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Berlin hassen – der etwas andere Reiseführer durch die Hauptstadt

von Juliane Beer

Über die Stadt Berlin hat man sich bereits und immer wieder ausgiebig ausgelassen, auch Autor Kristjan Knall vor wenigen Jahren, der jetzt mit "111 Gründe, Berlin zu hassen" zu einem neuen Rundumschlag ausholt. Um es gleich vorweg zu sagen: Das Ergebnis ist sowohl lustiger als auch schrecklicher als seine vorherigen Hasstiraden. Das neue Buch ist sozusagen der ultimativer Reiseführer durch die Hölle.
Ob das an Knall liegt oder daran, dass selbst der/die letzte BerlinerbewohnerIn der Stadt nichts mehr abgewinnen kann, was hinausgeht über ein `man ist nun mal hier, weil es woanders noch schlimmer, zumindest aber nicht besser ist´ sei mal dahingestellt.
Tatsache ist, dass Knall genau die Punkte anspricht, die kein Mensch mehr ertragen kann, der hier sein Leben zubringen muss, aber eben dennoch notgedrungen erduldet.
Und selbst TouristInnen finden vollgekackte Bürgersteige, Männerrudel vor versifften Internetcafe´s, in denen die städtische Islamistenszene ihr Tagesgeschäft regelt versus Latte macchiato für fünf Euro per Napf in den neuen ´Szenebezirken´ der Stadt nur noch ´spannend´, wenn sie aus der schwäbischen Kleinstadt zu Besuch angereist sind, wohl wissend, dass sie nach drei Tagen auch dorthin zurückkehren dürfen.

Praktischerweise ist das Buch in verschiedene hassenswerte Aspekte der Stadt aufgeteilt, man kann sich also gezielt heraussuchen, was einen am meisten anwidert. Und erstaunlich oft findet man Bestätigung.
Da geht’s zum Beispiel zu den Berliner Badeseen; warum diese eine einzige Kloake sind, wird einleuchtend erläutert. Es geht zu den kulinarischen Stätten Berlins, will man Currywurst mit Darm von der Bude als vereinbar mit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit begreifen.
Es geht zu den öffentlichen, steuerfinanzierten Toiletten, die die/der SteuerzahlerIn allerdings nur nach Einwurf von Eintrittsgeld betreten und benutzen darf. Immer mal wieder geht es auch nach Neukölln – ganz klar, der Bezirk war unerträglich und bleibt unerträglich, egal, was sich hier tut. Das ändert natürlich auch die ehrenamtliche Kiez-Berichterstattung von arbeitssuchenden Jungjournalisten nicht, die aufgrund eines positiven Blicks auf die Dinge aber immerhin bestimmt den einen oder anderen echten Job ergattern.
Kristjahn Knall macht sich hingegen ehrlich, an Neukölln gibt es für ihn nichts zu beschönigen. Beispielsweise hat er die Hipster im Visier, zwar sind diese bei Erscheinen des Buches im Rückzug begriffen, denn momentan machen Neuköllner VermieterInnen mit Geflüchteten ein gutes Geschäft, indem sie sie zu Großfamilien in 1-Zimmer Wohnungen zusammenferchen, und dafür vom Bezirksamt pro Person kassieren, was die Hipster-Nachbarschaft bei der Arbeit am Macbook behindert. Aber Neukölln wäre nicht Neukölln wenn nach dem Verschwinden der Hipster nicht eine weitere Spezies den Bezirk entern würde. Knall dürfte uns beizeiten darüber informieren.

Des weiteren geht es in die Berliner Clubszene, die nur noch vom Tourismus heimgesucht wird, in die Startups, in denen Ausbeutung sowie Selbstausbeutung einen popkulturellen Anstrich bekommen, in den Bezirk Wedding, wo die Königsdisziplin in Sachen ´ohne Arbeit durchs Leben kommen´ in einem Dasein als FrührentnerIn besteht und schließlich in den Bezirk Prenzlauer Berg, in dem mit Biofutter gestopfte Blagen schon lange nicht mehr nur ihren ErzeugerInnen, sondern selbst unbescholtenen PassantInnen das Leben zur Hölle machen.

Aktuell wird es zum Schluss noch einmal beim "Gratisgrund", also dem 112. Grund, Berlin zu hassen: Prenzlauer Berg-Muttis halten es laut Knall nicht einmal mehr für nötig, sich den Namen ihrer nichtdeutschen Haussklavin zu merken. Sie heißt einfach "Jacqueline". Immer. Knall reibt sich die Hände. Die Flüchtlinge, die, wie er hofft, auch zahlreich nach Prenzlauer Berg gelangen, werden dieser Biomarkt-Bande schon die Leviten lesen.

Alles sehr amüsant und von hohem Wiedererkennungswert für Einheimische - jedoch wahrscheinlich mit wenig Abschreckungseffekt für TouristInnen, nur eines fehlt: die Metaebene. Diese bestünde in diesem Buch darin, Berlin-Hassbücher ohne Ironie als einen weiteren Grund, Berlin zu hassen, anzuführen. Das Problem hinter allem Wehklagen ist ja, das Berlin keine Ausnahme ist, es vielmehr in allen europäischen Metropolen einst ähnlich oder genauso angefangen hat wie in Berlin, mit dem Endergebnis, dass man aktuell während Besichtigungstouren durch die Innenstädte mit ihrer Kettengastronomie und den immer gleichen Modetempeln oder beim Lesen von Berichten über die Vorstädte mit ihrer Gewalt und Verelendung nicht mehr weiß, in welcher Stadt und in welchem Land man sich nun eigentlich gerade befindet.
In Berlin kam alles etwas später und gemächlicher, sicher, aber es sollte einem klar sein, dass es nach den momentanen, doch noch irgendwie heiteren Übergangsjahren aller Voraussicht nach enden wird, etwa wie in Paris oder London. Das ist die bittere Erkenntnis und Ironie zugleich, auch wenn man aus Knalls Buch herauszulesen meint, alles könne doch noch irgendwie ein gutes Ende nehmen.

Achtung, Werbung + Informationen Buch & Autor:
111Gründe, Berlin zu hassen
von Kristjahn Knall
Taschenbuch 248 Seiten
Verlag Schwarzkopf + Schwarzkopf, Berlin

Verlagsinfo Autor:
Kristjahn Knall lebt, arbeitet und hasst in Berlin.
Den alltäglichen Wahnsinn bekämpft er mit Schreiben, obwohl er in Rechtschreibung immer eine 5 hatte.


2016-03.11, Juliane Beer, Wirtschaftswetter
Text: ©Juliane Beer
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