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Gandhi-Interview mit Professor Rothermund

Professor Dietmar Rothermund, emerierter Professor für Geschichte Südasiens an der Universität Heidelberg und für viele Jahre Direktor des dort ansässigen Südasieninstituts, vermittelt und vertieft als Autor eines beindruckenden wissenschaftlichen Werks, als Herausgeber sowie als Ansprechpartner und Ratgeber für zahlreiche Organisationen und nicht zuletzt für die Medien das Wissen über Indien einer breiten Öffentlichkeit in Deutschland. Für das Wirtschaftswetter beantwortete Professor Rothermund Fragen zum Leben und Wirken eines der größten Söhne Indiens: Mahatma Gandhi
Die Fragen stellte Angelika Petrich-Hornetz

Wirtschaftswetter: Herr Professor Rothermund, wie würde Gandhi das Indien von heute wohl gefallen?

Professor Dr. Rothermund: Es würde ihm sicher nicht gefallen. Die Fortschritte in der Industrialisierung, die Gandhi nicht begrüßte, haben das Leben auf dem Dorf, auf dessen Verbesserung es Gandhi ankam, nicht wesentlich verbessert. Gandhi konzentrierte sich auf die moralische Leistung des individuellen Menschen. Gesamtgesellschaftliche Analysen waren ihm fremd. Daher konnte er sich auch nicht mit der Frage beschäftigen, wie man eine Milliarde Menschen ohne Industrialisierung voranbringen kann.

Wirtschaftswetter: Überall auf der Welt gilt Mahatma Gandhi als moralische Instanz, als ein Synonym für Güte und Freiheit und ist untrennbar mit der Unabhängigkeit Indiens verbunden. Trotzdem wurde seine Beteiligung an letzterer immer wieder von wechselnden Autoren angezweifelt, hier und dort die Unabhängigkeit lediglich als eine Folge von historischen Ereignissen bezeichnet, in denen Gandhi eine untergeordnete Rolle gespielt hätte. Indien als eigenständiger Staat wäre demnach auch ohne Gandhi irgendwann entstanden. Was ist dran - wie weit ist der Prozess der Unabhängigkeit Indiens mit der Person Mahatma Gandhis verbunden und wo beginnt der Mythos?

Professor Dr. Rothermund: Sicher hätte Indien irgendwann auch ohne Gandhis Einsatz seine Freiheit erhalten. Die Briten wären nicht auf die Dauer in der Lage gewesen, ihre Kolonialherrschaft fortzuführen. Sie wussten, dass sie Indien mit Gewalt nicht regieren konnten und versuchten, ihren Kolonialstaat als Rechtsstaat zu präsentieren. Hier setzten Gandhis gewaltfreie Protestaktionen an. Er rekrutierte Tausende von Freiheitskämpfern und schuf mit dem Nationalkongress eine Organisation, die die Macht übernehmen konnte. Er selbst hatte freilich vorgeschlagen, den Kongress als politische Organisation nach der Erlangung der Unabhängigkeit aufzulösen. Doch der Kongress überlebte ihn und ermöglichte eine Form der Dekolonisierung, die in den meisten anderen Ländern, die aus der Kolonialherrschaft entlassen wurden, nicht erreicht wurde. Die frühe Dekolonisierung Indiens war ein Signal, das die weltweite Dekolonisierung auslöste.

Wirtschaftswetter: Ein weitere Kritik an dem wegweisenden Philosophen lautet, Gandhi habe sich während seiner Jahre in Südafrika ausschließlich um die Rechte des indischen Teils der Bevölkerung gekümmert, nicht jedoch um den schwarzafrikanischen. War Ghandi auch in Südafrika auf Indien fokussiert?

Professor Dr. Rothermund: Gandhi ist in Südafrika erst allmählich in seine Rolle als Führer der indischen Minderheit hineingewachsen. Zunächst hatte er es nur mit seinen Landsleuten, den Gujaratis, zu tun. Doch dann überwand er durch persönlichen Einsatz die Kluft, die die Gujaratis von den Tamil-Kulis in den Zuckerplantagen trennte. Er sympathisierte auch mit den Zulus, und als er das indische Sanitätskorps zur Zeit des Zulu-Aufstands organisierte, versorgten er und seine Leute auch die verwundeten Zulus. Ja, er sagte sogar, nur dies habe seinen Einsatz gerechtfertigt. Allein als Sanitäter der Weißen, die den Aufstand niederschlugen, hätte er nicht arbeiten wollen. Die Erlebnisse im Zuluaufstand bewogen ihn dazu, sein Keuschheitsgelübde zu leisten und sich ganz den Gemeinschaftsaufgaben zu widmen. Dass er den Zulus nicht helfen konnte, sich politisch zu organisieren, lag daran, dass er keinen Zugang zu ihrer Kultur hatte und ihnen fremd bleiben musste.

Wirtschaftswetter: Warum lehnte Gandhi die Teilung Indiens (1947 in Indien und Pakistan) vehement ab und bezeichnete diese als geistige Tragödie?

Professor Dr. Rothermund: Die Teilung war das Resultat eines auf die Spitze getriebenen territorialen Nationalismus, den Gandhi ablehnte. Er war ein Freiheitskämpfer, aber kein Nationalist im territorialen Sinne. Indien wurde erst durch die Forderung nach Pakistan (Zwei-Nationen-Theorie Jinnahs) mit dem territorialen Nationalismus konfrontiert. Wie unwissend Gandhi in bezug auf den territorialen Nationalismus war, zeigte seine Überraschung, als ihm mitgeteilt wurde, dass die Teilung auch eine Teilung der britisch-indischen Armee zur Folge haben müsse. Er reagierte allerdings sofort auf diese Mitteilung mit der Voraussage, dass die beiden Armeen dann gegeneinander kämpfen würden, was denn auch bald eintrat.

Wirtschaftswetter: Gandhi sagte, die persönliche Freiheit sei eine Voraussetzung für die politische Freiheit des Staates. Wie frei ist das Indien der Gegenwart?

Professor Dr. Rothermund: Wie zuvor gesagt, dachte Gandhi vor allem an die moralische Haltung des einzelnen Menschen. Die Idee vom Staat als Schule der Nation, wie Nehru sie vertrat, war Gandhi fremd. Für Gandhi erwuchs die politische Freiheit und damit auch der Staat aus der Selbstbeherrschung des einzelnen Bürgers - seine Gleichung: Swaraj (politische Freiheit) = Selbstbeherrschung. Das ist eine Idealvorstellung, die man als regulative Idee betrachten kann, die man in der Praxis kaum erreichen kann. Im normalen Sinne des territorialen Nationalismus ist Indien frei, im Sinne Gandhis aber immer noch nicht.

Wirtschaftswetter: Mahatma Gandhi war nicht der einzige, der den Verzicht auf Gewalt predigte und dennoch eines gewaltsamen Todes starb. Wer empfindet ausgerechnet friedliebende Menschen wie Gandhi als Gefahr?

Professor Dr. Rothermund: Gandhi wurde von einem Vertreter des territorialen Hindu-Nationalismus ermordet, der Gandhis Einsatz für eine gerechte Teilung der Staatskasse zwischen Indien und Pakistan als Hochverrat empfand, weil Indien sich zu diesem Zeitpunkt bereits im Krieg mit Pakistan empfand. Dass Gandhi ein friedliebender Mensch war, spielte in diesem Zusammenhang nur insoweit eine Rolle, als er mit seiner Methode des gewaltfreien Protest in der Lage war, hier der Gerechtigkeit – so wie er sie sah - zum Sieg zu verhelfen. Ähnliches könnte man von Martin Luther King sagen, dessen Hochverrat darin bestand, dass er die Vormacht der Weißen in den USA nicht anerkannte und mit seinem Gerechtigkeitssinn gewaltfrei dagegen anging.

Wirtschaftswetter: Der junge Anwalt Mohandas Karamchand Gandhi galt wegen seiner Schüchernheit und Nervosität als schlechter Rhetoriker, beim älteren Mahatma Gandhi ist davon nichts mehr zu spüren, wenn er zu seinen Anhängern sprach und das waren ja nun auch nicht gerade wenige. Wie vollzog sich dieser Wandel?

Professor Dr. Rothermund: Hier gilt die alte Regel, dass der Mensch mit seinen Aufgaben wächst. Das Studium in England hatte Gandhi zwar theoretisch aber nicht praktisch auf seine Arbeit als Rechtsanwalt in Indien vorbereitet. Daher fühlte er sich in Indien unsicher. In Südafrika war er der einzige indische Rechtsanwalt und entdeckte bald seine Fähigkeit, zwischen streitenden Parteien zu vermitteln. Die drohende Aberkennung des Wahlrechts der indischen Minderheit wurde zur Herausforderung für seinen Gerechtigkeitssinn, der eine treibende Kraft für seinen Handlungen war. Das machte ihn zum Kämpfer und so gewann er eine Stimme, die er immer dringlicher erhob. Gandhi war zwar zu Anfang seiner Karriere schüchtern und nicht gut im mündlichen Vortrag. Er war aber schon immer sehr gut in der schriftlichen Formulierung seiner Argumente. Mit wachsendem Selbstvertrauen konnte er diese Fähigkeit auch in seinen Reden nutzen. Seine meisten Reden waren übrigens kurz, aber inhaltsreich. Er verachtete den nutzlosen Wortschwall und sah zu, dass die Resolutionen des Nationalkongresses unter seiner Führung klare Handlungsanweisungen enthielten.

Wirtschaftswetter: Die Lehren Gandhis sind lebendiger denn je, doch sind diese in demokratischen Gesellschaften auch etabliert?

Professor Dr. Rothermund: Gandhis Lehren sind ganz besonders in demokratischen Gesellschaften relevant. Gandhi glaubte an einen auf Gerechtigkeit aufbauenden demokratischen Rechtsstaat. Sein gewaltfreies Wirken in Britisch-Indien war nur möglich, weil die Briten (daheim) auch an einen solchen Rechtsstaat glaubten und vorgaben, ihn auch in Indien errichtet zu haben. Ein Diktator wie Hitler hätte Gandhi im Konzentrationslager verenden lassen. Eine Demokratie muss auch ein Widerstandsrecht zulassen (siehe J. Rawls, A Theory of Justice). Insofern ist Gandhis Erbe für alle demokratischen Gesellschaften relevant.

Wirtschaftswetter: Ghandi vertrat auch das Prinzip der Leidensfähigkeit. Dieses wiederrum beinhaltet u.a. dem Übeltäter nicht persönlich böse zu sein, sondern auschließlich dessen Taten abzulehnen und damit zwischen dem Menschen und dessen Auffassung zu unterscheiden. Wie weit ist dieser Gedanke in der indischen Gesellschaft verbreitet?

Professor Dr. Rothermund: Gandhis Vertrauen in das Gute im Menschen, das bei einem Übeltäter sozusagen nur verschüttet ist, aber durch gewaltfreien Widerstand erweckt werden kann, leitete sein Handeln. Dazu musste aber der Übeltäter der gewaltfreien Konfrontation nicht ausweichen können. Für Gandhi war dann die Atombombe als anonyme, ferngesteuerte Gewalt höchster Potenz, eine existenzielle Herausforderung. Er nannte die Bombe den Ausdruck der Gewalt der Feigen.

Wirtschaftswetter: Eine von Gandhis wichtigsten Lehren ist das Festhalten an der Wahrheit (Satyagraha), die er detailiert beschrieben und immer wieder zitiert hat. Können Sie unseren Lesern kurz erklären, was Festhalten an der Wahrheit im Unterschied zu anderen Konzepten von Gewaltlosigkeit bedeutet?

Professor Dr. Rothermund: Die Wahrheit (Satya) war für Gandhi der Urgrund des Seins (Sat) und nicht einfach nur der Inhalt einer wahren Aussage. Das Festhalten an der Wahrheit war für ihn ein existenzieller Vorgang. Es hatte zum Ziel, den Gegner zu überzeugen. Daher musste man gewaltfrei vorgehen, denn mit Gewalt konnte man nur zwingen und unterdrücken, nicht aber überzeugen. Wenn das, woran man gewaltfrei festhielt, sich als unwahr herausstellte, hatte man sich nur selbst geschadet. Zur Durchführung wahrhafter Aktionen empfahl Gandhi das Ablegen eines Gelübdes, das das Festhalten an dem gewählten Pfad zu Gegenstand hatte. Er verglich das Gelübde einmal mit dem rechten Winkel, der die Statik eines Gebäudes sichert. So ist auch zu erklären, dass Gandhi seine Autobiografie mit dem Titel Meine Experimente mit der Wahrheit versah. Seine Wahrheit konnte man nur durch existenziellen Einsatz erkunden.

Wirtschaftswetter: Seit Gandhis Tod scheinen sich Krieg und Terror nicht verringert zu haben. Indien und Pakistan sind heute Atommächte, andere schicken sich an es zu werden. Gandhi und Einstein sollen großen Respekt voreinander gehabt haben. Hat Mahatma Gandhi trotz der offensichtliche Zunahme von Gewalt und einer latent vorhandenen atomaren Bedrohung unsere Gegenwart verändert?

Professor Dr. Rothermund: Gandhis Ziele sind gerade deshalb weiterhin relevant, weil sie noch nicht erreicht worden sind. Wäre er nur ein Freiheitskämpfer im Sinne des territorialen Nationalismus gewesen, dann hätte man sein Ziel mit der Erlangung der indischen Unabhängigkeit als erreicht betrachten können. Seine Botschaft richtete sich aber nicht nur an Indien, sondern an die ganze Menschheit. Die atomare Bedrohung hat ihn zutiefst erschüttert, und er hätte wohl zutiefst bedauert, dass auch Indien zur Atommacht geworden ist. Unsere Gegenwart hat er wohl nur insofern verändert, als er gezeigt hat, dass man mit seinen gewaltfreien Methoden politisch handeln kann. Dass die Menschheit noch immer den Weg der Gewalt geht, konnte er nicht verhindern.

Professor Rothermund verstarb am 9. März 2020 im Alter von 87 Jahren. Anm.d.Red.

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Und die politische Biografie Mahatma Gandhis von Prof. Rothermund:
Mahatma Gandhi

Die Autobiografie Gandhis, basierend auf Artikeln aus den zwanziger Jahren, vor seinem Eintritt in den Nationalkongress (INC)
Eine Autobiographie oder Die Geschichte meiner Experimente mit der Wahrheit

2006-04-11 Angelika Petrich-Hornetz, Wirtschaftswetter
Text: © Angelika Petrich-Hornetz und Gesprächspartner Prof. Dr. Dietmar Rothermund
Foto: © Prof. Dr. Rothermund
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