von Cornelia Schaible
Das Fenster meines Arbeitszimmers geht direkt auf eine große Wiese, die von einem Bachlauf mit Bäumen begrenzt wird. Und weil der Raum halb ins Erdreich eingetieft ist und das Fenstersims fast den Boden berührt, habe ich die Außenwelt bestens im Blick. Mit allem, was draußen vorbeispaziert. Und da ist einiges unterwegs: Ziemlich oft schiebt sich ein langer schwarzer Hals ins Bild, mit einem Schnabel dran. Verharrt kurz, bewegt sich dann weiter. Gans ohne Eile. Meistens folgt gleich noch ein Gänsehals hinterher. Will ich mehr sehen, muss ich allerdings aufstehen – meistens lasse ich mich gerne ein wenig von der Arbeit ablenken. Wenn so ein Gänsepaar würdevoll vorbeiwackelt, mit stolz geschwellter Brust, hat es nämlich meistens Junge dabei. Und das ist ein Anblick mit einigem Unterhaltungswert.
Das Gänsespektakel vor meiner Wiese ist dabei nichts Ungewöhnliches. Die Kanadische Wildgans (Branta canadensis), um die es sich hier handelt, ist ein vertrauter Anblick in ganz Nordamerika – in Kanada und in den nördlichen US-Bundesstaaten allerdings nur im Sommer. Auch nach Michigan kommen die Gänse zum Brüten, und wenn die Jungen groß genug sind, ziehen alle zum Überwintern wieder in den Süden. Ihr V-förmiges Flugbild ist unverwechselbar, und jedes Kind kennt sie.
Ihr Gefieder ist zwar unauffällig graubraun meliert, aber der langgezogene schwarze Hals und die weißen Bäckchen sind nicht zu verkennen. Mit der Wildgans verhält es indessen wie mit dem Löwenzahn: Plötzlich taucht sie im Frühjahr auf und alle freuen sich, aber dann wird sie lästig. Weil sie den Rasen ruiniert. Gut für die Gans: Im Gegensatz zum Löwenzahn ist sie weitgehend geschützt. Auch außerhalb der Brutsaison darf man sie nur zu bestimmten Zeiten jagen – um die Überpopulation in den Griff zu bekommen.
Bei all den Gänsen da draußen kann man sich gar nicht vorstellen, dass die Spezies in Michigan bereits einmal ausgestorben war; die letzten Exemplare wurden um 1900 gesichtet. Um die vollständige Ausrottung zu verhindern, gab es sogar Brutprogramme, und der stattliche Vogel wurde in Naturschutzgebieten ausgesetzt und gehegt und gepflegt. Das ist ihm offenbar ausgezeichnet bekommen: Nach Angaben der staatlichen Naturschutzbehörde stieg die Zahl der im Frühjahr gezählten Gänse von 9000 im Jahr 1979 auf über 300.000 bis zum heutigen Tag. Ich würde allerdings sagen, dass es viel mehr sind. Gänse gibt’s hier nämlich überall. Wahrscheinlich sind sie die eigentlichen Bewohner von Metro Detroit – und die Menschen stellen ihnen die Infrastruktur zu Verfügung.
Die Gans setzt sich hier zu Lande ins gemachte Nest. Nicht nur im Gebiet der Großen Seen hatten es Wildgänse nie besser: Bevor die weißen Siedler kamen, war Lederstrumpf-Land über weite Teile von Sümpfen und Wäldern bedeckt; offene Flächen waren eher selten. Aber erst die Erfindung der Vorstädte mit unzähligen Rasenflächen und künstlichen kleinen Gewässern schuf den idealen Lebensraum für die Gans. Und wie immer, wenn sich eine Tierart besonders erfolgreich an die veränderte Umwelt anpasst, spricht der Mensch von „Kulturfolger“ und nimmt übel. Vor allem Golfspieler hassen es, wenn grasendes Federvieh das makellose Grün mit seinen Würstchen verziert.
Dabei scheinen sich die Gänse gerade in unmittelbarer Nähe menschlicher Siedlungen besonders wohl zu fühlen. Der kleine Teich in unserer Wohnanlage – ein Gänseparadies. Neulich folgte ich den Viechern einmal unauffällig, um zu sehen, wo sie hingehen, wenn das Gewässer gelegentlich verwaist. Des Rätsels Lösung: Gleich nebenan, auf der anderen Seite des Fahrwegs, ist noch so ein Tümpel. Manchmal schwebt auch ein weißer Reiher ein und steht für eine Weile vornehm im Wasser.
Die Prärie, den ursprünglichen Lebensraum, teilte sich das Geflügel mit Raubtieren, die auf Gänsebraten scharf waren. Heute werden die Vögel höchstens vom Rasenmäher aufgescheucht – dann setzen sie empörte Gesichter auf und watscheln beleidigt von dannen. Vielleicht holt der Waschbär mal ein Ei. Aber die Gans, die am Teichufer geschlagene vier Wochen auf ihren Eiern saß, konnte offenbar ganz unbehelligt brüten. Wo wohl die anderen ihr Gelege hatten? Denn im Mai kamen die Gänsefamilien nacheinander zum Vorschein und weideten auf dem grünen Rasen.
Im Gegensatz zur Entenmama, die ihren Nachwuchs allein erziehend in der Gegend spazieren führt, ist die Aufzucht der Gänslein die Sache von beiden Eltern. Nun, sie müssen dafür nicht viel tun – die Kleinen picken von alleine. Da gibt es keine hungrigen Schnäbel zu stopfen. Aber man muss gut auf den Nachwuchs aufpassen, wenn er sich durch die Wiese futtert. Wie alle Tiere, die sich hauptsächlich von Gras ernähren, sind Wildgänse pausenlos am Fressen, und das strengt ganz schön an. Aber die Kleinen entdecken rasch, dass man auch im Liegen bequem ein paar Hälmchen zupfen kann.
Generell nehmen die Gänse ihren Nachwuchs gern in die Mitte – auch auf dem Wasser. Und die Kleinen werden offenbar dazu angehalten, schön brav neben- oder hintereinander im Gänsemarsch zu gehen. Praktisch, wenn’s über die Straße geht: Die Gänse überqueren auch schon mal vierspurige Autobahnzubringer. Auf der anderen Seite leuchtet das Gras noch grüner. Und den großen Pickup-Trucks und SUVs bleibt nichts anderes übrig, als geduldig zu warten, bis es Familie Gans auf die andere Seite geschafft hat. Manchmal endet so ein Auflug aber auch tragisch, und es gibt Gänseklein.
„Warum fliegen die nicht?“ fragte mich kürzlich jemand. Ja warum wohl: Weil sie nicht können. Die Aufzucht der Jungen fällt in die Zeit der Mauser, und dann verlieren die Gänse ihre Flugfedern. Auf der Wiese sieht’s aus wie nach einer Kissenschlacht. Allerdings sind sie wohl nicht ganz fluguntauglich – ich habe auch im Frühsommer schon Gänse einfliegen sehen. Aber sobald die Küken geschlüpft sind, werden die eleganten Flieger eben einen Sommer lang zu Fußgängern. Ihren flugunfähigen Nachwuchs lassen sie nicht im Stich.
Fast hysterisch besorgt wirken die Gänse-Eltern, die nur ein einziges Küken haben – sie haben auch am meisten zu verlieren. Vor allem als es noch klein und gelb und flauschig war, ließen sie es nicht aus den Augen. Und der Stolz auf den Nachwuchs ist ihnen deutlich anzusehen. Wenn ich mich nähere, kriegt der Gänsepapa einen ganz langen Hals. Er öffnet weit den Schnabel und faucht mich an, so dass die rosa Zunge heraushängt.
Aber so ganz klar sind die Familienverhältnisse nicht immer. Kürzlich traute ich meinen Augen kaum, als ich für die tierischen Fußgänger bremste, und eine nicht enden wollende Gänsekinderschar über die Straße stolperte – so schnell konnte ich gar nicht zählen. Abends sah ich das Gänsepaar mit den vielen Kindern auf dem Teich schwimmen, es waren 13 Stück. Wahrscheinlich haben sie noch ein paar dazu adoptiert – nicht alle scheinen gleich alt zu sein. Wenn die etwas gerupft wirkenden Junggänse älter werden und bereits die charakterische Kopfzeichnung durchschimmert, scheinen sich die Familienbande ganz allgemein zu lockern.
Später im Sommer werden sie dann nur noch in lockeren Formationen unterwegs sein. Eine Gans wird dabei immer als Wächter abgestellt: Während die andern genüsslich an den Halmen rupfen, muss der Aufpasser eine Fresspause einlegen und mit hoch aufgerecktem Hals den Überblick bewahren. Die einzelnen Gänsepaare lassen sich aber auch noch in der Gruppe ausmachen. Angeblich bleiben sich Gänse ein Leben lang treu – so steht es wenigstens in der Fachliteratur. Ich halte das für eine menschliche Projektion auf tierisches Verhalten. Warum würden sonst in der Paarungszeit im Frühjahr die Fetzen fliegen? Die jungen Ganter, die aus dem Winterquartier heimkommen, wollen auch ein Weibchen. Und die Karten werden wohl nicht selten neu gemischt.
Im Herbst werden die Wildgänse dann zunehmend unruhig, die Flugbewegungen mehren sich. Schließlich versammeln sie sich unter viel Geschrei und nehmen die Route nach Süden. Bis auf die paar, denen es in den Suburbs so gut gefällt, dass sie aufgehört haben, Zugvögel zu sein.
Fotogalerie: Goose Garden
2005-04-25 by Cornelia Schaible, Wirtschaftswetter
Text + Fotos: ©Cornelia Schaible
Foto Banner: Astrid Wehling
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