Durch die Reformen der Agenda 2010 werden die Reichen immer reicher und die Armen immer zahlreicher. Als Folge dieser sozialen Kluft ist auch eine zunehmende politische Spaltung zu beobachten. Hartz-IV-Bezieher gehen inzwischen deutlich seltener zur Wahl als Menschen, die in gesicherten materiellen Verhältnissen leben. Man kann durchaus von einer Ohne-mich-Demokratie sprechen. Die Armen ziehen sich zurück, weil sie nicht ganz zu Unrecht den Eindruck haben, dass in der Politik ihre Interessen immer weniger vertreten werden. Hartz IV war für viele von ihnen ein Einschnitt, ein Symbol für den Abbau des Sozialstaates.

Wirtschaftswetter: Haben Sie in diesen zehn Jahren Anhaltspunkte entdecken können, die einen Schluss auf die weitere Entwicklung der Arbeitslosenversicherung in den nächsten zehn, fünfzehn Jahren zulassen?

Christoph Butterwegge: Entweder setzt sich der Trend zur (Teil-)Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme fort, oder es wird eine solidarische Bürgerversicherung geschaffen, in die eine Grundsicherung eingebaut sein müsste, die den Namen im Unterschied zu Hartz IV verdient, weil sie bedarfsgerecht, armutsfest und repressionsfrei ist. Bürgerversicherung heißt, dass Mitglieder aller Berufsgruppen, d.h. nicht nur abhängig Beschäftigte aufgenommen werden. Da sämtliche Wohnbürger in das System einbezogen wären, blieben weder Selbstständige, Freiberufler, Beamte, Abgeordnete und Minister noch Ausländer mit Daueraufenthalt in der Bundesrepublik außen vor. Es geht primär darum, die Finanzierungsbasis des Sozialsystems zu verbreitern und den Kreis seiner Mitglieder zu erweitern. Bürgerversicherung wiederum bedeutet, dass es sich um eine Versicherungslösung handelt, also gewährleistet sein muss, dass ihre Mitglieder, soweit sie dazu finanziell in der Lage sind, Beiträge entrichten und entsprechend geschützte Ansprüche erwerben. Wer den nach Einkommenshöhe gestaffelten Beitrag nicht selbst entrichten kann, muss finanziell aufgefangen werden. Solidarisch wäre die Bürgerversicherung, wenn sie zwischen den ökonomisch unterschiedlich Leistungsfähigen einen sozialen Ausgleich herstellt. Nicht nur auf Löhne und Gehälter, sondern auf sämtliche Einkunftsarten (Zinsen, Dividenden, Tantiemen, Miet- und Pachterlöse) wären Beiträge zu erheben. Nach oben darf es Beitragsbemessungs- ebenso wenig wie Versicherungspflichtgrenzen geben, die es privilegierten Personengruppen erlauben würden, sich ihrer Verantwortung für sozial Benachteiligte zu entziehen und in exklusive Sicherungssysteme auszuweichen.

Wirtschaftswetter: Zur Rolle der Menschen im System: Welche Zielgruppen hat Hartz IV am schlimmsten getroffen, welche können damit noch ganz gut leben, und gibt es Menschen, die davon Ihrer Ansicht nach profitieren?

Christoph Butterwegge: Nicht mehr so großzügig alimentiert, sondern hauptsächlich mittels Druck „aktiviert“, d.h. im Klartext stärker drangsaliert und kontrolliert wurden Erwerbslose. Massiv zu leiden haben unter Hartz IV aber auch die Arbeitnehmer, meist ohne sich dessen bewusst zu sein. Viele sind inzwischen gezwungen, jeden Job anzunehmen, auch wenn er noch so schlecht bezahlt wird. Alle Beschäftigten leben heute unter dem Damoklesschwert von Hartz IV, aufgrund ihrer Kündigung nach einer kurzen Schonfrist auf Arbeitslosengeld II angewiesen zu sein und damit nicht mehr zur „guten Gesellschaft“ zu gehören. Umgekehrt haben Unternehmer, Manager und Aktionäre profitiert, denn sie waren die Gewinner des Reformprozesses. Mit den Hartz-Gesetzen wurde die Leiharbeit liberalisiert und der Arbeitsmarkt dereguliert. Dadurch sind die Gewinne der Unternehmen kräftig gestiegen. Denn natürlich bedeuten sinkende Löhne höhere Profite.

Wirtschaftswetter: Vor Hartz IV gab es in Westdeutschland durchaus Sozialhilfeempfänger, die ihr Mobiliar zum Sperrmüll gaben und beim Amt einfach neues „bestellten“. Es gab Arbeitssuchende, die auf einer Vermittlung als Abteilungsleiter bestanden und solange die Arbeitsvermittler verzweifelt danach suchten, zwei Monate lang fröhlich durch Italien reisten, das Auto wurde einfach mit einem Schwarzgeld-Job finanziert. Manche Arbeitsvermittler ließen viel durchgehen, solange sich Antragssteller gut ausdrücken konnten und ihre Rechte kannten. Andere Empfänger von Arbeitslosengeld, Arbeitslosen- oder Sozialhilfe, die ihre Rechte nicht so gut kannten oder sich auch nicht so gut vor ihrem Arbeitsvermittler präsentieren konnten, mussten indes alle zwei Tage persönlich erscheinen, ein lange beantragter Urlaub wurde aus fadenscheinigen Gründen gestrichen, sie bekamen die übelsten Job-Angebote, wenn überhaupt welche. D.h., es gab aus der Sicht sowohl von Arbeitssuchenden als auch von Vermittlern die ganze Palette vom sorgenfreien Leben auf Staatskosten bis hin zu schikanierendem Verhalten, die auch davon abhing, wer nun auf wen traf oder welche Sitte je nach Wohnort vorherrschte. Sind die Menschen im System durch Hartz IV nun auf beiden Seiten disziplinierter geworden? Hat sich daran, dass die Gesetze eigentlich für alle gleich sein sollten, aber ständig unterschiedlich ausgelegt wurden, durch Hartz IV irgendetwas geändert?

Christoph Butterwegge: Vielleicht zunächst eine persönliche Vorbemerkung: Da nicht als C-4-Professor geboren, sondern nach dem Studium der Sozialwissenschaften ab Mitte der 1970er-Jahre jahrelang arbeitslos, war ich damals selbst Bezieher von Arbeitslosenhilfe. Zwar war diese Sozialleistung großzügiger als das Arbeitslosengeld II heute bemessen, nämlich am letzten Nettoentgelt eines Antragstellers orientiert, und fast jedes Arbeitsamt nachsichtiger als ein Jobcenter heute, an jene paradiesischen Zustände, die Sie in Ihrer Frage schildern, kann ich mich aber nicht erinnern. Grundsätzlich sollte man nie von seltenen Ausnahme- bzw. Missbrauchsfällen auf die Gesamtheit der Empfänger einer Transferleistung schließen oder diese danach beurteilen.

Von einer gleichen oder gleichberechtigten Inanspruchnahme von SGB-II-Leistungen kann überhaupt nicht gesprochen werden. Statt der versprochenen „Dienstleistung aus einer Hand“ bewirkte Hartz IV eine organisatorische Zersplitterung der Arbeitsverwaltung, welche die mit Abstand umstrittenste Reform der Nachkriegsgeschichte laut regierungsoffiziellen Darstellungen gerade beheben sollte. Wie man als Hilfebedürftiger behandelt wird, hängt mehr denn je davon ab, wo man wohnt. Durch die Preisgabe des Prinzips der einheitlichen Arbeitsverwaltung wuchs die Gefahr eines landesweiten Unterbietungswettbewerbs zulasten der Grundsicherungsbezieher und einer Verletzung des Verfassungsgebots zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse. Je nach Leistungsart (Arbeitslosengeld bzw. Arbeitslosengeld II) und Wohnort der Erwerbslosen waren fortan unterschiedliche Einrichtungen für sie zuständig: die lokalen Arbeitsagenturen unter dem BA-Dach für Bezieher von Arbeitslosengeld (SGB III), die zur einen Hälfte von Kommunen und zur anderen Hälfte von lokalen Arbeitsagenturen getragenen Jobcenter sowie rein kommunale Einrichtungen, welche auch die Vermittlungs- bzw. Eingliederungsaufgaben selbst erfüllen. Hartz IV gleicht auch deshalb einem Flickenteppich, weil seine organisatorische Umsetzung desaströs war. Aus dem relativ kleinen Verschiebebahnhof ohne getrennten Gleisanschluss zwischen Kommunen und Bundesanstalt für Arbeit vor dem Reformprozess ist ein riesiger Verschiebebahnhof zwischen den Rechtskreisen des SGB III (Arbeitslosenversicherung) und des SGB II (Grundsicherung) geworden. Hilfebedürftige mit den schwerwiegendsten bzw. multiplen Vermittlungshemmnissen stehen dort am Ende weit häufiger als früher auf dem beruflichen und sozialen Abstellgleis.

Wirtschaftswetter: Wenn man versucht, Amerikanern die deutsche Grundsicherung für Arbeitssuchende zu erklären, verstehen sie zunächst einmal gar nichts und gleich darauf nicht, was es daran zu meckern gibt, da man in den USA i.d.R. häufig alles verliert, wenn man nur seinen Job verliert. Wie erklären Sie Amerikanern kurz und bündig, warum auch sie von Hartz IV nicht viel halten würden?

Christoph Butterwegge: Aufgrund der unterschiedlichen, wenn nicht gegensätzlichen sozialpolitischen Kulturen beider Länder ist das wahrscheinlich sehr schwierig. Ich würde es unter Bezugnahme auf das Gebot der „Leistungsgerechtigkeit“ versuchen. War die Arbeitslosenhilfe das ausschließlich von früher manchmal ihr ganzes Leben lang Beschäftigten bewohnte Souterrain des Wohlfahrtsstaates, fanden sich ihre Bezieher ab 1. Januar 2005 zusammen mit anderen Erwerbsfähigen, die vorher möglicherweise nie einen Arbeitsplatz hatten, in einem „Hartz IV“ genannten Gemeinschaftskeller des sozialen Sicherungssystems wieder, ohne dass eine Treppe nach oben den Betroffenen die Möglichkeit zum Aufstieg böte. Selbst wer als Facharbeiter oder Diplomingenieur über Jahrzehnte hinweg Beiträge in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hatte, wurde nicht mehr durch seinen Arbeitslosenhilfe-Anspruch gegenüber einem Schulabgänger bessergestellt, der keine Stelle fand, sondern musste sich wie dieser mit dem Arbeitslosengeld-II-Bezug zufrieden geben.

Wirtschaftswetter: Sie enttäuschen regelmäßig die Anhänger des „bedingungslosen Grundeinkommens“, die sagen, das sei auch nichts anderes als eine Grundsicherung, aber ohne diese ganzen Zwangsmaßnahmen und Sanktionen wie im Arbeitslosengeld-II-Bezug. Warum sind Sie davon nicht überzeugt, obwohl es doch keine Bedingungen an den Leistungsbezug stellt?

Christoph Butterwegge: Weil es meinem Gerechtigkeitsverständnis diametral widerspricht, eine Sozialpolitik nach dem Gießkannenprinzip zu machen, also monatlich über jedermann denselben Geldbetrag auszuschütten, ohne nach seinem Bedarf zu fragen. Der ausufernde Niedriglohnsektor, heute das Haupteinfallstor für Erwerbs- und spätere Altersarmut in Deutschland, würde mit Hilfe des bedingungslosen Grundeinkommens weiter expandieren, weil es gewissermaßen ein Kombilohn für alle wäre. Beim allgemeinen Grundeinkommen handelt es sich um eine alternative Leistungsart, die mit der Konstruktionslogik des bestehenden, früher als Jahrhundertwerk gefeierten und in vielen Teilen der Welt nachgeahmten Wohlfahrtsstaates bricht sowie seine ganze Architektur bzw. Struktur zerstören würde. Dieser gründet nämlich seit Otto von Bismarck auf Sozialversicherungen, die in unterschiedlichen Lebensbereichen, -situationen und -phasen auftretende Standardrisiken (Krankheit, Alter, Invalidität, Arbeitslosigkeit und Pflegebedürftigkeit) kollektiv absichern, sofern der versicherte Arbeitnehmer und sein Arbeitgeber vorher entsprechende Beiträge gezahlt haben. Nur wenn dies nicht der Fall oder der Leistungsanspruch bei Arbeitslosigkeit erschöpft ist, muss man auf steuerfinanzierte Leistungen (Arbeitslosengeld II, Sozialgeld bzw. Sozialhilfe) zurückgreifen, die bedarfsabhängig gezahlt werden. Würden (fast) alle bisherigen, zum Teil nach Bedürftigkeit gewährten Transferleistungen zu einem Grundeinkommen verschmolzen, hätten marktradikale Reformer ihr Traumziel, die Sozialversicherungen zu zerschlagen und einen neoliberalen „Minimalstaat“ zu schaffen, gewissermaßen nebenbei erreicht, was sich noch dazu als Wohltat für die Bedürftigen hinstellen ließe. Gleichzeitig böte die Refinanzierung des Grundeinkommens über indirekte, d.h. Konsumsteuern einen Hebel, um die Unternehmenssteuern weiter zu senken und am Ende ganz abzuschaffen.

Wirtschaftswetter: Eine Frage der Kinderredaktion: Jeder kann arbeitslos werden, aus vielen Gründen. Wenn Eltern z.B. gekündigt werden, weil die Firma zumacht, können die Eltern nichts dafür. Wenn die Kinder dann in der Schule oder im Kindergarten gefragt werden, was ihre Eltern arbeiten, sagen sie das aber nur ganz leise. Warum schämen sich Kinder, wenn ihre Eltern arbeitslos werden, wenn doch eigentlich jeder arbeitslos werden kann?

Christoph Butterwegge: Weil nicht die Eltern aller übrigen Kinder arbeitslos sind und weil die Bezieher von Arbeitslosengeld II in den Medien als Faulenzer, Drückeberger und Sozialschmarotzer dargestellt werden. Hartz IV zu beziehen ist ein gesellschaftliches Stigma. Häufig übernehmen die Betroffenen und ihre Kinder die Fremdzuschreibung und machen sich selbst bzw. ihre Eltern für die eigene soziale Misere verantwortlich. Kinder haben weder Bewältigungstechniken noch Verdrängungsmechanismen entwickeln können. Sie durchschauen die Massenerwerbslosigkeit auch noch nicht als strukturelles Problem und leiden deshalb oft erheblich stärker als die Erwachsenen darunter, zumal ein massiver Druck sowohl der Werbeindustrie wie auch der eigenen Clique auf ihnen lastet, das bunteste Handy, die modernste Unterhaltungselektronik und die tollsten Markenklamotten zu haben.

Wirtschaftswetter: Zu Kindern arbeitsloser Eltern noch ein paar Fragen der Erwachsenenredaktion: Vor kurzem machten einige Jobvermittlungen von sich reden, die Oberstufenschüler arbeitsloser Eltern zu Beratungsterminen einluden und mit Nachdruck auf deren Erscheinen bestanden, auch wenn die Jugendlichen erklärten, bis auf weiteres die Schule besuchen zu wollen und damit Abitur und ein Studium anzustreben, also eigentlich gar kein Bedarf an Gesprächen zur Arbeitsvermittlung oder zur Vermittlung in einen Ausbildungsplatz bestand. Die Jobvermittlungen begründeten dies damit, dass rechtzeitig damit begonnen werden müsse, den Übergang von der Schule in den Beruf für Schüler aus hilfebedürftigen Familien zu gestalten. Ist das eine ganz neue Entwicklung oder mussten ab 15-jährige Schüler schon immer an solchen Gesprächen teilnehmen?

Christoph Butterwegge: Offenbar geht der Trend dahin, die potenziellen Hartz-IV-Betroffenen im Sinne eines falsch verstandenen Präventionsgedankens immer früher einzubeziehen. Deshalb bezeichne ich das Hartz-IV-System als totalitär, durchdringt es doch sämtliche Poren der Gesellschaft und lässt die Betroffenen nicht mehr los, beherrscht ihren Alltag und zwingt sie, ihr gesamtes Verhalten danach auszurichten. Wie sehr der Staat sich anmaßt, über die Lebensweise von Grundsicherungsbeziehern zu entscheiden, zeigte auch die einstweilige Verfügung, mit der das Landgericht Köln im März 2011 den Lotto-Annahmestellen in Nordrhein-Westfalen untersagte, Hartz-IV-Empfängern eine Sportwette zu verkaufen.

Wirtschaftswetter: Ein Jobcenter startete im Sommer eine sicher gut gemeinte Aktion, um für arbeitende Eltern zu werben bzw. Unternehmen dafür zu gewinnen, Eltern einzustellen. In der Pressemeldung zu der Aktion hieß es dann, dass in Elternhäusern, die ihren Lebensunterhalt nicht aus eigener Kraft bestreiten, „an neue Klamotten, einen Besuch im Restaurant oder gar eine Urlaubsreise ohnehin nicht zu denken“ sei. Tenor des Ganzen: Arbeitslose Eltern seien schlechte Vorbilder, vor allem was die Disziplin beträfe. Nun ist es ja so, dass sich auch Eltern, die beide den ganzen Tag lang diszipliniert und vorbildlich arbeiten, jedoch im Niedriglohnbereich, ganz genauso keine Urlaubsreisen, schicke Kleidung oder Restaurantbesuche für ihre Kinder leisten können. Macht man sich angesichts dieser inzwischen gar nicht mehr so seltenen Fälle eines sehr niedrigen Einkommens trotz Vollzeitjobs nicht etwas vor, wenn behauptet wird, jede Arbeit wäre gleichbedeutend mit einem schönen Leben inklusive regelmäßiger Restaurantbesuche?

Christoph Butterwegge: Ja, zweifellos. Mit den Hartz-Gesetzen gingen nicht bloß soziale Verwerfungen, sondern auch Verwüstungen in den Köpfen einher. Heute sind immer mehr Menschen mit immer weniger zufrieden, statt als mündige Sozialstaatsbürger auf ihren rechtmäßigen Ansprüchen zu bestehen. Obwohl die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft mit ihrem Slogan „Sozial ist, was Arbeit schafft“ im Vorfeld der rot-grünen Reformen den Eindruck erweckt hat, es komme auf Arbeitsbedingungen und Lohnhöhe gar nicht an, darf die Erwerbsarbeit nicht überhöht, verklärt und verabsolutiert werden. Schließlich handelt es sich dabei im Grunde um eine Sklavenhalterideologie. Selbst ein Feudalherr, der seine Leibeigenen mit der Peitsche ins Bergwerk gejagt hat, wäre dann aber sozial gewesen, weil er ihnen Arbeit gab.

Wirtschaftswetter: Tragen die Sozialleistungen für Kinder in Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften wie das Bildungs- und Teilhabepaket etwas zur Verbesserung ihrer Zukunftsaussichten bei?

Christoph Butterwegge: Ich fürchte, sehr wenig. Aufgrund seiner bürokratischen Struktur gibt es große Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Bildungs- und Teilhabepaketes, das ein soziales Trostpflaster und eine politische Mogelpackung war, weil es den Kindern gerade einmal 10 Euro pro Monat zusätzlich gewährt. Immer noch wird mancherorts von den zur Verfügung stehenden Mitteln dieses aufwändigen antragsabhängigen Sach- und Dienstleistungssystems nur ein Drittel abgerufen, weil keine andere Sozialleistung mit einem derartigen Verwaltungsaufwand verbunden ist, was sich in schwer überwindbaren Hürden für die Betroffenen niederschlägt. Teilweise ist es durch das Bildungs- und Teilhabepaket sogar zu Verschlechterungen bei der Mittagsverpflegung und/oder der Vereinsmitgliedschaft von Kindern aus SGB-II-Bedarfsgemeinschaften gekommen, weil bisherige, großzügiger bemessene Programme in einzelnen Kommunen aufgrund der Bundesregelung eingestellt werden mussten.

Wirtschaftswetter: Wie wird sich der Mindestlohn auf prekäre Arbeitsverhältnisse und Langzeitarbeitslosigkeit auswirken?

Christoph Butterwegge: Ein gesetzlicher Mindestlohn ist eigentlich ein gutes Mittel, um den ausufernden Niedriglohnsektor einzudämmen. Nur ist der von CDU, CSU und SPD eingeführte Mindestlohn dazu nicht in der Lage, weil er mit 8,50 Euro zu niedrig angesetzt ist, weil er zu spät kommt, nämlich für einige Branchen erst 2017, und weil das Gesetz zahlreiche Ausnahmen zulässt. Die meisten zum großkoalitionären Mindestlohn beschäftigten Arbeitnehmer müssen weiterhin aufstockend Hartz-IV-Leistungen beanspruchen. Das gilt selbst für vollzeitbeschäftigte Alleinstehende, wenn sie in Großstädten wie München, Stuttgart, Hamburg oder Köln wohnen und hier eine relativ hohe Miete zahlen müssen.

Wirtschaftswetter: Ab 2029 geht die größte Kohorte der Babyboomer-Generation in Rente, und wegen ihrer großen Anzahl wird dies in jedem Fall ein einschneidendes Ereignis für die Gesellschaft werden. Sehen Sie einen dauerhaften Anstieg der Altersarmut, wenn der Ansturm auf die Rentenkassen einsetzt – vor dem Hintergrund, dass diese Generation zwar eine deutlich höhere Frauen- und Müttererwerbstätigkeit, andererseits aber auch schon deutlich mehr Brüche in ihrem Erwerbsleben vorzuweisen hat als ihre Vorgängergenerationen?

Christoph. Butterwegge: Man muss gewiss kein Prophet sein, um vorhersagen zu können, dass sich als eine Spätfolge der Hartz-Gesetze bei langjährigen Arbeitslosengeld-II-Beziehern, prekär Beschäftigten und Niedriglöhnern im Alter vermehrt Armut einstellen wird, weil die Deregulierung des Arbeitsmarktes mit einer Demontage des Sozialstaates im Allgemeinen und der Gesetzlichen Rentenversicherung im Besonderen einherging. Beispielsweise ist das Armutsrisiko für Senioren mit brüchigen Erwerbsbiografien durch die Streichung der Beiträge zur Rentenversicherung, welche die Bundesagentur für Arbeit im Falle der Langzeit- bzw. Dauererwerbslosigkeit entrichtete, drastisch gestiegen.

Wirtschaftswetter: Welche Passagen würden Sie in den Hartz-IV-Regeln sofort ändern oder streichen – oder plädieren Sie dafür, das bestehende System als solches komplett einzustampfen und ein ganz neues aufzustellen? Wie sähe es ungefähr aus?

Christoph Butterwegge: Aufgrund seiner inneren Widersprüche und der gravierenden Nachteile eines rigiden Armutsregimes für die Betroffenen muss Hartz IV als Ganzes rückabgewickelt, das Arbeitslosengeld II durch eine lebensstandardsichernde Transferleistung nach dem Vorbild der Arbeitslosenhilfe ersetzt und das bestehende Sicherungssystem zu einem inklusiven Sozialstaat fortentwickelt werden. Nötig wäre eine ganz neue Arbeitsmarktverfassung, die einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn in angemessener Höhe ebenso einschließen müsste wie die umfassende Regulierung oder ein Verbot der Leiharbeit und eine Totalrevision der Hartz-Gesetze.


Weitere Informationen:
Zur Person: Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Kürzlich ist sein Buch „Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik?“ (290 Seiten) bei Beltz Juventa erschienen. Vorher hatte er einen Sammelband „Armut im Alter. Probleme und Perspektiven der sozialen Sicherung“ im Campus-Verlag herausgegeben.

Webseite: christophbutterwegge.de

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Aktuelles Buch:
Hartz IV und die Folgen
Auf dem Weg in eine andere Republik?
von Christoph Butterwegge
290 Seiten
ISBN 978-3-7799-3234-5
Erschienen bei Beltz Juventa

Außerdem:
Armut im Alter
Probleme und Perspektiven der sozialen Sicherung
Herausgegeben von Christoph Butterwegge, Gerd Bosbach, Matthias W. Birkwald
393 Seiten
ISBN 978-3-5933-9752-8
Erschienen im Campus-Verlag


2014-12-02, Angelika Petrich-Hornetz, Wirtschaftswetter
Text: ©Angelika Petrich-Hornetz

Und Gesprächspartner Prof. Dr. Christoph Butterwegge

Schlussredaktion: Ellen Heidböhmer
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