Wirtschaftswetter    Wirtschaftswetter-Schwerpunktthema - Tombola 2020

 

45.000 Jahre Training

Die Erfolge von künstlich-intelligenten Anwendungen wurden seit dem Milleniumswechsel ausgiebig gefeiert, doch die Fakten zum Ende der 10er-Jahre sprechen eher für einen noch weiten Weg zu intelligenten Systemen

von Angelika Petrich-Hornetz

Als einer der zur Zeit wichtigsten Köpfe in der Diskussion um KI und dem weltweiten Digitalisierungsbestreben gilt der forschende Franzose und Google-Mitarbeiter Francois Chollet, dessen kritische Beiträge nicht nur diejenigen Menschen beruhigen kann, die sich von maschineller Intelligenz längst überholt sehen, sondern die allgemeine Öffentlichkeit vielmehr wohltuend-realistisch wieder auf den Boden der Fakten setzt.

Blue Dingens

Die Welt horchte auf, als erstmals ein Computer namens "Deep Blue" einen amtierenden Schachgroßmeister schlug. Die erste menschlich verlorene Schach-Partie fand bereits anno 1996 unter großem medialen Furor statt. Bereits ein Jahr später musste sich Garri Kasparow bereits in einem ganzen Wettkampf in sechs Partien geschlagen geben.

Nicht nur bei Schachspielern sorgte das für eine Zäsur und gewisse Nachdenklichkeit. Die Weltöffentlichkeit staunte, zu was Maschinen, bzw. Programme alles in der Lage sind. Damit trieben die Spekulationen, zu was sie eines Tages erst noch in der Lage sein würden, ihre bis heute wirksamen Blüten.
Sicher ist seitdem aber nur eines geblieben: Die enorme Rechenleistung von Rechnern - so komisch es jetzt auch klingen mag - hat uns Menschen einiges erleichert - zu berechnen. U.a. können mit immer leistungsfährigeren Maschinen unzweifelhaft große Mengen an Daten ausgewertet werden, die ein Mensch allein oder auch mehrere zusammen kaum noch überblicken, geschweige denn in einem angemessenen Zeitrahmen richtig berechnen könnten. Das soll allerdings die herausragenden Leistungen der Mathematiker*innen in den Anfängen des Appollo-Mondflug-Programms der NASA nicht unterminieren, ganz im Gegenteil. Nur würde heute wohl auch kaum jemand noch auf die Idee kommen oder finanzieren können, ein paar tausend Mathematiker die Flugbahn des nächsten Weltraummission ohne die Unterstützung von Rechnern, allein per Hand berechnen zu lassen.

Jetzt noch schnell-schnell

Gleichzeitig blasen nicht nur Konzerne, Unternehmen, die IT-Branche und so gut wie sämtliche Regierungen zum Halali auf die Digitalisierung sämtlicher Lebensbereiche - und damit auch auf sämtliche Daten. Das sei längt überfällig, heißt es dabei weltweit unisono. Regelmäßig sei ein jeweils anderer Staate o.ä. schließlich grundsätzlich weiter, wird gern argumentiert . Man hinke sowieso hinterher, lassen Regierungen in ihren Pressekonferenzen gern mehrmals im Jahr verlautbaren. Und so werden in einem zum Teil ungesunden Eiltempo überall Anwendungen aus dem Boden gestampft, die handwerklich so einiges vermissen lassen, endlose Feherkorrekturen sind die bekannte Folge.

Auf den Teppich gesetzt

Wie jedes Jahr sorgte auch 2019 der traditionell Ende Dezember stattfindende - 2019 mit rund 16.000 Teilnehmern der bisher größte - Kongress des Chaos Computer Clubs (CCC) einmal mehr für die erhellende Erkenntnis, wie lückenhaft so viel Aktionismus dann später im Ergebnis aussieht und nicht nur die Sicherheit von Einzelnen, sondern im großen Stil gefährdet.
Vergangenes Jahr war Sichherheit bei weitem nicht das einzige Kongress-Thema, und so wies man eher nebenbei und wie selbstverständlich, nämlich ohne besondere Anstrengungen, Sicherheitslücken und Fehler bei weiteren "Biometrie-Bastionen" nach, ebenso beim Gesundheitskartensystem, das kurz zuvor in seiner angriffsfreundlichen Version allen Ernstes noch als unantastbar galt, beim Bundestrojaner , Gesichtserkennung-Software, den Vertriebswegen von Spionage-Software und wie so gut wie jedes moderne Auto ferngesteuert kann.

Jede/r ist Datenschützer/in

Mit steigendem Zulauf und Publikumswirksamkeit des Kongresses wächst, wenn auch immer noch zu langsam, die Erkenntnis in einer breiten Öffentlichkeit, dass Sicherheit kein Thema mehr nur für Datenschützer ist, in deren Abteilung man den Datenschutz einst vielleicht sicher glaubte, verbannen zu können, sondern, dass bei fortschreitender jeder zum Datenschützer wird, nämlich seiner eigenen und sämtliche aller anderen, mit denen er oder sie es im schnöden Alltag zu tun bekommen oder bekommen könnten.

Und was ist mit der Leistung?

Im Zug dieses Umdenkens, das mehr auf Fakten als Fiktion setzt, um Fortschritt zu gestalten, werden inzwischen auch die bisherigen Errungenschaften der KI wesentlich nüchterner betrachtet, als in den 2010er-Jahren - und damit zurück zu Monsieur Chollet, der dieser Tage in mehreren Beiträgen und Interviews zum Besten gab, dass es mit der künstlichen Intelligenz längst nicht so weit her ist, wie angenommen, sondern Maschinen immer noch nach dem uralten Prinzip ihrer immensen Rechnerleistung funktionieren.
Sein Vorschlag, der künstlichen Intelligenz darum - überfälligerweise ein Test-System zu verpassen, das ähnlich wie der Intelligenztest für Menschen funktioniert, kann daher nur begrüßt werden. Trotz aller berechtigten Kritik an vorhandenen Einschränkungen von Intelligenztests, wird wohl kaum jemand - Ausnahmen bestätigen die Regel - davon ausgehen, ungetestete Systeme sollten künftig auf ganze Gesellschaften zu deren maschineller Regulierung losgelassen werden. So bleibt uns einfach nichts anderes übrig, als sämtliche KI-Systeme genauso auf einen regelmäßigen Prüfstand zu stellen, wie alle Autos in die TÜV-Prüfung zu schicken.

An der nächsten Kreuzung sogleich den Holzweg verlassen

Immerhin geht es um solche kapitale Probleme, wie Chollet in einem Interview mit Technic Review, Heise-Verlag, sagte, dass aktuelle Systeme zwar spektakuläre Einzelleistungen vollbringen könnten, aber, Zitat "instabil und datenhungrig" sind, weil sie genauso wenig mit, (Zitat) "Situationen, die nur leicht von Trainingsdaten oder Annahmen ihrer Entwickler abweichen", wie mit, Zitat, "neuen Aufgaben" umgehen könnten.

So brauchte das KI-System, für das Spiel "Dota 2" u.a.. rechnerische 45.000 Trainings-Jahre (nicht Stunden), um überhaupt in der Lage zu sein, die besten menschlichen Konkurrenz-Spieler zu besiegen, um nur kurz darauf wieder von menschlichen Amateur-Spielern geschlagen zu werden, weil diese sich einfach eine neue Strategie ausdachten.

Der Unterschied: Menschen bewegen sich vom Allgemeinen zum Speziellen. Bedauerlicherweise führte der Weg von Maschinen - vom Speziellen zum Allgemeinen - bislang aber nicht zu einer allgemeinen Intelligenz. Das von Chollet vorgeschlagene Testsystem - "Abstraction and Reasoning Corpus (ARC)" kann aktuell keine einzige KI bestehen, aber es gäbe wenigstens eine Orientierung, wohin es gehen sollte, bevor man die Systeme auf eine Menschheit loslässt, die mit Stand vom Januar 2020 immer noch intelligenter ist als jede Maschine.

Step by Step mit Sicherheitsankern fortschreiten

Vor diesem Hintergrund wird auch noch ein ganz anderes Thema wieder wichtig, und zwar Dezentralisierung vernetzter Systeme nicht aus den Augen zu verlieren, damit die globale Menschheit im Zuge der allgemeinen Digitalisierung die grundsätzliche Möglichkeit behält, einen nicht besonders intelligenten Big Brother bei Bedarf jeweils abschalten oder umleiten zu können, bevor es zu spät ist. Und dank Chollet und Kollegen ist es das wohl auch noch lange nicht.

Bevor Sie also wieder einmal einer einsamen Verzweiflung angesichts dusseliger Anwendungen anheim fallen, was lediglich einen Hinweis auf die Intelligenz der Entwickler und nicht des Programms als solchem liefert, z.B. wenn Sie für den einfachen Brötchen-Einkauf zigtausende Daten liefern sollen, fangen Sie - gemäß der guten Vorsätze zum neuen Jahr - lieber damit an, gezielt in eine unabhängige, faktenfreundliche Forschung zu investieren, damit das menschliche Leben durch KI eines Tages tatsächlich einmal leichter - und eben nicht immer komplizierter und stressiger - wird. Kommen Sie in jedem Fall mit der sicheren Gewissheit, dass auch Sie persönlich mit 45.000 Jahren Trainingeinheiten zu einer echten Intelligenzbestie mutierten, schlicht und gut durchs neue 2020er-Jahrzehnt.

Weitere Informationen, Fachaufsatz, Francois Chollet, PDF, 64 Seite, Google, Inc: On the Measure of Intelligence

Artikel bei Technology Review, heise.de: KI: Noch dumm trotz viel Übung

 

2020-01-01, Text: ©Angelika Petrich-Hornetz, Wirtschaftswetter

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