von Cornelia Schaible
Es ist Freitagnachmittag, und die Leute auf der Michigan Avenue haben es eilig. Nur wenige Passanten beachten den älteren Mann mit der Baseballkappe, der sich am Rande von Chicagos Prachtmeile in eine Fensternische drückt. Der Mann, ein Schwarzer, hält in der rechten Hand einen Plastikbecher, in der linken ein Pappschild. „Ich habe Lungenkrebs“, steht darauf, „ich brauche Ihre Unterstützung. Ich bin auf Chemo. Danke.“ Das Wort „Chemo“ hat er mit „K“ geschrieben.
Ich frage den Mann, ob er eine Krankenversicherung habe. Früher nicht, sagt er, aber heute sei er über Medicare versichert. „Und jetzt bekomme ich diese Chemo.“ Er greift unter seinen Pullover und nestelt einige Papiere aus der Hemdentasche. Es sind Briefe von Behörden. Anspruch auf das staatliche Krankenversicherungsprogramm Medicare haben in den USA alle Rentner, die 65 oder älter sind. Er könne nicht mehr arbeiten, sagt der Mann, der ziemlich erschöpft wirkt. Wahrscheinlich reicht seine Rente schon kaum zum Leben, und dann muss er auch noch die hohen Zuzahlungen für seine Medikamente aufbringen. Aber immerhin wird die teure Chemotherapie bezahlt.
Es mag zynisch klingen – aber der Mann mit dem Pappschild an der Michigan Avenue in Chicago hat noch Glück im Unglück. Es könnte tatsächlich schlimmer kommen in einem Land, in dem ungefähr jeder siebte keine Krankenversicherung hat. Und sich damit den hohen medizinischen Standard in Amerika gar nicht leisten kann.
„Unsere Nation hat das beste Gesundheitssystem der Welt“, sagte Vizepräsident Dick Cheney in seiner Rede auf dem Wahlparteitag der Republikaner, „und Präsident Bush sorgt dafür, dass es zugänglicher und erschwinglicher für alle Amerikaner wird.“ Das klingt gut, und Cheney erhielt für diesen Satz auch viel Applaus. Der einzige Schönheitsfehler daran ist, dass der zweite Teil der Behauptung nicht stimmt. Nach dem jüngsten Armutsbericht der US-Zensusbehörde haben derzeit 45 Millionen Amerikaner keine Krankenversicherung – das sind 1,4 Millionen mehr als im Jahr 2002. Der Bericht ist buchstäblich ein Armutszeugnis für die US-Regierung: Der Anteil der Menschen, die als bedürftig gelten, stieg in der selben Zeit um 0,4 Prozentpunkte auf 12,5 Prozent. Damit leben heute in den Vereinigten Staaten 35,9 Millionen Menschen in Armut. Und zwar nicht zuletzt deswegen, weil so viele keine Krankenversicherung haben oder schlicht unterversichert sind. Denn wer in Amerika ohne ausreichenden Versicherungsschutz schwer krank wird, für den ist der soziale Abstieg vorprogrammiert.
Aber warum haben immer mehr Amerikaner keine Krankenversicherung? Ganz einfach: Weil sie ihren Job verlieren, zu dem ein Krankenversicherungspaket gehört. Und sich anschließend mit einer weniger qualifizierten Beschäftigung abfinden müssen – irgendein McJob ohne Sozialleistungen. Oder weil ihr Betrieb aus dem Vertrag mit einer Krankenkasse ausgestiegen ist, weil die Prämien zu teuer wurden. Genau das passierte dem Mann meiner Freundin, die ihren Namen hier begreiflicherweise nicht lesen möchte. Er ist Techniker, und bis vor ein paar Monaten hatte er einen ordentlich bezahlten Job mit „Benefits“, wie das in den USA heißt. Bis ihn sein Betrieb eines Tages vor die Wahl stellte, künftig entweder für 12 Dollar in der Stunde zu arbeiten, ohne Krankenversicherung – oder zu gehen. Dafür braucht es in den USA nicht einmal eine Änderungskündigung, wozu auch, Arbeitsverträge sind weitgehend unbekannt. Der Mann meiner Freundin zog es jedenfalls vor, die Firma zu verlassen.
Fast zur gleichen Zeit verlor auch meine Freundin ihren Bürojob, weil ihr Betrieb dicht machte. So standen beide plötzlich ohne feste Beschäftigung da, mit der Aussicht auf jeweils ein halbes Jahr Arbeitslosengeld – so lange konnte auch die Krankenversicherung noch weitergeführt werden. Und dann: kein Job, keine Versicherung. Die Prämie für eine private Krankenversicherung, so sagte mir meine Freundin, könnten sie sich unmöglich leisten. Wie sollten sie ohne regelmäßiges Einkommen 700 Dollar im Monat aufbringen?
So kommt es, dass gerade Angehörige der Mittelschicht zunehmend ohne Krankenversicherung auskommen müssen. Notfalls muss man eben das Haus verkaufen. Für bedürftige Familien, die von der Wohlfahrt leben oder nur über ein geringes Einkommen verfügen, gibt es – ähnlich wie für die Senioren – eine staatliche Hilfe, Medicaid. Wer aber weder sehr arm noch sehr reich ist in Amerika, dem hilft nur eine gesunde Portion Optimismus. „Krank werden darf man hier nicht“, sagt meine Freundin, „nicht einmal, wenn man eine Krankenversicherung hat.“ So etwas wie die „Lohnfortzahlung im Krankheitsfall“ ist in den USA schlichtweg unbekannt. Wer nicht mehr arbeiten kann, wird gefeuert.
In diesem unsozialen System verliert man genau dann den Versicherungsschutz, wenn man ihn am dringendsten braucht, nämlich bei einer schweren Erkrankung. Wer etwa an Krebs leidet, kann es sich am allerwenigsten leisten, zu Hause zu bleiben. Ich höre immer wieder, dass sich Leute selbst während einer Chemotherapie irgendwie zur Arbeit schleppen – in meiner Bekanntschaft gibt es gerade so einen Fall.
Aber was machen nun all diejenigen, die dringend zum Arzt müssen, sich den Arztbesuch aber nicht leisten können? Da gibt es einen Trick: Sie gehen in die Notfallambulanz eines Krankenhauses. Denn Notfälle müssen behandelt werden. Immerhin ein Trost: Falls man angeschossen wird oder im Straßenverkehr verunglückt, wird man ohne viel Federlesens behandelt – niemand will erst den Versicherungsausweis sehen. Oft verstopfen aber auch Patienten mit alltäglichen Wehwehchen die Notfallaufnahmen. Weil viele erst zum Arzt gehen, wenn sie ihre Beschwerden nicht mehr aushalten, werden Krankheiten häufig verschleppt. Die Notfallmedizin ist zudem die teuerste Form von medizinischer Versorgung. Und wenn die Notfallpatienten ihre Rechnung nicht bezahlen können oder auf dem Einweisungsformular einfach eine falsche Adresse angeben, trägt die Allgemeinheit die Kosten.
Es ist ein Teufelskreis: Die lückenhafte Krankenversicherung trägt zur Kostenexplosion im Gesundheitswesen bei, die Prämien steigen weiter, und immer weniger Menschen können sich einen Versicherungsschutz leisten. Das alles macht das amerikanische Gesundheitssystem sozial ungerecht, ineffizient und teuer. Eine qualitativ hochwertige medizinische Versorgung dürfe aber „kein Privileg für die Reichen“ sein, fordert der demokratische Präsidentschaftskandidat John Kerry, der die Gesundheitsreform zu einem wichtigen Thema im Wahlkampf gemacht hat. Zur Kostendämpfung schlägt Kerry unter anderem vor, den Import von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln aus Kanada zuzulassen und für mehr Preiskontrollen zu sorgen. Außerdem soll sich die Pharmaindustrie dem Wettbewerb öffnen und preiswerte Generika produzieren. Der republikanischen Gegenseite, die eine allgemeine Krankenversicherung mit Planwirtschaft gleichsetzt, geht das alles viel zu weit: Präsident George W. Bush will die Pharma-Lobby nicht vergrätzen und setzt mehr auf steuerliche Vergünstigungen insbesondere für kleinere Betriebe, die für ihre Beschäftigen eine Krankenversicherung abschließen. Kerrys Vorschlag sei unbezahlbar, höhnt Bush, und höchstens über eine saftige Steuererhöhung zu finanzieren.
Nun ist bereits Präsident Bill Clinton an der Einführung einer Art von gesetzlicher Krankenversicherung gescheitert. Wer immer diesmal die Wahl gewinnt – es ist zu befürchten, dass das Heer der Amerikaner ohne vernünftigen Versicherungsschutz im Krankheitsfall weiter wächst. Immerhin, meine Freundin gehört nicht dazu: Wenige Tage vor dem Ablauf ihrer Arbeitslosenunterstützung fand sie eine Stelle als Empfangsdame und Telefonistin. Nicht gerade ein Traumjob, und auch nicht besonders gut bezahlt. Aber es ist eine Krankenversicherung dabei.
2004-09-24 by Cornelia Schaible, Wirtschaftswetter
Text: © Cornelia Schaible
Fotos: ©Cornelia Schaible,
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