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Memoria culinaria

Die Fünfzigerjahre in Schnittchen, Erdbeeren, Kartoffelpürrée und Königsberger Klopsen

von Birgid Hanke

Königsberger Klopse Es war ein heftiger Plumps, mit dem das Kind auf den harten Boden fiel. Platsch, von der provisorisch im Türrahmen angebrachten Schaukel auf das dunkelgrüne Linoleum. Erschrocken kam „Tante Thea“ aus der Küche herbei gerannt. Hatte sich das ihrer Obhut anvertraute Kind ernsthaft verletzt? Das sonst so beherrschte Gesicht der Pflegemutter war vor Schreck verzerrt, als sie die brüllende Dreijährige vom Boden aufhob und sie, beschwichtigend in den Armen wiegend, in die am Ende des langen Flurs gelegene Küche trug. Dort setzte sie die Kleine auf die Arbeitsplatte, auf der sie gerade die frisch im Garten gepflückten Erdbeeren putzte. Um das immer noch weinende Kind zu beruhigen, steckte sie ihm kurzerhand eine der schönsten und reifsten Früchte in den Mund. Das Weinen verstummte schlagartig.

Was für ein Geschmack! Was für ein Geruch! So etwas hatte das Kind noch niemals gekostet, noch niemals geschmeckt. Hingerissen kaute und schmatzte die Kleine, zuselte, schlürfte, saugte die letzten Tropfen Saft aus der Frucht und schluckte sie genussvoll hinunter.
„Mehr“, verlangte sie. Die sonst so gestrenge Pflegemutter leistete diesem Verlangen umgehend Folge, denn die Beule auf der Stirn der Kleinen war mittlerweile zu Hühnereigröße angeschwollen. Eine zweite Erdbeere verschwand im aufgesperrten Mäulchen.
Sie schmeckte jetzt, da die Geschmacksnerven richtig zum ersten Leben erweckt waren, noch besser.
„Noch eine“, bettelte das Kind.
„Nein, jetzt ist Schluss, mehr bekommst du nicht, denn die Erdbeeren sind ja eigentlich zum Marmelade einkochen gedacht“, wurde das Kind beschieden, und es beschied sich.

Auf Erfüllung seines Wunsches beharren, weiter bitten, betteln und quengeln? Ausgeschlossen!
Ein Nein war ein Nein und blieb es auch. Nachgiebigkeit gegenüber einem Kind von drei Jahren? Niemals! Nicht in jener Zeit, den tiefen fünfziger Jahren des rabenschwarzen Adenauerdeutschlands.
Vielleicht war es aber genau diese Verknappung des Genusses, die mich Geschmack und Geruch dieser beiden, erstmals bewusst in meinem Leben genossenen Erdbeeren niemals haben vergessen lassen. Bis heute bin ich auf der Suche nach diesem Geschmack, der Süße, der Reife, dem Duft dieser Früchte. Ich habe ihn niemals wieder gefunden.

Vielleicht ist mit dem schmerzhaften Sturz mein Geschmackssinn ja schlagartig zum Leben erweckt worden, zumindest setzt zu diesem Zeitpunkt meine bewusste Erinnerung ein. Diese sind ja meist mit Gerüchen und Geschmack verbunden, mit Hilfe derer auch viel später längst vergessen geglaubte Kindheitserlebnisse herauf zu beschwören sind.

Der intensive Geruch nach reifen, überreifen Äpfeln, der Duft einer frisch gemähten Wiese, unvergesslich der erste Pfirsich in der Hand, das Gefühl seiner samtigen Haut in der Berührung mit der eigenen, der unwiderstehliche Duft, der erste Bissen in die reife Frucht, der süße Saft, der die Mundwinkel hinunter rann. Unwiederholbar die erste Erfahrung mit einer neuen geschmacklichen Offenbarung.
Genauso unwiderruflich wie alle Geschmäcker, Gerichte, Früchte und Gerüche, die man zum ersten Mal in seinem Leben bewusst wahrnimmt. Dazu gehören nicht immer nur schöne Erfahrungen.

Wie köstlich der Duft des Kakaos, der mir verheißungsvoll über den Rand der großen Tasse in die Nase stieg. Aber dann, oh Graus, oben drauf hatte sich eine Haut gebildet. Wie eklig! Ekelhaft!
Ein Kind der fünfziger Jahre durfte sich nicht ekeln. Was auf den Tisch kam, musste gegessen oder getrunken werden.
Selbstverständlich auch der Kakao mit Haut. Oder aber in die Ecke stellen und sich schämen.
Ich zog es vor, mich in die Ecke zu stellen und zu schämen. Wofür ich mich schämen sollte, verstand ich wiederum nicht.
Es gab so vieles, was ich nicht verstand. Aber allzu langes hartnäckiges Fragen war nicht erlaubt.
„Dafür bist du noch zu klein, sei still!“

Zu klein sein, hatte manchmal aber auch sein Gutes. So war meine Mutter der Auffassung, dass die Sahnemeerrettichsauce, die sie stets zum gekochten Rindfleisch zubereitete, für ein Kind zu scharf sei. Dieses Gericht musste ich nicht essen, sondern durfte mich an die dazu obligatorischen mehlig kochenden Salzkartoffeln halten , die natürlich im Herbst zentnerweise eingekellert worden waren. Kleine Frage am Rande: Wieso ist es mittlerweile so schwierig geworden, mehlig kochende Kartoffeln zu erhalten? Aus „vorwiegend fest kochend“ kann man doch kein vernünftiges Kartoffelpürrée zubereiten.

Wie ich so vieles an den Erwachsenen als Kind nicht verstand, waren auch viele ihrer kulinarischen Genüsse, die sie zu begeisterten Ausrufen, „Achs“ und „Ohs“ und schwelgerischem Schmatzen, genüsslichen Lecken der Lippen hinriss, überhaupt nicht nachvollziehbar.
Ganz schlimm war es an Weihnachten. „Semmelknödeln, endlich wieder Semmelknödeln“, freute sich der „sudetendeitsche“ Vater schon immer im Voraus, wenn seine Mutter aus dem fernen Münster aus Westfalen anreiste. Und dazu eine schöne, fette gebratetene Gans.

„Eine jut jebratene Jans is ne jute Jabe Jottes“, freute sich die aus dem westpreußischen Elbing stammende Mutter, die sich ihr Eheleben lang weigerte, die Kunst der Semmelknödelzubereitung zu erlernen. Dafür war sie jedoch Spezialistin im Geflügel ausnehmen. Das wurde nämlich damals noch mit allen Inneren verkauft. Mit herzhaften Griff in das Innere des fetten Vogels hinein gefasst und mit einem Ruck das ganze Gekröse herausgeholt. Blut tropfte auf den Boden, die Hände meiner Mutter waren gleichfalls Blut verschmiert. Ich ekelte mich ganz schrecklich und flüchtete aus der Wohnküche in die Kammer.

Winzig war die Wohnung unter dem Dach, deren Kammern früher den Dienstmädchen der Bewohner des Gründerzeitwohnhauses als Unterkunft gedient hatten. In der Nachkriegszeit vom Wohnungsamt als Wohnraum deklariert und von dem jung verheirateten Ehepaar als erste Bleibe im Westen ergattert. Mit dem Anfangsgehalt von 200 Mark als Junglehrer wäre mehr auch nicht drin gewesen. Die ersten Möbelstücke waren Orangenkisten. Darauf sitzend verzehrte ich den ersten Eierpfannkuchen meines Lebens, zumindest den ersten bewusst verzehrten. Er war mit Erdbeermarmelade gefüllt.

Das erste Möbelstück, das angeschafft wurde, war die praktische Ecktruhenbank und der Spültisch mit den beiden heraus drehbaren, heraus nehmbaren Schüsseln. Es gab zwar einen Kohleherd und einen Gaskochherd, aber kein fließendes Wasser in dieser Wohnküche. Das musste draußen über dem Flur im Badezimmer geholt werden. So stand stets ein mit frischem Wasser gefüllter blassgrüner Plastikeimer zwischen Kohle-und Gasherd, in dem eine große Suppenkelle hing. Wenn wir Kinder durstig waren, stürzten wir uns darauf und schlürften mit Begeisterung aus der Kelle.
„Das schmeckt viel besser als das aus der Wasserleitung“, behauptete meine beste Freundin, die mit ihrer Familie nur ein Stockwerk unter mir, also in der Beletage und damit gesellschaftlich eigentlich Welten entfernt wohnte. Denn meine Eltern waren Flüchtlinge, deren Sinnen und Trachten seit Beginn der fünfziger Jahre einzig und allein darauf gerichtet war, Anerkennung und Aufnahme in der so genannten besseren, bürgerlichen Gesellschaft einer hessischen Kleinstadt zu finden.

Man lud sich damals nicht wie heute zu opulenten Mahlzeiten ein, sondern wenn überhaupt zum Essen eingeladen wurde, gab es „Schnittchen“. Ich liebte es, wenn meine Mutter sie vorbereitete. Unverzichtbarer Bestandteil natürlich eines solchen Essens waren „Russisch Ei“ und Schinkenröllchen mit Spargel.
Meine Mutter war eine gute Köchin, hatte es sich selbst im Laufe der Jahre beigebracht und ihrer eigenen Mutter, die vor dem Krieg in der „kalten Heimat“ einen gutbürgerlichen Haushalt geführt hatte und als Gutstochter durch die strenge Lehre einer resoluten Gutsköchin gegangen war, einiges abgeguckt.
Noch heute gerät meine mittlerweile hoch betagte Mutter ins Schwärmen. „Muttis gespickte pommersche Gänsebrust war ein Gedicht“, erinnert sie sich regelmäßig in der Vorweihnachtszeit, und mir läuft das Wasser im Mund zusammen. „Und das Marzipan hat sie auch selbst gemacht.“

Dergleichen Delikatessen waren in unserem kleinen Haushalt unerschwinglich. Lieber eine Tube Mayonnaise gekauft, eine Tomate in zwei Hälften geschnitten, mit Mayonaiseklecksen betupft und auf ein hart gekochtes Ei gesetzt. Mein kindliches Entzücken ob dieses Fliegenpilzes, der neben dem Fleischsalatberg vom „Russisch Ei“ stand, war schier grenzenlos. Das Büchlein „Dekoriert mit Liebe und Phantasie“ oder ähnlich war meine absolute Lieblingslektüre, dessen Abbildungen ich immer wieder studierte und meine Mutter anflehte, doch auch einmal solche niedlichen Marienkäfer (Tomatenhälfte mit Mayonaisetupfern, Gurkenbeinen) herzustellen. Genauso aufmerksam studierte ich immer die Rückseiten der Abreißkalender vom Kaufmann, auf denen so interessante Rezeptvorschläge standen. „Mutti, warum machst denn nicht mal, kannst du denn nicht mal... .“ Vielleicht wurde damals schon der Grundstein für meine heutige Leidenschaft gelegt. Ja, ich kaufe leidenschaftlich gerne Kochbücher. Wieder und wieder. Bei meiner letzten Zählung waren es fast dreihundert.

Ich kann mich übrigens nicht erinnern, dass einer meiner kulinarischen exotischen Wünsche je erfüllt wurde. Meine Mutter kochte gut, gutbürgerlich bescheiden. Aber es kamen damals noch Dinge auf den Tisch, die inzwischen lange von unserem Speisezettel verschwunden sind.
Wo wird heute noch frisch gebackenes Hirn auf den Abendbrottisch gestellt? Mein Mutter servierte es meinem Vater regelmäßig. Von grauer Farbe und der Konsistenz eines zu heftig gerührten Rühreis. Ich ekelte mich mal wieder ganz schrecklich und flüchtete. Auch dem frisch geräucherten Bückling, den meine Mutter sorgfältig entgrätete, ehe sie ihn meinem Vater mit frischem Brot servierte. Auch davor ekelte ich mich. Es gab so vieles, was ich nicht mochte als Kind.
Das Kind ist so blass, warum hat es solche Ringe unter den Augen, isst es nicht ordentlich?“

Ich aß wie ein Spatz, mochte kein Fleisch, außer Schnitzel und seltsamerweise Leber. Die liebte ich, liebe ich heute noch, so richtig schön mit Zwiebeln und Äpfeln gebraten, dazu selbst gemachtes Kartoffelpürrée (aus mehlig kochenden Kartoffeln!). Für mich noch heute ein wahrer Genuss. Meine Familie damit zuhause beglücken? Ausgeschlossen.
Meine Töchtern ekeln sich davor, dito ihr Erzeuger. Also betätige ich mich ab und an als „Wanderköchin“ und bereite dieses Klassiker der deutschen Küche bei Freunden zu, die diesen Genuss wie ich zu schätzen wissen.

Ein weiterer Klassiker meiner Mutter waren „Königsberger Klopse“, deren perfekte Zubereitung sie mir nicht beibrachte, sondern vererbte. Das muss einfach in den Genen sitzen, sonst klappt es nicht. Eines der schlimmsten geschmacklichen Sakrilegien beging meine Großmutter väterlicherseits, die böhmische, die zwar perfekte Semmelnknödeln, „Powiddeldatschkerln“ und Marillenknödeln zuzubereiten verstand, aber eben keine „Königsberger Kloppse“. Das Ergebnis ihrer Kochkunst schien ihr selbst ein bisschen fade ausgefallen zu sein, so dass sie versuchte, das Gericht geschmacklich mit klein geschnittenen Fleischwurstwürfeln zu „verfeinern“. Es war einfach widerlich. In der Erinnerung daran schüttelt es mich heute noch, damals ekelte ich mich mal wieder und verweigerte die Essensaufnahme. Wieder einmal durfte ich mir anhören, was für ein „verwehntes Bankert“ ich sei.
Das Verhältnis zu meiner „bemmischen Großmutter“ war nicht gut. Sie zog meinen jüngeren Bruder vor, das „Jungerle“ wurde nach Strich und Faden verwöhnt und durfte auch das Essen verweigern.

Das blasse Kind wuchs heran, schaffte mit Ach und Krach die zwanzig erforderlichen Kilo und einmal mit dem Arm über dem Kopf bis zum Ohr fassen, was für die Einschulung erforderlich war. Neben der obligatorischen Schultüte gab es in dieser Gegend für die ABC-Schützen auch noch eine Schulbrezel, eine Riesenbrezel aus leicht gesüßten Hefeteig, so groß, das wir die Arme durchstecken konnten. Und eben diese Bretzel bestand meine Mutter noch am gleichen Abend anzuschneiden. Ich schrie Zeter und Mordio, wollte meine Bretzel doch aufheben, aber Mutti blieb unerbittlich. Es waren dicke Scheiben, mit Butter bestrichen und darauf Johannisbeergelee. Und meine Tränen verliehen dieser Mahlzeit eben genau diese kleine Prise Salz, die einen geschmacklichen Pfiff erzeugten, den ich so auch nie wieder finden konnte. Verziehen habe ich die „Schlachtung meiner Schulbrezel“ meiner Mutter lange nicht.

Was mochte ich in diesen Jahren als Grundschulkind überhaupt:
Würstchen mit Kartoffelsalat, Schnitzel Wiener Art, Eierpfannkuchen und Vanillepudding. Noch lieber den mit den winzigen Mandelsplittern und roter Himbeersauce darüber, Reis mit Zucker und Zimt, Eierpfannkuchen oder Omas unwiderstehliche Pflaumenknödeln, die sie mit Hefeteig zubereitete.
Vorzeichen für deren Zubereitung gab es immer schon Tage zuvor, nämlich dann, wenn Oma ein Pfund Quark in eine Mullwindel gab, diese zu einer runden Kugel drehte und gründlich ausquetschte. Dann wurde diese Quarkkugel noch zum Abtropfen an den Wasserhahn des Spülbeckens gehängt. Nach zwei Tagen war die Quarkkugel hart genug, um auf der Kartoffelreibe klein gerieben zu werden. Dieser „Reibekäse“ wurde über die Zwetschgen-oder Marillenknödel gestreut, darüber dann Zucker, zum Schluss zerlassene, goldgelbe Butter. Ein Hochgenuss, den perfekt nachzukochen mit auch nach jahrzehntelanger Recherche und Versuchen nicht gelungen ist. Der Quark von heute ist dazu nicht geeignet. Er wird nach dem Trocknen bitter, ungenießbar, schmeckt nicht.
„Da musst hoold an richdigen Dopf'n nehmen, mit aam richdigen Dopf'n würd’s schon gelingen“, raten mir meine österreichischen Freunde. Frage ist nur: Wo bekomme ich hier in Norddeutschland „an richtigen Dopfn“ her? Meine Oma wohnte im westfälischen Münster und benutzte einfachen Quark. Wenn sie bei uns zu Besuch war, holte sie ihn sich aus dem Milchladen unten in der Stadt.

Das nächste Stichwort: der Milchladen. Damals gab es noch richtige Milchgeschäfte, wo man sich Milch in der Kanne holte. Und diese Läden hatten auch einen ganz speziellen Geruch und auch ein ganz besonderes Personal, gut genährt und rotgesichtig, fast so wie beim Schlachter um die Ecke. Wo sind die rotgesichtigen Milchmädchen geblieben? Wo kann man heutzutage den ganz eigenen Geruch eines Milchgeschäfts noch erleben?
Unüberschaubar die Anzahl der in den Supermärkten angebotenen Milchprodukte, aber kann man sie riechen?
Versuchen Sie mal heutzutage einem Kind ein Glas Milch, direkt und frisch von der Kuh abgezapft anzubieten und es zu bewegen, das auch zu trinken. Unmöglich, einfach ausgeschlossen!

Der Milchladen hatte auch eine Art Filiale: das Milchauto, mit dem Vater und Sohn allmorgendlich die Wohngebiete der Kleinstadt abfuhr. Mit lautem Gebimmel wurde sein Ankommen verkündet. „Der Großstück ist da“, erklang der Ruf durch die Straßen. Die Türen der Häuser öffneten sich, die Hausfrauen strömten in Scharen herbei, um sich die frische Milch in blecherne Kannen oder 1 l Glasflaschen abfüllen zu lassen. Ja, es waren damals wirklich Scharen von Frauen, meist junge Mütter, deren Kinder in der Schule waren, die am späten Vormittag dankbar waren, am Milchauto Gelegenheit zu Klatsch und Tratsch zu haben. Denn der alte Großstück war immer bestens informiert, eine ideale Quelle.
Nein, berufstätige Mütter gab es damals nicht. Die einzige berufstätige Frau in der Straße war eine unverheiratete Lehrerin, zu der mein Vater ein freundschaftliches Verhältnis pflegte. Oder war es ein Bratkartoffelverhältnis? Meinen Vater hätte man wunderbar als einen typischen Vertreter der Fresswelle bezeichnen können. Aus dem schlanken athletischen Junglehrer einer einklassigen Dorfschule war zu Beginn der sechziger Jahre ein rundlicher Realschullehrer in Frankfurt geworden. Ein Pendler, was damals längst nicht so häufig war. Fiel sein Kontrollblick nach seiner Rückkehr aus der Großstadt auf den heimischen Abendbrottisch nicht zu seiner Zufriedenheit aus, ging er rüber „zu Rosemarie“, die Kollegin, die stets bereits war, ihm ein dickes Steak in die Pfanne zu hauen oder ihn sonst mit deftigen Köstlichkeiten zu verwöhnen. Diese regelmäßigen Besuche waren eindeutig das Indiz, dass die beiden „was miteinander hatten“.

Zumindest wurde ich mit dieser Behauptung immer wieder konfrontiert, konnte nur nichts damit anfangen. Der alte Großstück war tüchtig im Schüren von brodelnder Gerüchte. Man wusste es und zapfte ihn sehr gerne und genüsslich an.
Wir Kinder schätzten Großstück aus einem anderem Grund. Er machte das beste Eis der ganzen Welt. Dieser Auffassung bin ich immer noch. Das Erdbeereis von Großstück ist in Geschmack, Frische und Sahnigkeit nicht zu überbieten gewesen. Aber Speiseeis war damals ein Saisonprodukt. Am 15. April begann die Saison und endete am 15. September. „Beim Großstück gibt es schon Eis!“ Erklang dieser Ruf durch die Straße, erbettelten wir Kinder uns einen Groschen von den Erwachsenen und stürmten hinunter in die Stadt, um uns für zehn Pfennig eine Kugel auf die Waffel streichen zu lassen. Welch ein Genuss!

Für diesen Ausflug hatten wir Kinder zu Fuß eine Strecke zu überwinden, bei der heutige Mütter die Hände über dem Kopf zusammen schlagen würden. Niemals würden sie ihren Kleinen solch einen langen Marsch zu Fuß zumuten. Das Taxi Mama gab es noch lange nicht. So wenig wie die damaligen Mütter berufstätig waren, hatten sie einen Führerschein. Kinder, deren Mütter gezwungen waren zu arbeiten, erkannte man daran, dass sie stets einen Schlüssel an einem langen Band um den Hals trugen. „Schlüsselkinder“ wurden sie abschätzig genannt und hatten in der Gruppe der Sprösslinge der wohlanständigen Bürgerlichkeit einen schweren Stand. Um überhaupt Anerkennung zu finden, versuchten sie sich dann die Freundschaft zu kaufen. Die angebotenen Süßigkeiten wie Himbeerbonbons und Lakritz nahmen wir gerne an, futterten sie auf und gewährten dem Schlüsselkind aber dennoch keinen Zugang in unseren engsten Kreis, denn lange vor den „Wilden Hühnern“ hatten wir auch schon unseren eigenen Mädchenclub mit Aufnahmeritualen und strengen Gesetzen und Regeln.

„Dumm sein ist keine Schande, aber dumm bleiben“, ist eine dieser Regularien, die ich bis heute nicht vergessen habe, sondern meinen eigenen Töchtern predige.
Unsere Bleibe war der „Wutzestall“, ein ehemaliger Schweinestall ganz unten an der Kellerwand, der schon lange nicht mehr seiner ursprünglichen Funktion diente. Etwas knurrend hatte ihn uns „Großvati“, der Großvater meiner beiden Freundinnen, uns überlassen.
Das Haus hatte auch einen riesigen Garten mit einer Sandkiste, in der man herrlich matschen konnte. Es gab alte Apfelbäume, deren unreife Früchte uns Bauchkneifen verursachte und köstlich schmecktende Himbeeren und Erdbeeren. Wir wussten die Brennnesseln sehr wohl von den Taubnesseln zu unterscheiden, deren weiße Blüten wir abzupften und den süßen Nektar heraus sogen. Die Wiese im Garten war noch eine Wiese und kein Rasen, auf der auch Sauerampfer wuchs, dessen Verzehr einen stumpfen Geschmack im Mund hinterließ. Den Weg auf den Esstisch als Bestandteil der berühmten „Frankfurter Grie Soooß“ oder gar als feines Sauerampfercremesüppchen sollte er erst Jahrzehnte später wieder finden.
Die Küche jener Jahre erinnere ich als eine von gutbürgerlicher Langweiligkeit. „Keine Experimente!“, das Motto von dem ersten dicken Kanzler, dem ehemaligen Wirtschaftsminister Ludwig Erhard, galt auch für die Küche.

Natürlich bot sie auch Köstlichkeiten, nach denen sich heute noch das Herz verzehrt, beim Gedanken daran das Wasser im Munde zusammen läuft, man wehmütig an den guten Sonntagsbraten denkt, der mit Vorsuppe, Gemüse. Salat und Nachtisch serviert wurde. Ein „Wackelpeter“ war unser Kinder größtes Glück, wobei sich die Fraktion in Grün- und Rotanhänger teilte, Himbeere oder Waldmeister, Einigkeit bestand nur darin, dass darauf natürlich reichlich Vanillesauce gehörte.
Schweinebraten, Rinderschmorbraten, Gulasch, Kalbsnierenbraten, gespickter Rehrücken für den hohen Feiertag. Wo kommt dergleichen heute noch regelmäßig auf den Tisch? Höchstens bei Oma und Opa, obgleich Oma mittlerweile nicht mehr ganz so rüstig ist, und Opa schon gerne mal mit einer Tiefkühlpizza abspeist.
„Wann hat es bei euch denn zum letzten Mal selbst gemachte Rouladen zum Essen gegeben?“ habe ich neulich im Freundeskreis herum gefragt und erntete befremdete Blicke.

„Ich habe in meinem ganzen Leben noch keine Rouladen selbst gemacht“, war die eine Antwort. Es gibt noch mehr erstaunliche Aussagen, die in mir den Verdacht aufkeimen lassen, ein Auslaufmodell zu sein.
„Ich habe in meinem ganzen Leben noch niemals ein Schnitzel paniert, ich weiß gar nicht, wie das geht“, sagte mir eine Freundin schon vor Jahren.
„Deine Salatsauce schmeckt immer so köstlich. Wie machst du das. Ich habe noch niemals eine Salatsauce selbst angerührt, ich kaufe immer fertige Dressings“, sagt die andere.

Kalte Platte Hat sie niemals einen frischen Kopfsalat gegessen, der nur mit saurer Sahne und etwas frisch gepflücktem Schnittlauch direkt vom Gemüsebeet angemacht wurde? Nie den Kampf mit anderen Mitessern um die zartesten Blätter ausgefochten? Wer das heiß begehrte Herzchen erwischte, war König. Ach, es gibt so viele unwiederbringliche Genüsse und Erinnerungen.
Kinder wurden damals noch zum Bäcker geschickt, um frisches Brot zu holen. Kein einziges Mal kam der Brotlaib unversehrt zu Hause ein, denn ich konnte einfach nicht widerstehen. Jedes Mal wickelte ich das eingewickelte Brot aus seinem Papier. Es war noch warm und duftete sooooo gut. Mit einem kräftigen Biss die Zähne in den Kanten hinein gehauen und ein gutes Stück abgerissen. Und dann mit dem Zeigefinger in das Loch und die noch warme Krume herausgepult und genüsslich verzehrt.

Natürlich gab es zuhause „Schimpfe“, wenn ich mit dem lädierten Brotlaib in der Küche aufkreuzte. Aber die nahm ich in Kauf.
Vom Brot jener Jahre zum frischen Brötchen, das damals 5 Pfennige kostete, ist der Weg nicht weit.
Wenn ich jetzt jedoch noch den Abgesang auf den Verfall der Brötchenkultur anstimmte, säßen wir morgen früh noch hier. Deshalb höre ich an dieser Stelle lieber auf.


2017-01-06, Birgid Hanke, Wirtschaftswetter
Text + Fotos: ©Birgid Hanke
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