von Cornelia Schaible
Im Keller des Einfamilienhauses in der Detroiter Vorstadt West Bloomfield stapeln sich die Vorräte. Wasser, Mehl und sehr viele Dosen, die nach Sorten geordnet zu Türmchen aufgebaut sind: Schinkenwurst, Jagdwurst, Leberwurst. Und gleich daneben stehen einige große Kartons. Andrea Thamm öffnet einen davon – es sind Spätzle. „Die Handwerker denken immer, wir hätten Angst vor einem Krieg oder so“, sagt die 31-Jährige, die vor eineinhalb Jahren aus dem Raum Stuttgart nach Detroit im US-Bundesstaat Michigan kam.
Zwei der Handwerksleute, die sich gelegentlich über deutsche Vorratshaltung und andere Eigentümlichkeiten wundern, sind gerade im Haus: Die Männer, ein aus Vater und Sohn bestehender Familienbetrieb, bauen neue Küchenschränke ein. Im Flur liegt Sägemehl, und auch das Wohnzimmer ist eine Baustelle. Eigentlich müsste wenigstens die Küche längst fertig sein, aber den Handwerkern sei ein Schrank runtergefallen, erzählt Thamm, die immer mal wieder kurz in die Küche huscht, um zu sehen, wie die Arbeit vorangeht.
Es gibt auch sonst noch viel zu tun im neuen Heim, das sich die Thamms im vergangenen Sommer gekauft haben. Wie viele Deutsche, die in den USA arbeiten, haben sie damit nicht lange gewartet: „Hier ist der Hauskauf noch möglich“, sagt Thamm und wischt ein bisschen Baustaub vom schwarzen Ledersofa, damit sich die Besucherin setzen kann. In Fellbach bei Stuttgart, wo sie zuletzt wohnten, wäre das nicht so einfach gewesen.
Für die gelernte Bankkauffrau und Betriebswirtin Andrea Thamm, die in Waiblingen aufgewachsen ist, war der Immobilienkauf eine spannende Sache. Das amerikanische Hypothekenwesen ist eine Wissenschaft für sich, und bis die Finanzierung unter Dach und Fach war, hatte Thamm eine Menge zu tun. Was ihr im Übrigen ganz gelegen kam. Denn davor hatte sie immer Angst: Ihr könnte die Decke auf den Kopf fallen in ihrem Haus in den Detroiter Suburbs, wo die Straßen wie ausgestorben wirken und sich in den adrett gepflegten Vorgärten allenfalls ein paar Eichhörnchen tummeln.
Als ihr Mann Thomas das Angebot erhielt, für die Detroiter Niederlassung seiner Firma zu arbeiten, habe das nicht nur Jubel ausgelöst. Thamm: „Wir waren beide von den USA begeistert, aber ehrlich gesagt, wäre uns eine andere Stadt schon lieber gewesen.“ Nun, das amerikanische Abenteuer wollten sich die Thamms, die in Kalifornien am Lake Tahoe geheiratet haben, dann doch nicht entgehen lassen. Für ein paar Jahre USA – warum nicht. Thomas Thamm, von Beruf Servicetechniker, zog im März 2002 nach Michigan; seine Frau folgte ein halbes Jahr später, und gleichzeitig kam der Container voll Habseligkeiten an: „Unser ganzes Leben war in einer Kiste.“
Eine Arbeitserlaubnis hatte Andrea Thamm bereits bei einem Detroit-Besuch Monate vor ihrer Ankunft beantragt. „Ich musste zwei Mal jeweils vier Stunden anstehen, um überhaupt mit jemandem von der INS zu sprechen“, erzählt sie. INS steht für „Immigration and Naturalization Service“, und über ihre Erfahrungen mit dieser Einwanderungsbehörde können die meisten der im Raum Detroit ansässigen Deutschen lange Geschichten erzählen. Die Bürokratie wurde zweifellos in Deutschland erfunden, meint dazu eine Hamburgerin, die seit 13 Jahren in Michigan lebt: „Aber in Amerika wurde sie verfeinert.“
Andrea Thamm kann da nur zustimmen. Sie möchte noch eine Anekdote zu diesem Thema beitragen, kommt aber nicht dazu, denn es klingelt. Vor der Haustür steht ein Inspektor von der City West Bloomfield. Er fragt nach den Handwerkern, deren Pickup-Truck in der Garageneinfahrt steht, und ob diese eine Permit für den Umbau hätten. Eine Genehmigung für den Einbau einer neuen Küche? Andrea Thamm kann es nicht fassen. Sicher, sagt der Inspektor, und sie solle die Genehmigung am besten persönlich bei der Stadt abholen. Dann geht der Mann wieder zum Wagen, um weiter seine Kontrollrunden durch die Vorstadt zu drehen.
Vorschriften, überall Vorschriften – „ich finde, dass die Behörden noch viel kleinkarierter sind als in Deutschland“, sagt Thamm. Was sie allerdings nicht davon abgehalten hat, selbst eine Firma zu gründen: Europe’s Fine Food. Die Idee, deutsche Lebensmittel zu importieren, die in den USA nur schwer oder gar nicht erhältlich sind, kam von ihrem Mann. „Der Grundgedanke war: Dosenwurst“, so Thamm. Denn Wurst von der Sorte, wie sie zu einem herzhaften schwäbischen Vesper gehört, gibt’s in der neuen Heimat nicht.
Die Firmengründung war ein Kinderspiel: „Das ging übers Internet und hat 50 Dollar gekostet.“ Aber die Einfuhr für Fleischprodukte – dabei habe sie unter anderem die CMA in New York beraten, die Centrale Marketing-Gesellschaft der deutschen Agrarwirtschaft – erwies sich dann als so kompliziert, dass sogar die umtriebige Andrea Thamm zunächst davon Abstand nehmen musste. Stattdessen importiert sie nun Spätzle, das ist einfacher.
Eine Fellbacher Firma stellt die Teigwaren her: „Swabian Egg Noodles“ steht auf dem Etikett. Es sei gar nicht so einfach gewesen, eine Firma zu finden, die einem so kleinen Unternehmen etwas verkauft. „Und alle haben Angst vor Klagen.“ Neben dem Spätzles-Hersteller fand sich noch eine Mühle in Bad Wimpfen, die ihre Brotbackmischungen nach Michigan schickt. Wie sie darauf gekommen ist? „Weil ich das amerikanische Brot nicht ausstehen kann“, sagt Thamm.
Vom Spätzle-Import profitieren die Thamms auch selbst: „Ich koch schwäbisch oder schwäbisch-ungarisch“ sagt Andrea Thamm, deren Eltern aus Ungarn stammen und die in Budapest geboren wurde. Ins Restaurant gehen, das sei nicht unbedingt nach ihrem Geschmack: „Man wird so schnell abserviert.“ Kaum hat man den letzten Bissen verzehrt, kommt schon die Rechnung – das ist in Amerika so üblich. „Man kann dann nicht bei einem Glas Wein sitzen bleiben. Es ist einfach nicht gemütlich.“
Sie habe sich inzwischen zwar bestens eingelebt, sagt sie dann, aber einiges vermisse sie doch. Zum Beispiel? „Leute auf der Straße treffen, die man kennt. Ohne, dass man sich extra verabredet.“ Fußgängerzonen und Innenstädte zum Flanieren – so was gibt’s hier nicht. Und für jede Besorgung braucht man ein Auto. Andererseits: Die Stimmung in Deutschland ist nicht gerade so, dass es das Heimweh fördern könnte. „Da wird doch nur noch gejammert.“
Wer auswandern will, sollte sich das trotzdem gut überlegen, meint Thamm. „Man gibt viel auf: Beruf, Familie, Freunde.“ Bei rund 280 deutschen Firmen, die im Großraum Detroit eine Niederlassung haben, bieten sich indessen neue Möglichkeiten. Vor kurzem hat Andrea Thamm eine Arbeitsstelle bei Robert Bosch angetreten, wo sie bereits einmal befristet beschäftigt war. Von Langeweile also keine Spur. Und überhaupt: „Man kann in Kleinheppach versauern – oder in New York.“ Oder sich in Detroit eine ganz neue Existenz aufbauen.
Vielleicht klappt’s irgendwann sogar noch mit dem Wurst-Import. Eine Großmetzgerei aus Esslingen hat sich jetzt bereit erklärt, Wurstwaren nach den amerikanischen Standards zu produzieren, so dass die Einfuhr möglich würde. Das dürfte aber noch etwas dauern. Die Dosenwurst, die bei den Thamms unten im Keller lagert, vernaschen sie einfach selbst.
2004-03-22 by Cornelia Schaible , Wirtschaftswetter
Text: ©Cornelia Schaible
Fotos: ©Cornelia Schaible
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