von Cornelia Schaible
Die schwarze Deutschlehrerin Sophia Ellis gilt in ihrer Heimatstadt Detroit im US-Bundesstaat Michigan als lebende Legende. Was sie nicht davon abhält, weiterhin an der High School zu unterrichten – auf den Ruhestand hat die 78-jährige Trägerin des Bundesverdienstkreuzes vorerst noch keine Lust. Anfang Juli reiste Ellis mit einer Gruppe von Austauschschülern nach Garbsen bei Hannover.
Bei der Verabredung am Telefon war sie mit dem Treffpunkt gleich einverstanden. „Das ist mein Lieblingsplatz“, erklärt Sophia Ellis, als sie am vereinbarten Ort im Kunstmuseum erscheint. Hier sei sie schon als Kind gewesen. Der heutige Museumsbau des Detroit Institute of Arts (DIA), der eine der bedeutendsten Kunstsammlungen in den USA beherbergt, wurde 1927 eröffnet – in Ellis’ Geburtsjahr, wie sich herausstellt. Und im baumbestandenen Museums-Innenhof erhielt Sophia Ellis ihre Stipendiumsurkunde, die sie zum Studium an der renommierten University of Michigan in Ann Arbor berechtigte. Wann das war? „Im Januar 1945. Lange her“, sagt Ellis. Das Glasdach überm Innenhof habe es damals aber noch nicht gegeben. Deswegen ist die französische Madonna aus dem sechzehnten Jahrhundert in ihrer Nische so verwittert. „Ich habe mich damals in die Figur verliebt.“
Sophia Ellis sieht sich um und stützt sich dabei auf ihren Stock. Die Gehhilfe braucht sie, aber sie ist ihr lästig. Wohin damit im Museums-Café? Seufzend nimmt sie Platz und lehnt die Krücke an den nächsten Stuhl. Früher habe sie Ballett getanzt, erzählt Ellis. „Und heute sagt mein Arzt: "Sophia, deine Beine sind 150 Jahre alt, aber dein Gehirn ist erst 15.“ Falls er damit meint, sie möge endlich Vernunft annehmen und künftig beruflich kürzer treten, mahnt er vergebens. „Warum soll ich mich pensionieren lassen?“ fragt die Lehrerin mit 56 Dienstjahren. Daheim langweile sie sich bloß. Und fast trotzig fügt sie hinzu: „Im Staat Michigan können wir so lange arbeiten, wie wir wollen.“
Das sagt sie auf Deutsch, mit kaum merklichem Akzent. Nur wenn sie über lang Vergangenes berichtet, die Augen schließt und in Erinnerungen kramt, fällt sie regelmäßig ins Englische. Und Sophia, geborene Holley, weiß manches zu erzählen von ihrer Kindheit in Detroit. Von der großen Familie. Einer aus der neunköpfigen Geschwisterschar wurde so richtig berühmt: Der 1990 verstorbene Jazz-Bassist Major Holley trat mit Größen wie Dexter Gordon und Charlie Parker auf. Gerade in Deutschland hat „Mule“ Holley bis heute eine treue Fangemeinde. Den Spitznamen „Mule“ habe ihr Bruder bekommen, weil er seine Instrumente immer auf dem Rücken mit sich herumschleppte, erklärt Ellis. Dann fällt ihr die Geschichte mit Aretha Franklin ein: Dass die „Queen of Soul“ ihre Karriere starten konnte, sei Majors Verdienst gewesen. Die Pastorentochter war es nämlich irgendwann leid, immer nur in der Kirche Gospel zu singen. „Und so ging sie zu meinem Bruder und seiner Frau nach New York City.“ Major habe Aretha daraufhin mit den richtigen Leuten im Show-Business zusammengebracht. Der Rest ist Geschichte.
Wenn Sophia Ellis einmal mit Erzählen anfängt, ist der Nachmittag schnell um – sie hat Dutzende solcher Anekdoten und Histörchen auf Lager. Vor allem aus der Zeit, als Detroit nicht nur Auto-, sondern auch Musikgeschichte schrieb. Als Motown eben. Aber das war dann schon in den Sechzigern. In Ellis’ Jugend hörte man noch ganz andere Töne: Deutsche Einwanderer waren bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die dominierende ethnische Gruppe in Detroit, und zu ihrer Kultur gehörten auch Gesangvereine wie die Harmonie, an die heute nur noch der Name eines Parks erinnert. „Ich habe viele deutsche Volkslieder gesungen“, erinnert sie sich. „Es gab damals ja noch deutsches Radio.“ So habe sie die Sprache schon als junges Mädchen gelernt. Und an der High School belegte sie Deutsch als erste Fremdsprache.
„Ich wollte eine berühmte Wissenschaftlerin werden“, sagt sie. „Und mein Pate sagte, dass alle großen Wissenschaftler aus Deutschland kommen.“ Wie der Mediziner Robert Koch. So las sie alles über Koch, und sie träumte davon: „Ich würde werden wir er.“ Aber dafür musste sie zunächst einmal studieren. Dieses ehrgeizige Ziel vertraute die begabte Schülerin einst auch ihrer Lehrerin an. Deren Kommentar: „Du brauchst doch nicht an die Universität zu gehen. Wenn du groß bist, kannst du in einem schönen Haushalt arbeiten, in Grosse Pointe.“ Da, wo bis heute die feinsten Wohngegenden sind.
Nun – die junge Sophia setzte sich schließlich durch. Auch gegen ihren Vater, der als Gießer in der Industrie arbeitete und von den Plänen der Tochter nicht viel hielt. Unterstützung kam von der Mutter, die schließlich ein Machtwort sprach: „Wenn Sophia zur Universität gehen will, soll sie das tun.“ Dass ihre Hautfarbe sie dabei irgendwie einschränken könnte, auf diese Idee sei sie damals gar nicht gekommen. „Ich war so naiv“, sagt Sophia Ellis. „Meine Eltern hatten mich sehr gut behütet.“ Daher fühlte sie sich sehr getroffen, als sie an der Uni einmal gefragt wurde, welche Gefühle sie denn als farbige Person habe. Als ob Schwarze immerzu darüber nachdächten, dass sie schwarz sind. „Ich war nicht schwarz, ich war Sophia“, sagt Ellis grimmig. „Aufgewachsen in Detroit, behütet von meiner Familie, beschützt von der Kirche und der Urban League.“
Der Detroiter Zweig der Urban League, der ältesten afroamerikanischen Freiheitsbewegung, finanzierte auch ihr Stipendium für die Fächer Deutsch und Biologie. Farbige waren unter den 37000 Studenten der Universität in Ann Arbor damals noch die große Ausnahme. „Wir waren genau 232“, sagt Ellis und lacht. „Aber den Mikroben ist es egal, ob ein Schwarzer oder ein Weißer durchs Mikroskop guckt.“ Besonders beim Deutschstudium habe sie sich von der Außenwelt abgeschirmt und sicher gefühlt: Die fremde Sprache wurde für sie zum Freiraum. Wie schon in ihrer Jugend, als sie ihr Tagebuch auf Deutsch führte, damit ihre Mutter es nicht lesen konnte. Sophia Ellis denkt einen Moment nach, dann sagt sie: „Deutsch, das war immer ein Ort der Zuflucht für mich“ – „it was a place to hide. Ein sicherer Hafen im Sturm.“
Ihren Bachelor-Abschluss machte Ellis 1949. Dann wurde sie Lehrerin – „ich musste einfach Geld verdienen“. Zunächst unterrichtete sie naturwissenschaftliche Fächer, vor allem Biologie, betrieb ihre Deutsch-Studien aber nebenher weiter. 1964 absolvierte sie in Ann Arbor noch ihren Master in deutscher Sprache und Literatur – als einzige schwarze US-Amerikanerin in jenem Jahr. Ihren Traum, einmal nach Deutschland zu reisen, hatte sie sich schon Jahre vorher erfüllt: Im Sommer 1955 arbeitete sie erstmals bei einem Freiwilligen-Projekt mit und half dabei, einen Bunker in einen Kirchenraum umzubauen. Die Bunkerkirche St. Sakrament in Düsseldorf-Heerdt ist heute ein Baudenkmal, das für Ausstellungen genutzt wird, in dem aber auch weiterhin Gottesdienste gefeiert werden. Ihre Gastfamilie von einst hat Ellis erst im vergangenen Jahr wieder besucht.
„Da kam eine Schwarze und sprach Deutsch – die waren platt“, erzählt Sophia Ellis über ihre ersten Erfahrungen im Nachkriegsdeutschland. Verschiedene Partnerschafts-Programme brachten sie auch später immer wieder nach Deutschland. „Na ja, ich hab dann eben die Deutschen studiert, wie die Deutschen die Schwarzen in Afrika studiert haben“, bemerkt sie augenzwinkernd. Für ihre Bemühungen um das deutsch-amerikanische Verhältnis erhielt Ellis 1995 das Bundesverdienstkreuz. „Das hat mir Roman Herzog verliehen, er war mein Lieblingspräsident.“
Im Unterricht schwärmt sie ihren Schülern an der Detroiter King-High-School von deutschen Städten und Landschaften vor – die Wände im Deutschklassenzimmer sind mit Postern aus München, Köln und Tübingen quasi tapeziert. Für die Jugendlichen der renommierten „King High“, die zu über 99 Prozent von Afroamerikanern besucht wird, bleibt Deutschland aber auch künftig ein sehr fernes Land, dessen Karte im Schulbuch abgedruckt ist. Früher habe es mal Austauschprogramme gegeben, sagt Ellis, aber dafür sei kein Geld mehr da.
Einige ihrer Schüler konnten sich aber einer Austauschgruppe aus einer anderen High School anschließen; die Gruppe aus der Detroiter Vorstadt Walled Lake kam Anfang Juli in Garbsen bei Hannover an. Der Austausch der Walled Lake Central High School mit dem Garbsener Johannes-Kepler-Gymnasium besteht bereits seit 30 Jahren. Am 4. Juli, dem amerikanischen Nationalfeiertag, hielt Sophia Ellis in der Schule eine kleine Ansprache, die mit „Guten Morgen, Garbsen!“ anfing. „Die Schüler waren außerordentlich von ihr beeindruckt“, berichtet der Englischlehrer Klaus Hickmann, der den dreiwöchigen Austausch mit organisiert. Ihn wundert das nicht: Im Englischen gebe es bekanntlich das Sprichwort „You can’t teach an old dog new tricks“. Von wegen! Hickmann: „Dies trifft auf gar keinen Fall auf Sophia zu. Sie ist nach wie vor wissbegierig und will immer noch mehr erfahren und lernen.“
Nach den Sommerferien kommt eine neue Herausforderung auf Sophia Ellis zu: Sie wird – nach langjähriger Pause – wieder Biologie unterrichten. Deshalb ist es auch gut möglich, dass sie nach dem nächsten Schuljahr tatsächlich in den Ruhestand geht. Denn an ihrer High School soll es künftig keine Deutschklassen mehr geben – Französisch oder Spanisch sei als Fremdsprachenangebot ausreichend, befand die Schulleitung. Sophia Ellis sieht das anders: Im Deutschunterricht wird den Schülern mehr als nur eine Fremdsprache vermittelt. „Sie lernen, wie man richtig lernt.“
2005-07-15 von Cornelia Schaible, Wirtschaftswetter
Text + Fotos © Cornelia Schaible
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