von Astrid Wehling
Na, mal ehrlich: Wer von uns hat nicht als Kind mit Feuereifer Bilder aus Zeitschriften ausgeschnitten, auf bunte Bögen geklebt und mit Glanzbildchen verziert? Geradezu ein ideales Geschenk zum Muttertag oder Geburtstag.
Ok, ich gebe zu, vielleicht hat nicht jeder kleine Künstler, so wie ich, dazu Mutters Fotoalbum geplündert. Kindersünden, die, soweit ich mich erinnere, gar nicht so gut bei der Empfängerin ankamen.
Was ich damals nicht ahnte: Ich war auf den Spuren einer alten Dekorationskunst, seit Jahrhunderten beliebt und dann irgendwann in Vergessenheit geraten. Was ich ebenfalls nicht wusste: Es gibt auch eine Bezeichnung dafür, nämlich Scrapbooking.
Seit ich in Australien lebe, begegnet mir dieser Begriff fast täglich. In der Werbung, auf Geschäftsschildern, im Zeitschriftenladen. Als dann auch noch vor ein paar Wochen unter meinem Sportstudio eine Scrapbooking School einzog, packte mich endgültig die Neugierde. Was machen all die Frauen (Männer scheinen doch eher in der Minderheit zu sein) dort in ihrer freien Zeit? Sieben Tage die Woche? Also machte ich mich auf den Weg, um mir Scrapbooking erklären zu lassen.
Scrap kommt aus dem Englischen, scrap = Reste, Abfall, und in diesem Fall sind es Papierschnipsel. Eine genaue deutsche Übersetzung dafür gibt es nicht.
Das finde ich seltsam, lerne ich doch als erstes, dass die Wurzeln des Scrapbookings in Deutschland liegen. Obwohl es schon im 17. Jahrhundert Freundschaftsbücher gab, verfeinerten Mädchen in Deutschland die Kunst bis etwa Mitte des 19. Jahrhunderts. Sammlungen von Gedichten, Bildern und Erinnerungen wurden mit Bändern, gepressten Blumen sowie Kunstwerken aus gewebtem echten Haar verziert und dann als Karte oder Büchlein verschenkt.
Ende des 19. Jahrhunderts löste dann die Fotografie die bis dahin beim Scrapbooking üblichen Lithographien, Scherenschnitte und die Stempelkunst ab. Was folgte, waren Jahrzehnte, in denen das Fotoalbum das Erinnerungsbuch verdrängte.
Man schrieb Tagebuch, nur für die eigenen Augen gedacht, anstatt Prosa und Poesie zum Verschenken zu verfassen. Einzig und allein das alte gute Poesiealbum, so wie wir es kennen, schien sich über die Zeiten zu halten.
Vor circa 30 Jahren wurde das Scrapbook dann wieder entdeckt und gründlich abgestaubt. Das Hobby wurde in den USA zum Trend gemacht und verbreitet sich seitdem über die ganze Welt. Ahnenforschung, Familiendokumentationen, Urlaube, romantische, traurige oder fröhliche Erinnerungen werden aufgeklebt, verziert und beschriftet.
Heute findet sich hinter dem Hobby eine ganze Industrie. Wer noch nie in einem amerikanischen oder australischen Fachgeschäft für Scrapbooking war, der schluckt erst einmal kräftig. Wändeweise hohe Regale, gut gefüllt mit Papierbögen, Bordüren, Stanzformen, Stempeln, Aufklebern, Glitzerstaub, Bändern, Papierblumen, Papierfiguren, Farben, Klebstoffen und 1001 Kleinerlei. Dazu Ständer mit Zeitschriften zum Thema, Bücher und Ausstellungswände mit Ergebnissen der letzten Wettbewerbe.
In der Szene gibt es richtige Scrapbooking Stars – Künstlerinnen, die ihre Arbeiten inzwischen in Magazinen und Ausstellungen veröffentlichen oder Kurse geben. Oder, so wie hier, eine Schule eröffnen, in der die TeilnehmerInnen alles rund ums Scrapbooking lernen und ihre Technik verfeinern können.
Um den Kurs nicht zu stören, gehe ich auf Zehenspitzen zwischen den Teilnehmerinnen herum, die mich natürlich schnell als eine “no-scrapbookerin” erkannt haben. Die Stimmung erinnert mich etwas an einen Kinofilm über das Quilten, den ich vor Jahren sah. Eine eingeschworene Gemeinschaft, die bei Kaffee und Keksen zum Teil sehr kunstvolle Bögen gestaltet.
Da werden Fotos von Enkeln mit Gedichten versehen, vielleicht der erste herausgefallene Milchzahn dazugeklebt, oder die Eintrittskarte vom letzten Zirkusbesuch.
Hochzeitsbilder liegen auf Silberfolie, Texte werden auf Transparentpapier ausgedruckt – Wie sind die Scrapbookerinnen früher bloß ohne Computer und Farbdrucker zurechtgekommen? Alte Schulbilder aus den 70ern, verziert mit einen Stück vergessener orange-grüner Tapete und dem ersten Aufsatz. Ferne Reisen auf zwei Papierbögen zusammengefasst und dabei die Stimmung der Urlaubszeit genau wiedergegeben - es gibt nichts, was ich hier nicht entdecke. Da spielt es dann ab und an auch keine Rolle mehr, wie professionell die Künstlerin arbeitet, was zählt sind das Gefühl und die Erinnerungen, die da aufs Papier gebracht werden.
Reichlich motiviert fahre ich nach Hause. Es wäre doch mal eine Idee, das letzte BBQ mit den Freunden in einem Scrapbook zu verewigen, zusammen mit dem Rezept für diese teuflische Bowle und den Beweisfotos vom Tag danach… Obwohl - halt, Moment mal - was für ein Datum haben wir? Anfang April. Bald Mai. Mai? Muttertag! Ich glaube, ich hab da noch irgendwo ein paar alte Alben.
2005-04-15 by Astrid Wehling, Wirtschaftswetter
Text: ©Astrid Wehling
Banner: © Angelika Petrich-Hornetz
Scrapbooks HQ-Fotos ©Astrid Wehling
© Arbeitsmuster mit freundlicher Genehmigung von Carimbastamps, Offenbach
Schlussredaktion: Ellen Heidböhmer
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