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Meine indische Freundin

.. und was wohl mit dem neuen Zuwanderungsgesetz nicht aus ihr geworden wäre
von Angelika Petrich-Hornetz

Gerade wurde das neue Zuwanderungsgesetz verabschiedet. Die einen kritisieren es, die anderen loben es. Ich kann nur eine Geschichte erzählen, eine, die Deutschkenntnisse vor der Einreise mit einem großem Fragezeichen versieht.

Ich hatte einmal eine indische Freundin. Wir lernten uns während unserer Ausbildung kennen, die wir, viel später, beide mit sehr guten Noten abschließen sollten. Der Unterschied zwischen ihr und mir: Sie konnte am Anfang der Ausbildung so gut wie kein Wort Deutsch.

Es war wohl ein Zufall oder vielleicht doch keiner, dass wir uns anfreundeten. Ich saß ganz hinten, das hat drei handfeste Gründe: Ich bin nicht gerade klein und behalte gern den Überblick. Und ich habe gern meine Ruhe, wenn ich lernen will. So saß ich dort, oberpünktlich - typisch deutsch - an dem Schultischchen und schaute neugierig dem Treiben der sich einfindenden Klassenkasper der ersten Reihe und den weiteren, nacheinander eintreffenden Auszubildenden zu.

Plötzlich sprach mich jemand leise von der Seite an: Iss heiiiir noooooch freeeeeh? Ja, sagte ich freundlich, setz dich, hier ist noch frei. Von da an sollten wir während unserer Ausbildung, lediglich unterbrochen von den vielen Einsätzen in verschiedenen Abteilungen, unzertrennlich bleiben.

Sie setzte sich und lächelte, fast durchgehend, wie mir schien. Die asiatische Freundlichkeit in Person. Wenn sie stand, war sie fast genauso groß wie ich - wenn ich saß. Wenn sie etwas sagte, musste ich mich bücken, und sie stand ständig auf Zehenspitzen. Den Singsang ihrer Worte habe ich bis heute noch im Ohr und muss bei dem Gedanken daran – lächeln.

Kaum, dass sie saß, legte sie sich sorgfältig einen Block, einen Stift und ein Lexikon Hindi-Deutsch - in die linke obere Ecke des Schultisches- zurecht. Aha, dachte ich, eine Ordnungsfanatikerin. Von der könnte ich unter Umständen – meine Manie mit der Pünktlichkeit hin oder her – durchaus noch etwas lernen. Und ganz genauso sollte es auch sein. Sie war meine Schülerin, aber auch meine Lehrerin. Ich lernte u.a., dass Verlass und Vertrauen unverkäufliche Waren sind, mit Freundlichkeit mehr erreicht wird, dass das Wort zählt und endlich auch verspätet: die deutsche Grammatik.

Ihr Deutsch war in den ersten Tagen hundsmiserabel und in dieser Zeit hielt sie sich noch ganz bewusst zurück. Ich merkte zunächst nichts von ihrer Beobachtungsgabe. Sie beobachtete mich, sie blickte konzentriert auf jeden Dozenten, sie hörte jedem Kollegen aufmerksam zu und beobachtete, wie diese miteinander umgingen und redeten. Erst als sie feststellte, dass ihre Umgebung ihr freundlich gesonnen war, legte sie los: Sie fragte. Sie fragte und fragte und fragte. Sie fragte mich Löcher in den Bauch. Sie nervte. Dabei war sie die deutsche Schroffheit gewohnt. Und zu meiner Schande muss ich gestehen, sehr selten, doch ab- und zu wies ich sie ab, wenn ich gerade selbst damit beschäftigt war, irgend etwas, was da gerade vorne an der Tafel passierte, zu verstehen.

Ich hoffe inständig, ich war nicht zu schlimm, denn in Wirklichkeit liebe ich Nervensägen. Und die Wissbegierigen unter ihnen mag ich besonders gern. Ich fühle mich geradezu geehrt, wenn eine dieser wissbegierigen Nervensägen, die in der Welt herumlaufen und mit der ich in diesem Fall offensichtlich konfrontiert war, ausgerechnet mich auswählt, um auf ihrem Weg (nach oben) noch ein paar wichtige Details zu erfahren.

Sie wollte alles wissen: Was heißt dies, was heißt das, und wie in dieser oder jener Form? Warum ist dieses Wort männlich und nicht das andere, wie ist die Steigerungsform, und wie der Konjunktiv? Wie formuliere, frage, sage, bewerbe ich dies oder das, wie drücke ich jenes aus? Was meint der Dozent damit, wenn er dies oder das sagt? Ich hielt mich eine Weile noch wacker, nämlich für intelligent. Doch je mehr sie fragte, desto mehr wurde mir bewusst, wie wenig ich selbst wusste.

Sie rückte die Relationen zurecht und warf ihre Lehrerin unweigerlich auf den Boden der Tatsachen zurück. Ich hatte nicht den blassesten Schimmer von deutscher Grammatik. Es handelte sich lediglich um meine Muttersprache, jeden Satzaufbau konstriuierte ich intuitiv, weil ich ihn mein Leben lang gehört hatte. Sie war eindeutig beschlagener und schneller als ich. In jedem Test würde sie mich schlagen, eines Tages das wusste ich einfach, denn soviel konnte sie inzwischen in meiner Sprache plaudern, dass man ihr emsig arbeitendes Gehirn funkeln sah.

Es wurde spannend: Ich lernte durch sie Deutsch, wie sie durch mich. Ohne jeden Zweifel, war sie das, was man ausgeschlafen nennt, immer abrufbereit, immer einsatzfähig und immer wach – ganz im Gegensatz zu mir. Bin ich jemals wirklich vor halb elf Uhr wirklich ausgeschlafen gewesen? Solche Fragen stellten ich mir plötzlich. Nur gut, dass meine Umwelt bislang auch mit einem Teilstück von mir, meiner halbwachen Anwesenheit zufrieden gewesen war. Irgendwann war es Fakt und nicht mehr schönzureden: Ich saß ganz offensichtlich neben einem Genie, einem Genie, das kein Deutsch konnte - zunächst.

Also, musste ich mich anstrengen. In der Schule hatte ich aus nicht mehr erinnerbaren Umständen einen Großteil grammatikalischer Regeln verpasst (der aufmerksame Leser hat’s längst gemerkt). So versuchte ich es damals, in frühen Jahren, behelfsmäßig mit dem Englischen, übersetzte ständig für mich hin- und her. Aus der Not eine Tugend machen. Das konnte ich dann auch meiner Deutsch lernenden Banknachbarin erklären, denn sie sprach fließend Englisch. Allerdings bestand ausgerechnet sie (!) darauf, dass wir ausschließlich in Deutsch kommunizierten. Inzwischen bin ich sicher, dass sie keineswegs die einzige Einwanderin ist, die vom Ehrgeiz, unsere so schöne wie komplizierte Sprache zu beherrschen, geradezu zerfressen ist. Wer Sprache als solche liebt, der weiß genau, was ich meine.

Ich tat mein Bestes, und nach einer Weile waren wir Freundinnen, die viel Spaß miteinander hatten. Sie erzählte mir von sich, von ihrem Weg nach Deutschland, von ihrer Heimat, ihrer Familie, ihre Vorgeschichte, warum sie diese Ausbildung machen wollte. Eines Tages wurde ich von ihr zum Essen eingeladen, nach Hause. Es war das vorzüglichste Mahl, dass ich je gesehen (eine Augenweide) und gegessen habe. Dabei sollte es die Standardküche gewesen sein - ein stinknormales Abendessen - mit rund zehn Gängen. Während wir aßen und kichernd Konversation betrieben, wusste ich, dass ich nichts mehr für Sie tun konnte. Sie sprach jetut fließend Deutsch, und korrekter als ich. Und besser kochen konnte sie auch noch.

Nach genau einem Jahr war das Wörterbuch von unserem Tisch verschwunden. Meine indische Freundin hatte innerhalb von einem Jahr fließend Deutsch sprechen und schreiben gelernt. Wäre das für sie in ihrer Heimat Indien möglich gewesen? Wohl kaum. Ihre Familie war arm. Von ihren gebrochenen, sehr schwer verständlichen zwanzig Wörtern war nun nichts mehr hörbar. Sie hatte sich innerhalb dieser für mich – ich lerne ja immer noch Deutsch – erstaunlich kurzen Zeit einen gewandten alltags- und berufstauglichen Wortschatz erarbeitet, der mit rhetorischen Spitzen sowie Fachausdrücken unseres Berufes nur so gespickt war. Deutsch als Fremdsprache aus allernächster Nähe – das muss man erst einmal erlebt haben, um Hochachtung vor jedem entwickeln zu können, der das auf sich nimmt. Das einzige, was sie behielt, war dieser weiche Singsang, mit dem sie Nuancen in unsere wunderschöne Muttersprache brachte, die uns beide zum Lachen brachten. Schließlich hatte sie auch noch einen feinen Humor.

Nach unserer Prüfung versuchten wir noch eine gute, ganze Weile den Kontakt zu halten, doch das war nicht leicht bei unseren langen, unregelmäßigen Arbeitszeiten. Später kamen Heirat und Kinder dazu, der ein oder andere Umzug und irgendwann verloren wir uns dann leider aus den Augen. Ich hörte später, dass sie eine Aufstiegsfortbildung absolviert hatte. Es wird bestimmt nicht die letzte gewesen sein. Sie war einfach sehr gut. Sie war ehrgeizig und neben vielem anderen, hat sie mir höchstpersönlich beigebracht, das mangelnde Deutschkenntnisse an sich, niemanden daran hindern müssen, Deutsch in Deutschland zu lernen, und – wer es so will - als sozialversicherungspflichtig Beschäftigte dem Land später das Mehrfache zurückzugeben, was dieses einst für seine ehemalige Zugereiste getan hatte.

Mit dem neuen Zuwanderungsgesetz hätte meine Freundin vielleicht keine Chance mehr zur Einreise gehabt, und das wäre ganz sicher ein Nachteil, sogar ein sehr großer Verlust, nämlich für uns, die ganze Gesellschaft, denn meine alte Freundin, soviel ist sicher, die war und die ist bestimmt auch heute noch eine Vertreterin deutscher Tugenden: Pünktlich, korrekt, sehr gut ausgebildet, ein regelrechtes Arbeitstier, mit dem gesunden Ehrgeiz, jede Aufgabe besonders gut zu erfüllen, dabei weder selbstverliebt noch eingebildet, sondern eher bodenständig. Das ist doch eigentlich typisch deutsch, oder?


2007-06-15 Angelika Petrich-Hornetz, Wirtschaftswetter
Text + Grafik: ©Angelika Petrich-Hornetz

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