von Moon McNeill
Jedes Jahr an diesem Tag halte ich inne. Meine Seele hatte damals gebebt, als wolle sie zusammenstürzen, mein Atem flatterte, mein Herz erstickte fast in einem lautlosen Schreien - und jetzt lebe ich einfach weiter. Unfassbar!
Kann man Brombeeren ernten gehen - an einem 11. September? Kann man seinen Hund ausführen über die Pferdewiesen und sich am friedvollen Rauschen der Herbstzweige freuen? Als es geschah, dachte ich, alles ist vorbei. Ich hatte große Mühe, meinen Horror, meine Ängste und meine Fluchtinstinkte zu zügeln und mich aufzurufen, den nächsten Schritt zu gehen, den nächsten Tag zu leben, das nächste Buch zu lesen. Und meine Lebensgefährtin mitzunehmen und ihr das Gefühl zu geben, sie sei beschützt. Die Wahrheit war, dass wir unsere ganze Schutzlosigkeit begriffen. Wir haben immer nur das Jetzt. Nichts mehr.
Der 11. September hat mich tiefgreifend verändert. Die Bilder haben sich in meine Hirnrinde gebrannt, wie Falten in ein vom Leben verwittertes Gesicht. Auch Tschernobyl hatte mich verändert, die Barschel-Äffäre tat es und vieles andere noch. Es gab darüber hinaus manch menschliches Desaster in meinem Leben. Je öfter ich auf meine vergangenen Jahre zurückblicke, desto eher verstehe ich, dass dieses Element des Unfassbaren einen Platz in jedem Leben finden muss - von Anbeginn an. Und an allen Orten der Erde. Menschen leben mit dem Grauen. Es nimmt nur verschiedene Formen an. Ob es nun von Menschen gemachtes Grauen ist wie Hiroshima oder einer der Weltkriege oder ein schweres Erdbeben in Ecuador - ist es nicht immer gleichermaßen unfassbar?
Natürlich!! Aber die, die unbeschadet sind, müssen nach einer Weile weitergehen und die seelische Last tragen lernen. Sie müssen ungeachtet aller Facetten des Grauens ihr Leben leben. Wir können dankbar sein über jeden friedvollen Tag. Wir können auch dankbar sein, dass wir keine größeren Nöte haben als Hartz IV, die Höhe der Staatsschulden, den neuen Harry Potter oder die Rechtschreibreform. Dass wir an einem 11. September Brombeeren sammeln gehen können und mit dem Hund über die Pferdeweiden gehen: das ist das Geschenk des Lebens an uns. Ich wünschte nur, es wäre jedem Menschen vergönnt.
2004-09-09 von Moon McNeill, Wirtschaftswetter
Text: ©Moon McNeill
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