von Cornelia Schaible
Es gibt so ein paar Dinge in Amerika, an die sich die meisten Deutschen nie gewöhnen. Dazu gehört im Sommer die eisige Polarluftdusche aus den Klimaanlagen. Wenn es draußen gerade mal anfängt, angenehm warm zu werden. Christina Witte nimmt deshalb einfach ihre Winterjacke mit ins Büro. Eine dicke, schwarze Daunenjacke. „Mein Chef hat sich erst ein bisschen gewundert“, sagt die junge Frau und lacht. „Aber mir war einfach so wahnsinnig kalt!“
Witte macht seit März ein sechsmonatiges Praktikum beim Automobilzulieferer ZF im Raum Detroit. Es ist nicht der erste USA-Aufenthalt der 23-Jährigen, die aus Rottenburg am Neckar stammt und internationale Betriebswirtschaft in Nürnberg studiert. Sie habe schon ein Jahr lang die amerikanische High School besucht, erzählt sie, an zwei verschiedenen Orten: in Atlanta, Georgia, und in einer kleinen Stadt in Ohio. Von der Akklimatisierung an Bürotemperaturen einmal abgesehen – den Kulturschock hat sie hinter sich, mit dem Land ist sie längst warm geworden. Sonst wäre da nicht diese Neugierde: „Ich wollte auch gerne mal in Amerika arbeiten und sehen, wie das ist. Vorher war ich ja nur auf der Schule.“
Eine sprachliche Hürde gab es für sie also nicht. Aber auch wer sich auf sein Schulenglisch verlassen muss, macht rasch Fortschritte im Auslandspraktikum, wie Wolfgang Schmid versichert: „Nach sechs Monaten merkt man eine unheimliche Selbstsicherheit in der Sprache.“ Schmid, der bereits erwähnte Chef von Christina Witte, ist Direktor für Marketing und Kommunikation bei der ZF-Gruppe in Nordamerika.
Der ZF-Konzern mit Hauptsitz in Friedrichshafen gehört zu den weltweit größten Herstellern von Antriebs- und Fahrwerktechnik. In Nordamerika ist der Autozulieferer auf Expansionskurs: „Wir sehen in diesem Raum noch ein gewaltiges Wachstumspotenzial“, sagt Schmid. Zu den Niederlassungen am Standort USA, die in den vergangenen fünf Jahren eröffnet oder ausgebaut wurden, gehört auch das Technologiezentrum in Northville bei Detroit. Hier entstehen Prototypen für Lenkungen, Fahrwerkteile und Getriebe. Alles, woran man nicht sofort denkt, wenn es um die Automobilindustrie geht und die großen Drei in Detroit: General Motors, Ford und Chrysler. „Die Welt glaubt, dass die Autobauer ein großartiges Werk vollbringen“, sagt Schmid, „dabei übernehmen die Zulieferer 75 Prozent der Wertschöpfung eines Fahrzeugs.“
Das erklärt die starke Präsenz deutscher Autozulieferer in Detroit. „Trotz aller moderner Kommunikationstechnik – der persönliche Kontakt ist unersetzbar“, ist Marketingleiter Schmid überzeugt. Christina Witte hilft dabei, Präsentationen vorzubereiten. Oder sie erstellt den Pressespiegel. Im Betrieb gibt es noch weitere Praktikanten: „einen Franzosen, einen Schweizer, eine Holländerin und drei Deutsche“, zählt sie auf. Klingt sehr nach europäischer Gemeinschaft – mit Amerikanern kommt Witte außerhalb der Firma tatsächlich nur selten zusammen. Was sie bedauert.
Von ihren amerikanischen Kollegen berichtet sie begeistert; sie mag deren Offenheit und Unkompliziertheit. „Auch den obersten Manager sprichst du nur mit Vornamen an.“ Ihre Chefs hätten sie gleich zum Barbecue eingeladen. „Und du wirst überall schnell integriert.“ Aber wird Amerikanern sonst nicht immer nachgesagt, sie seien so oberflächlich? Witte überlegt eine Weile. „Ich weiß nicht, ob sie oberflächlich sind“, sagt sie dann. „Nur: Beim Daimler habe ich auch einmal sechs Monate gearbeitet. Und da hat mich keiner jemals zum Essen eingeladen.“
Aber eigentlich ist sie diese ständigen Vergleiche leid. Ebenso wie die Diskussionen darüber, ob in den USA etwas besser oder schlechter ist als in Deutschland. Es sei eben einfach vieles anders. Auch wenn das auf den ersten Blick gar nicht so wirkt. „Wenn man aus dem Flugzeug steigt, hat man zunächst den Eindruck, das alles sehr ähnlich aussieht. Und dann ist es doch verschieden.“
Wie die Einstellung zum fahrbaren Untersatz. „Was mich wirklich stört, sind diese Riesen-Autos“, sagt Witte, und sie meint damit die Sprit-fressenden Geländewagen und Trucks, die in Motor City besonders beliebt sind. „Und denen macht es überhaupt nichts aus, Auto zu fahren!“ staunt sie. Soll heißen: Jeder lässt sich doch gerne mal mitnehmen – vor allem, wenn die Clique abends loszieht. In Detroit hat Autofahren viel mit Autonomie zu tun. Also: vier Leute, vier Autos.
Auch nur einen Schritt mehr als nötig zu gehen, wird dabei tunlichst vermieden. Ein schönes Beispiel: die „Drive-in-Mülleimer“, wie Witte es nennt. In den meisten Appartmentanlagen ist ernsthaft vorgesehen, dass die Bewohner im Auto am Müllcontainer vorbeifahren. Die Mülltüte fliegt dann durchs Wagenfenster. Sofern sie nicht vorher platzt. Sie sei erstaunt, wie schnell sich viele Deutsche an solche Gepflogenheiten anpassen, sagt Witte.
Wer nun den Eindruck bekommt, dass es im Großraum Detroit von Deutschen nur so wimmelt, liegt genau richtig. Da es kein Einwohnermeldeamt gibt und die Leute mit ganz unterschiedlichen Visa zum Arbeiten in die USA kommen, oft nur für drei oder vier Jahre, liegen keine vernünftigen Zahlen darüber vor. Aber es müssen viele Tausend sein. Gut, es verteilt sich in einem Gebiet, in dem fünf Millionen Menschen leben – ziemlich genau die Hälfte der Einwohner Michigans lebt im Südosten des Bundesstaates um Detroit. Aber wenn man aus der Nähe von Stuttgart kommt, sagt das den meisten Detroitern etwas, und von Sindelfingen haben sie in der Autostadt natürlich auch schon gehört.
Aber damit sind die Kenntnisse über Deutschland meist schon erschöpft. Was kein Wunder ist: Eine Reise nach Germany läge außerhalb der Möglichkeiten der allermeisten Amerikaner. Einmal sei sie von einer Tankwartin gefragt worden, woher sie komme, erzählt Witte. Als die Frau hörte, aus Deutschland, habe sie gesagt: „Das wäre mein absoluter Traum, einmal nach Europa zu gehen – aber ich muss gestehen, ich war erst einmal in Ohio.“ Im Nachbarstaat.
Bei üblicherweise zehn Urlaubstagen im Jahr sind nicht nur Auslandsreisen allenfalls eine Option für den Ruhestand. Man sollte dies gelegentlich bedenken, wenn man über Amerikaner urteilt: Neben der Arbeit bleibt ihnen tatsächlich nur wenig Zeit. Sie habe darüber einmal im „Spiegel“ gelesen, sagt Witte. „Ich war schon überrascht, wie wenig Deutsche eigentlich arbeiten.“ Laut Statistik, das belegen auch andere Quellen, leisten Deutsche rund 1500 Arbeitsstunden pro Jahr, Amerikaner 350 Stunden mehr. Das ist, wie wenn das deutsche Arbeitsjahr zehn 35-Stunden-Wochen mehr hätte.
Gerade Detroit stilisiert sich gerne als Arbeiterstadt, deren Bewohner jeden Morgen die Stechuhr drücken, damit der Wohlstand der Nation an Fahrt gewinnt. Das liebevoll gepflegte Blaumann-Image ist indessen nur die halbe Wahrheit – „da wohnen ja auch die ganzen Top-Manager“, sagt Witte. In der Tat: Zum Speckgürtel der Vorstädte gehören einige der reichsten Citys von Amerika. Downtown Detroit mit überwiegend afroamerikanischer Bevölkerung hat zwar nach wie vor große soziale Probleme.
Trotzdem: Die Musik spielt in Detroit, und das ist auch nach Motown-Zeiten zunächst ganz wörtlich zu nehmen. So manche Garagenband wartet nur darauf, ebenso berühmt wie die „White Stripes“ zu werden, denn es gibt noch ein paar Hip-Hopper außer Eminem. Und die Stadt ist im Umbruch. „Hier wird überall gebaut“, staunt Christina Witte. „Ich finde es spannend, was sich in Detroit tut.“
Haben nicht sogar kürzlich die Basketballer von den Detroit Pistons gezeigt, dass man die Stadt nicht unterschätzen sollte? Im Endspiel der nordamerikanischen Profiliga NBA hatten die Los Angeles Lakers, die als haushohe Favoriten gehandelt wurden, gegen den vermeintlichen Außenseiter keine Chance. Wer hätte das gedacht – die Basketball-Stars aus Hollywood unterliegen den hart kämpfenden Jungs aus Motor City. „An die Arbeit gehen“ lautet der Slogan der Pistons. „Das war ein Team, das zusammen gespielt hat“, sagt Witte über die Pistons. „Und dann hat man gesehen, wer gewonnen hat.“
In Los Angeles an der Westküste der USA war Witte kürzlich, um eine Freundin zu besuchen. „Aber meine Lieblingsstadt ist New York“, sagt sie. Obwohl sie vieles an den USA fasziniert, möchte Witte nach dem Examen dennoch lieber in Deutschland arbeiten – „falls ich mir das aussuchen kann“. Warum? „Mir fehlen die Traditionen. Ein Jahr ohne Fasnacht und Weinfest – das ist für mich kein vollständiges Jahr.“
2004-07-20 by Cornelia Schaible, Wirtschaftswetter
Text: © Cornelia Schaible
Fotos: © Cornelia Schaible,
Zum Bild: "Detroit Industry", 1933 von Diego Rivera. Das wohl berühmteste Bild von Detroit finden Sie im Detroit Institute of Arts. Diego Rivera hielt sich wochenlang in der Ford-Rouge-Fabrik auf, um sich inspirieren zu lassen. Er wurde bei seinen Studien von seiner Frau, Frida Kahlo, begleitet.
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