Angelika Petrich-Hornetz
60 Jahre nach Kriegsende ist, wie in vielen Städten, in Lübeck nichts vorbei. Auch wenn ein großer Teil der Lübecker Innenstadt während des Krieges zerstört wurde, ist auch viel erhalten geblieben. Die Geschichte bleibt lebendig, an jeder Straßenecke wohnt die Erinnerung, u.a. in der Dr.-Julius-Leber-Straße, benannt nach dem gleichnamigen SPD-Politiker, der in der Lübecker Bürgerschaft und später im Reichstag in Berlin wirkte. Er wurde im Januar 1945 hingerichtet, nach einem Urteil des Volksgerichtshofs im Oktober 1944, wegen Beteiligung an den Vorbereitungen des missglückten Attentats auf Hitler in Berlin-Plötzensee - ein Schauprozess. Gleich nach Hitlers Machtübernahme hatte Leber bereits einen feigen Mordanschlag überlebt, wurde zweimal festgenommen und verbrachte vier Jahre im Gefängnis und im KZ Sachsenhausen. Er nahm seine Arbeit im Widerstand nach der Entlassung sofort wieder auf.
Oben am Ende der Straße stehe ich vor dem Haus der Löwenapotheke, in der Erich Mühsam als Apothekergehilfe arbeitete. Der Dichter und Revolutionär wurde im Februar 1933 von den Nationalsozialisten verhaftet, monatelang gefoltert und schließlich in der Nacht im Juli 1937 im KZ Oranienburg von der SS ermordet. So kann man die Reihe in Lübeck fortsetzen, die alterwürdigen Gymnasien in Lübeck hatten viele Schüler, die während der Nazizeit gefoltert, in Konzentrationslager verschleppt und umgebracht worden sind, oder sie konnten sich noch rechtzeitig ins Ausland retten, am besten gleich nach Übersee.
Biegt man nun rechts ab und geht weiter durch die Königsstraße, immer geradeaus, gelangt man zum Burgkloster. Dort kann man sich die ständige Fotodokumentation über das jüdische Leben in Lübeck ansehen, vor und nachdem die Nationalsozialisten auch in Lübeck die Macht ergriffen. Im Burgkloster fand im Juni 1943 der Christenprozess statt. Der Volksgerichtshof reiste dazu extra aus Berlin an und verurteilte vier Geistliche zum Tode. 1933 ließen die Lübecker Hitler zunächst nicht hinein, erzählt man sich. Sie verweigerten den Einzug in die Stadt und er musste auf Bad Schwartau ausweichen. Aus Rache entzog Hitler den Lübeckern die Reichsfreiheit.
Das jüdische Leben fand und findet in Gebäuden statt, von denen einige weltbekannt sind. Die Ausstellung und die Dokumentation tragen Sorge, dass nicht nur Gebäude, sondern die ermordeten Menschen unvergessen bleiben. Hinter dem Burgtor, an der Travemünder Allee zur Linken befindet sich die Geschwister-Prenski-Schule, benannt nach den jüdischen Kindern Max, Martin und Margot Prenski, die von den Nationalsozialisten nach Riga deportiert und dort wahrscheinlich ermordet wurden.
Längst hat Lübeck wieder eine jüdische Gemeinde und eine mit Leben gefüllte Synagoge in der St.-Annen-Straße - die nicht nur 1938, sondern auch 1994 brannte. In dem Gebäude wohnten Menschen, u.a. der Kantor. Ein weiteres Jahr später brannte sie noch einmal, diesmal kleiner, nur ein Nebengebäude, den Täter fand man diesmal nicht. Und als 1996 ein Brand das Asylantenheim in der Hafenstraße zerstörte, wobei 25 Menschen starben, folgte ein Endlos-Prozess - ergebnislos: Bis heute gibt es keinen Täter für 25 Morde. Die Washington Post titelte damals: "Death in Lübeck" in Anspielung auf die Novelle "Tod in Venedig" von dem berühmten Sohn der Stadt, Thomas Mann.
Der, konservativ, stritt sich zunächst noch mit seinem politischen links angesiedelten Bruder Heinrich Mann, erst 1922 versöhnten sie sich wieder. Doch im Oktober 1930 hielt Thomas Mann eine Rede im Berliner Beethovensaal, die Deutsche Ansprache, in der er fragte, Zitat:" ... ob „das Wunschbild einer primitiven, blutreinen, herzens- und verstandesschlichten, hackenzusammenschlagenden, blauäugig gehorsamen und strammen Biederkeit, diese vollkommene nationale Simplizität in einem reifen, vielerfahrenen Kulturvolk wie dem deutschen“ zu verwirklichen sei. 1933 verließen die Manns Deutschland zunächst nach Paris. 1938 trafen sie in den USA ein, 1944 erhielten sie die amerikanische Staatsbürgerschaft. In "Warum ich nicht nach Deutschland zurückehre", einem offenen Brief, wurde deutlich, dass Thomas Mann von der Kollektivschuld der Deutschen überzeugt war. Einer der größten Dichter der deutschen Sprache verbrachte seine letzten Lebensjahre in der Schweiz. Er starb in Zürich.
Eine andere berühmte Emigrantin steckte Hitler schwerer weg: Marlene Dietrich. Der "blonden Venus" versprach der Diktator sogar einen Triumphzug durchs Brandenburger Tor. Doch sie wird zur Anitfaschistin. Aus Wut über ihre Ablehnung wird sie in Deutschland als "Ami-Hure" beschimpft. Noch 1960, bei ihrer ersten Konzertreise nach Deutschland, nennt sie eine Tageszeitung gar "asoziale Parasitin". Und als sie endlich wieder in ihrer Stadt, in Berlin, begraben wird, kommen in einer filmischen Dokumentation ein paar alte Frauen zu Wort, die offen in die Kamera sagen, wie unerwünscht "die hier" sei, die sei ja "längst keine Deutsche mehr gewesen."
In der Breiten Straße lümmeln und flachsen ein paar türkische Jugendliche auf den Sitzbänken. Keine Chance, Ausländer, nicht arisch. Daneben sitzt eine alte Frau, zerlumpt und angetrunken, sie bettelt die vorbeieilenden Passanten um Zigaretten an. Keine Chance, unwertes Leben, höchsten noch zu medizinischen Versuchen brauchbar. Ich schau in die Gesichter der Passanten. Hätten sie jemanden denunziert, wegen Bettelns? Auch wenn sie gewusst hätten, die alte Frau käme in eine der gefürchteten Irren- und Versuchsanstalten der Nazi-Ärzte? Ich glaube nicht, wir wissen doch jetzt soviel.
Wissen wir? Ein paar Meter weiter betreiben ein paar Jugendliche einen Informations-Stand, irgend etwas über Naturschutz und Solarenergie. Auch keine Chance, volkszersetzende Elemente, Gestapo, Misshandlung, vielleicht Gefängnis oder KZ. Da kommt der Bürgermeister. Er geht ins Rathaus, zu Fuß, das gibt es in Lübeck öfter sowie andere demokratische Politiker, die diese Stadt gern zu Fuß durchqueren, um an ihren Arbeitsplatz zu gelangen. So schön ist sie, so knapp sind die Parkplätze.
Auch die meisten Politiker von heute hätten zwischen 33 und 45 wenig Chancen gehabt, lassen sich nicht auf einen Diktator einschwören. Sofort nach der Machtergreifung zum Schweigen gebracht, je weniger "Politische", desto besser. Ich gehe weiter, in die St.-Annen-Straße, an der Synagoge vorbei - die wäre auch nicht da, erst die Scheiben eingeworfen, dann weg - hinein ins Kunst-Café, das von behinderten Menschen betrieben wird. Die mediterane Küche dort ist sehr lecker, die Rotspon-Torte auch - keine Chance, die Mitarbeiter wären deportiert worden. Außer deutscher Hausmanns- und Kriegskost gabs von 1932 bis 1945 zeitweise auch gar nichts zu essen. Am Tisch neben mir unterhält sich ein junges Paar. Ich verstehe die Sprache nicht und tippe auf Polnisch. Was wäre mit ihnen geschehen? Wäre er zur Zwangsarbeit verschleppt worden? Und sie? So blondbezopft, wie sie ist, hätte man sie in ein Lebensborn-Heim gesteckt, die arische Rasse zu züchten.
Eine Demokratie verlange von jedem Bürger große Wachsamkeit sagt abends ein amerikanischer Veteran im Fernsehen, man dürfe sie nie aus den Augen lassen. Oder wie Fritz Bringmann, der Lübecker Junge, der am 1. Mai auf ein Hausdach mit weißer Farbe tünchte: "Nieder mit..." Bevor er "Hitler" hinzufügen konnte, schnappte ihn die Gestapo, er kam ins KZ, überlebte. Bringmann sagt: "Schweigen darf nie wieder Leid und Terror bringen".
Er ist einer von diesen Wachsamen. Die Amerikaner, Russen, Engländer und Franzosen haben uns vom tausendjährigen Reich befreit, die damaligen Deutschen, und diejenigen, die Hitler-Deutschland übrig gelassen hat, sowie all die Leute, die ich heute sah und sie mich. Sie leben, ich auch. Wir haben überlebt. Wir wären sonst nie geboren worden. Wir wären elend gestorben, gefoltert, umgebracht worden, ohne die Befreiung 1945. Millionen sind tot. Es hört nie auf. Die Demokratie braucht unsere Wachsamkeit, und wir brauchen die Demokratie.
2005-05-08 by Angelika Petrich-Hornetz, Wirtschaftswetter
Text: © Angelika Petrich-Hornetz
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