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von Juliane Beer

Das Café liegt in der Einflugschneise. Leer ist es hier. Einer, hager, Ende vierzig, rührt entspannt in seinem Teeglas, hat ein Notizheft vor sich auf dem Tisch liegen, auch seine Lesebrille und ein Buch, das in braunes Packpapier eingeschlagen ist. Jetzt noch Zigaretten aus der Jackentasche, einzelne, die er untersucht und wieder in Form zieht.
„Der!?“, denkt sie. Gerade hat sie sich bei dem Gedanken ertappt, er möge es doch sein, so gelassen, wie er da sitzt. Oder besser nicht?! Dünne Menschen haben ihr noch nie gefallen.
Der Mann hat seine Brille aufgesetzt, sein Buch aufgeschlagen. Übertrieben gelassen.

Dahinter steckt Unruhe, befürchtet sie. Oder Routine. Heiratsschwindler nannte man das früher. Aber sie ist nicht reich und hatte das auch gleich beim ersten Telefonat erwähnt. Die Stimme am anderen Ende der Leitung atmete durch - und gestand das Gleiche.
Sie war plötzlich sehr enttäuscht gewesen, nicht etwa darüber, dass es sich um keinen reichen Mann handelte, mit dem sie telefonierte, Geld war unwichtig; sie war enttäuscht gewesen über seine Art, darüber zu sprechen, ganz so, als meinte er, sich keine Mühe geben zu müssen, sie zu beeindrucken. Während er fortfuhr zu erzählen, dass er in seinem Beruf keine Anstellung mehr gefunden hatte und jetzt eben Gutachten erstellte, Neuköllner Wohnungen vor der Zwangsversteigerung besichtigte, damit aber ganz zufrieden sei, ließ sie den Inhalt ihrer Briefe Revue passieren. War er sich ihrer so sicher gewesen nach nur zwei Briefen? Hatte er daraus Schlüsse gezogen, gedacht, eine Frau Ende vierzig, gute Ausbildung, schlecht bezahlter Job bei den Berliner Verkehrsbetrieben, keine Kinder, ein paar Freunde hier und da, Mitglied in einem Frauen-Fitness-Studio, seit fast drei Jahren allein lebend, könnte kaum mehr anspruchsvoll sein? Elend war ihr geworden, während er weiter sprach, von Gutachten berichtete, zugab, dass er abends, nach der Arbeit, auch allein sei.
Auch allein!? Sie hatte ihm nicht geschrieben, dass sie sich allein fühlte. Selbst wenn es so wäre.

Ihre Wohnung könnte das Ergebnis eines Missverständnisses zwischen Architekt und Handwerker sein. Unter ihr, im ersten Stock, liegt hier die Wand des größten Zimmers. Kein Fenster, auch keines, das nachträglich zugemauert wurde. Im dritten und im vierten Stock ebenso wenig. Großzügige Wohnungen, ein Raum, um den sich, nach südländischer Art, mehrere kleine Zimmer gruppieren. Die Fenster gehen alle nach Westen raus.

Nur ihre Wohnung hat dieses zusätzliche Fenster, Blick auf den Lieferantenparkplatz, Stacheldrahtrollen unter der Fensterbank, als würde der Elektromarkt heikle Ware empfangen. Sie hat ihre Neugierde längst abgezogen und Blumenkästen außen unter die Fensterbänke montiert. Zwei sind es nur; ihre Wohnung muss einmal geteilt worden sein. Übrig geblieben sind für sie ein Zimmer und Küche; das Bad hat einen Lüftungsschacht.
Der Herbst kommt und wirbelt Blütenblätter zwischen die Stacheldrahtmaschen.
Sie sieht den Lieferanten zu. Und warum tragen die weiße Kittel? Ärzte in Kitteln, gut, oder Leute, die mit Lebensmitteln hantieren. Aber Lieferanten?!
Sie wiegt sich verwundert im offenen Fenster, der Herbst kommt dieses Jahr ziemlich spät, wieder und wieder ein Tag, an dem es Sommer ist, wie eine Entschuldigung kommt ihr das vor, sie hatte so gewartet auf die Serie von heißen Tagen, an denen keiner etwas von ihr verlangen würde – diese Hitze! -, an denen sie ganz sichtbar im weit geöffneten Fenster sitzen dürfte, sogar den Lieferanten zulächeln könnte; nichts anderes hätten die gedacht, als dass diese Hitze in der Großstadt eben alle verrückt und übermütig machte. Die heißen Tage kamen nicht. Dafür jetzt diese Rückfälle, aber die Luft ist schon schwer. In der Küche trocknet die Wäsche am Spind langsam, diesen Winter wird sie sich eine Schleuder kaufen, sie muss. Der Dachboden ist nicht mehr zugänglich, seit einem Jahr, zumindest nicht für sie. Verkauft und ausgebaut. Bei den Ausbauarbeiten hatte es einen Toten gegeben, der Fußboden war morsch gewesen, nachdem jahrelang die Wäsche von zwölf Mietparteien hier ausgetropft war; ein Handwerker stürzte durch die morschen Dielen in den vierten Stock hinunter. Er war sofort tot, das Geschrei groß. Tagelang.
Sie hatte gehofft, die neuen Mieter würden sich die Sache daraufhin noch mal anders überlegen und ihr den Dachboden lassen. Sie wohnte hier immerhin seit einundzwanzig Jahren, hatte sie da keine Rechte? Wohl nicht.
Die neuen Mieter, drei junge Männer, ließen neuen Boden legen. Bald darauf waren sie eingezogen. Niemand im Haus schien etwas dagegen zu haben, fast schien es ihr, als wäre es allen gleichgültig. Erstaunen konnte sie das nicht. Sie waren gleichgültig, die Mieter dieses Hauses. Und rücksichtslos, das gehörte zusammen. Gingen und kamen, zu jeder Tages- und Nachtzeit, in Gedanken sonst wo. Stürzten durchs Treppenhaus, dass bei ihr die Türrahmen vibrierten. Schrieen ihre Kinder an oder ließen sie schreien. Fernsehgeräte liefen bis spät in die Nacht.
Jetzt im Sommer, wo Tag und Nacht alle Dachgeschossfenster offen stehen, kann sie hören, dass die drei Männer zufrieden sind da oben. Musik, Gäste, Unterhaltungen und Gelächter.
Und sie? Vielleicht eine Kontaktanzeige?
Auf jeden Fall wird sie sich einen Wäschetrockner kaufen müssen.

Er aber hatte sich nicht gescheut, zu gestehen, dass er sich allein fühlte, was bedeuten konnte, dass er keine Freunde hatte, was wiederum kein gutes Licht auf ihn warf – doch allem Anschein nach hielt er es gar nicht für nötig, sich vor ihr in ein gutes Licht zu rücken. Vor einer Frau Ende vierzig, warum?
Der hagere Mann lässt sein Buch sinken und gibt der Kellnerin ein Handzeichen, sie weiß gleich Bescheid; hinter der Theke brüht sie ihm einen frischen Tee auf. Wasserdampf steigt zischend an die Decke. Dann ist da noch ein zweiter Tisch besetzt, zwei Mädchen teilen sich ein Stück Kuchen, die Mädchen sind beide sehr hübsch, kurz vor dem Erwachsenwerden, ihre Schulmappen haben sie nachlässig unter die Stühle geworfen.
Wenn er jetzt hereinkäme – sein Blick würde zuerst wohlgefällig die Mädchen streifen, die langen Haare über den Stuhllehnen, dann würde er zu dem lesenden, hageren Mann schauen, aha!, einer, der ein wenig unter Menschen sein will, verständlich, allein sein macht die Leute komisch, aber schleichend. Lieber vorbeugen. Eine Frau suchen. Wenn man den ganzen Tag nur in diesen widerlichen Wohnungen steht, Gutachten schreibt, wie soll man da eine Frau kennen lernen? Und abends? Man könnte eine Anzeige formulieren.
Gleich halb sechs, in jedem anderen Café ist um diese Uhrzeit was los, die Leute gehen nach Feierabend noch auf einen Kaffee, die Leute trinken etwas, bevor sie zu Abend essen oder sitzen bereits seit Stunden hier, weil sie frei oder Urlaub oder keine Arbeit haben.
Patio In diesem Café sind nur zwei Tische besetzt, das Café ist ja auch nicht schön, es hat keine Atmosphäre, wie man so sagt. Und außerdem: Tempelhof! Was für ein Stadtteil!
Zweckmäßigkeit und ein Flughafen.
Er hatte es vorgeschlagen, das Café in Tempelhof, sie kannte es gar nicht, weder das Café noch Tempelhof, hatte aber eingewilligt. So begreift sie erst jetzt, dass er sie in ein nichtssagendes Café bestellt hat, unter dem Vorwand, hier sei es schön ruhig. Sicher. Schön ruhig ist es hier, sieht man davon ab, dass gerade ein Flugzeug übers Dach donnert. Hätte er auch eine attraktive Dreißigjährige in ein schön ruhiges Café bestellt?
Die Kellnerin lächelt und rückt ihr einen Stuhl zurecht, immerhin steht sie ihr schon eine ganze Weile im Weg.
„Danke, ich erwarte noch jemanden!“, überlegt sie zu sagen, obwohl das kein Grund wäre, sich nicht erst mal hinzusetzen.

Sie sagt es nicht, setzt sich auch nicht hin, ein selbstbewusstes Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht, sie genießt diesen kurzen Moment, bevor sie sich bei der Kellnerin bedankt und bedauert, nicht bleiben zu können, da sie auf der Suche nach ihren beiden Töchtern sei, in der Schule wären die zwei heute auch nicht gewesen.
Die Kellnerin nickt wissend und schlendert hinter ihre Theke zurück.
Sie dreht sich um, an der Tür stößt sie mit einem dicken Mann zusammen, der eine unmoderne Brille trägt und einen Strauß Frühlingsblumen in der Hand hält.
So schnell wie sie kann geht sie die Straße hinunter, zurück zum U-Bahnhof.


2008-04-01 Juliane Beer, Wirtschaftswetter
Text: ©Juliane Beer

Foto: © Cornelia Schaible
Foto Banner ©Ines Kistenbrügger, aph
Schlussredaktion: Ellen Heidböhmer
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