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Deutschland - Bulgarien

von Juliane Beer

Ja, billig lebt man hier, da haben die Regierenden Recht. Unschlagbar billig. Das Brot kostet 20 Cent und ist so trocken, dass es sich über Wochen hält. 500 Gramm Kaffee gibt es für einen Euro. Zigaretten sind auch schon ab einem Euro zu haben, zwar nicht die deutschen - aber so widerlich, wie immer behauptet wird, ist das bulgarische Kraut nun auch wieder nicht. Trotzdem: kein Grund, loszujubeln. Sie rücken nämlich auch nur noch 120 Euro raus. Immerhin pünktlich, an jedem ersten des Monats. Die Miete geht direkt vom Amt in Deutschland zum Betreiber unserer Anlage. Stromkosten auch. Und im Flur hängt ein Gemeinschaftstelefon, das 10-Cent-Stücke frisst. 15 Minuten Deutschland 20 Cent. Ein Sondertarif.

Gestern habe ich einen schönen Mann gesehen. Groß, schlank und viel Gesicht. Aber wund funkelnde Augen. Er ist zu jung für mich.
Ich hatte gerade eingecheckt, da stand er plötzlich vor dem Lesegerät. Ich sah ihn an. Von ihm keine Reaktion. `Was macht ein Mann in dem Alter hier?`, dachte ich verblüfft, ´mit 30 ist man doch in Deutschland noch vermittelbar
Dann bemerkte ich, dass sein leerer, linker Pulloverärmel in der Hosentasche steckte. Da wurde mir alles klar. Mit nur einem Arm kann man in Deutschland keine großen Sprünge mehr machen, außer man ist Professor oder so etwas. Aber danach sah der Mann nicht aus. Und müde war er. Gähnte. Offenbar war er neu hier. Sechs Uhr dreißig aufstehen - daran muss sich jeder neue Kollege erst mal gewöhnen.
Als er an der Reihe war, wusste er nicht, wie er seine Chipkarte in das Lesegerät stecken sollte. Allem Anschein nach hatte er früher nie in einer Fabrik gearbeitet. Wie auch mit nur einem Arm? Sonst finden sich alle neuen Kollegen sofort mit dem Lesegerät zurecht. Man kennt das noch von ganz früher. Die gute alte Stechuhr.
Es war kein Teamleiter in Sicht, also ging ich zurück, nahm dem schönen Mann die Karte aus der Hand und schob sie mit dem Magnetstreifen zuerst in den unteren Schlitz. Vorher spähte ich unauffällig auf seine Outsourcingnummer. Die letzten acht Zahlen sind immer das Geburtsdatum. Jahrgang 2001. In Altersfragen täusche ich mich nie. Der Rechner rasselte die Daten runter. Das Leben des schönen Mannes schoss in circa einer Minute über den Monitor. Wo geboren - und vor allem von wem, Schulbildung, Ausbildung, bisherige Jobs, besondere Fähigkeiten, Hobbys, Krankheiten, Süchte. So schnell, wie das geht, kann kein Mensch gucken. Auf dem Monitor blinkte die Uhrzeit auf. Sieben Uhr zwanzig.

Ich hielt dem Mann seine Karte wieder hin; er schaute zu Boden, wirkte beschämt.
`Du wirst dich eingewöhnen, mein Kleiner!`, dachte ich und ließ ihn in Ruhe.
Im Bus saß er ganz hinten. Schaute krampfhaft aus dem Fenster, obwohl es draußen nichts zu sehen gibt. Brachland, soweit das Auge reicht. Wie eine futuristische Wüstenoase sieht unsere Anlage mit dem Wohnblock, dem Kaufhaus und dem Kino aus, dreht man sich hier, auf halber Strecke, noch einmal um. Ich kenne den Anblick zu gut.
Nach weiteren sechs Minuten Fahrt erhob sich vorne wie üblich der Teamleiter von seinem Platz. „Alle aussteigen, bitte aktivieren Sie ihre Sender, Sie haben dreißig Minuten Zeit für den Nachhauseweg, guten Marsch!“
Der schöne Mann verzog das Gesicht. Ich überlegte den ganzen Rückweg über, ob ich ihn ansprechen sollte, ließ es dann aber doch. Man wird ihm gesagt haben, dass wir unsere Sender nur aktivieren müssen, wenn wir uns nicht in der Anlage aufhalten. Und das kommt lediglich zweimal am Tag vor: beim Vormittag- und beim Abendgang.
Beim zweiten Einchecken stand er nicht in der Warteschlange. Er war wohl schneller als die meisten von uns zuhause gewesen. Kunststück, in dem Alter.
Aber zehn Minuten später, beim Türmchenbauen im Gemeinschaftsraum, saß er wieder in meiner Nähe. Die Todesverachtung stand ihm ins schöne Gesicht geschrieben, als er seine Würfel nach Farben sortiert, wie für diese Runde angeordnet worden war, aufeinander stapelte. Wahrscheinlich fand er es sinnlos, bunte Plastikquader zu Türmen zu stapeln, die die Aufsicht dann sofort wieder in sich zusammen stürzen ließ. Es ist sinnlos. Aber war es früher, in Deutschland, nicht ebenso sinnlos, auf einem Fließband anfahrende Pizzen zu belegen, mit denen nie etwas anderes geschah, als dass Leute sie auffraßen?

Mittags, im Speisesaal, sah ich ihn nicht. Ich setzte mich ans Fenster und schaute hinaus. Draußen liegt Bulgarien. Zumindest das, was wir dafür halten. Ödes, zerrupftes Land. In weiter, weiter Ferne ein Fabrikschlot, aus dem es Tag und Nacht dampft. Steht der Wind ungünstig, riecht die Luft verbrannt. Uns tränen die Augen.
Draußen auf der Treppe saß der schöne Mann und aß eine Banane. Die ist im Supermarkt genauso teuer oder billig - das ist Auslegungssache - wie das alle zwei Tage wechselnde Eintopfgericht plus Nachtisch in der Blockkantine.
Ich löffelte meinen Teller in Windeseile leer. Nie war mir diese fürchterliche Pampe, in der sich stets drei Wurstscheiben ausmachen lassen, so schnell die Kehle heruntergerutscht. Den Nachtisch, zwei eingemachte Birnenhälften in süßem Sirup, schenkte ich der Kollegin am Nebentisch. Ich wollte als erste am Lesegerät sein, auf den schönen Mann warten.
Als ich kam, stand er bereits da.

„Jetzt schon?“, fragte er mich und deutete auf die Zeitanzeige. Es war viertel vor eins. „Wenn Sie möchten!“, antwortete ich, „aber Sie haben noch über eine viertel Stunde. Bis spätestens zehn nach eins muss man eingecheckt haben!“
„Warum vier Mal am Tag?“, fragte er.
„Damit die so schnell wie möglich merken, wenn jemand getürmt ist!“, versuchte ich einen Scherz. „Wir haben uns ja immerhin verpflichtet ... wenn wir jetzt doch plötzlich alle wieder zu Hause aufkreuzen ... die Arbeitslosenstatistik ... Sie wissen schon! Zu Hause stehen Wahlen an, die Arbeitslosenstatistik muss gut aussehen. Das ist doch wie immer ganz wichtig.“
„Wie soll man weglaufen?“, fragte er ohne den geringsten Humor.
„Die nächste Kleinstadt ist nur etwas über eine Stunde Fußmarsch entfernt! Einen Bahnhof haben die auch“, versuchte ich es noch einmal.
Er lachte wieder nicht.
„Sehen Sie es mal so“, wagte ich einen letzten Versuch, wobei ich ironisch zu klingen versuchte, „in Deutschland ist es für uns doch auch nicht so wunderschön. Mich haben sie zum Schluss zum Sozialarbeitsdienst in die Rohstoffrückgewinnung geschickt. Klingt wichtig, oder? Ist es auch. Haushaltsmüll sortieren. Acht Stunden am Tag. Und die Kollegen können Ihnen noch ganz andere Sachen erzählen. Fragen Sie mal rum!“
Ich hoffte, er würde mir jetzt wenigstens eine Kleinigkeit über sich verraten, aber er schwieg.
Hinten, in der Küche setzte das Geklapper von Geschirr ein.
„Gruppe 6 hat diese Woche Küchen- und Reinigungsdienst. In welcher Gruppe sind Sie denn?“
„Gruppe 12!“, sagte er, „also habe ich noch sechs Wochen Zeit, bevor es an den Reststoffbeseitigungsdienst geht?!“
Ich meinte, ein kleines, ironisches Lächeln um seinen Mund herum bemerkt zu haben.
Wir gingen in den Gemeinschaftsraum. Donnerstagnachmittag ist Zeichnen.
Er zeichnete phantastisch. Auf seinem Blatt Papier entstand die bulgarische Einöde mit unserer Anlage darin, als handle es sich um ein einsames, verwunschenes Märchenland, aus deren Mitte plötzlich wie aus dem Nichts ein seltsames Schloss wächst. Bald drängten sich alle um seinen Platz und sahen atemlos zu, wie er lediglich durch ein paar Schatten und Straffierungen unser Schloss zum Leben erweckte. Den Fabrikschlot ließ er weg. Niemand machte ihn auf diese Ungenauigkeit aufmerksam, nicht einmal jemand von den Kollegen, die immer alles besser wissen. Die Aufsicht fragte ihn nach seinem früheren Beruf. Ob er aus dem künstlerischen Fach sei. Statt einer Antwort schüttelte er den Kopf.
Am Lesegerät fand er sich anschließend allein zurecht. Fast betrübte mich das ein wenig. Ich hätte es genossen, wenn er mich noch ein, zwei Tage länger brauchen würde.
Beim Abendgang sonderte er sich sowohl im Bus als auch auf dem Heimweg ab. Und beim Aussteigen hatte er vergessen, seinen Sender zu aktivieren. Der Teamleiter rief ihm aus dem Bus, der im Schritttempo neben uns her fuhr, etwas zu, das ich nicht verstand. Es klang höflich aber bestimmt.

In der Freistunde saß mein schöner Mann wieder draußen auf der Treppe. Er schrieb etwas in ein dickes, abgegriffenes Notizbuch. Immer wenn einer der Kollegen die Treppe hochkam und einen Schatten auf das Notizbuch warf, hielt der schöne Mann kurz inne, ohne aufzublicken. Sobald er wieder Sonne hatte, machte er weiter. Ein paar Meter entfernt veranstalteten Teamleiterinnen ein Federballturnier. Obwohl sich wie üblich kaum jemand beteiligte, stieg unaufhörlich der granitfarbene, chemisch riechende Staub von Boden auf.
Hinten an der Bude vor dem Kaufhaus standen die Kollegen, tranken Bier, aßen ölige, bulgarische Pommes Frites. Ich stand drinnen am Fenster. Ich verzichtete auf meinen täglichen Kaufhausbesuch. Ich befürchtete, der schöne Mann würde es seltsam finden, dass ich in ein Kaufhaus ging, in dem es nur Nähgarn, Seife und ein paar unmoderne Klamotten gab, ohne etwas davon zu brauchen; nur so,
um die Zeit totzuschlagen
.
Plötzlich wünschte ich mir Wirklichkeit. Zum Teufel mit diesem simulierten Leben. Ich sah mich aus der Müllsortiererei kommen, abgekämpft - ... und draußen, auf der Treppe sitzt seit ein paar Tagen immer so ein hübscher Bengel. Ob er neu zugezogen ist? Einfach mal rausgehen, ihn fragen, ob er mitkäme ins Kino, aber nicht in die Spätvorstellung, in meinem Job geht es früh los, wissen Sie ... . Ich schämte mich.

Draußen hatte offenbar der Frühling Einzug gehalten. Aber Jahreszeitenwechsel und simuliertes Leben - das ging nicht zusammen. Der Betreiber unserer Anlage musste das gewusst haben. Weit und breit keine Vegetation. Jetzt, wo ich sah, wie die letzten Sonnenstrahlen des Tages durch das Haar des schönen Mannes schillerten, jetzt fiel mir auf, dass der Frühling da sein musste.
Beim Abendessen war ich dann plötzlich fast ein wenig beschwingt. Ich verbarg es vor ihm. Er hatte sich auf den Platz mir gegenüber gesetzt, was mich zusätzlich in Aufregung versetzte. Er aß nicht viel. Nur zwei Schmelzkäseecken und das Petersilienbüschel, das eigentlich zur Verzierung gedacht ist. Neben ihm goss ein Kollege unter dem Tisch Bier vom Kiosk in seine Teetasse. Alkohol ist im Haus verboten. Hin und wieder sah der schöne Mann zu mir herüber. Ich versuchte, meinen mehr und mehr aufkeimenden Übermut im Zaum zu halten. Was hätte er von mir gedacht? Von einer Frau Ende vierzig, die schon einen Knitterhals kriegt, aber noch immer in Aufregung gerät, weil es April ist, und ein hübscher Bengel sie ansieht.
Zuletzt war ich so verlegen, dass ich mich nach dem Essen nicht traute, ihm eine gute Nacht zu wünschen. Ich sprang auf, als alle anderen noch saßen, vor dem Fahrstuhl schob ich in Windeseile - quasi im Vorbeigehen - meine Chipkarte ins Lesegerät und floh in meine Wohneinheit.

Als ich oben meinen Sender in die Ladestation steckte, bereute ich meine Hast. Mir fiel plötzlich ein, dass ich ihn hätte fragen können, ob er schon einen Fernseher besäße. Er hätte sich nichts dabei gedacht, eine völlig unverfängliche, harmlose Frage wäre das gewesen. Die meisten Kollegen, die herkommen, haben doch vorher ihren Haushalt aufgelöst. Keiner spricht es aus, aber jedem ist es klar: Man wird nicht mehr zurückkehren. Wie soll man von Bulgarien aus Arbeit in Deutschland finden, wenn man nicht einmal von Deutschland aus Arbeit dort findet?
Der schöne Mann erweckte den Eindruck, als hätte er sich das ganze Ausmaß dieser unaussprechlichen Tatsache bewusst gemacht. Wie sollte er da ein gesundes Leben ohne übertriebenen Leistungs- und Zeitdruck führen, wie das Motto der Bulgarien-Outsourcing-Maßnahme lautete?! Und wenn er noch keinen Fernseher besaß ... ich stellte mir vor, wie er den ganzen Abend über allein dasäße. Ich sah in seine wund funkelnden Augen. Gleich morgen musste ich etwas unternehmen! Die Maßnahme hatte doch auch ihre gute Seite, das musste ich ihm zu bedenken geben. Nie wieder Sozialarbeitsdienst auf dem Friedhof oder bei der städtischen Müllentsorgung. Und Rente schon mit 60; - mit diesem, für bulgarische Verhältnisse kleinen, monatlichen Vermögen in eine der Städte ziehen, sich eine richtige Wohnung mieten, keine Sender und Lesegeräte mehr, stattdessen ein wenig den Luxus leben. Ich nahm mir fest vor, ihn gleich morgen daran zu erinnern.
Und natürlich auch daran, dass hier Samstagabend immer Tanz war.


2009-08-05 Juliane Beer, Wirtschaftswetter
Text: ©Juliane Beer
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