von S. Stern
Shanghai - ein nicht enden wollender Fundus an Beobachtungsmöglichkeiten in einem Lebensumfeld, dem das Wort „fremd“ oft nicht ausreichend gerecht wird. Eigentlich genügt der Schritt vor die Haustür, und schon ist man überwältigt von Eindrücken der etwas anderen Art.
Jedoch, nach drei Jahren Leben in Shanghai, ist vieles, was mich zu Anfang in seiner Fremdheit in den Bann gezogen hat, heute immer noch und immer wieder aufs Neue spannend, aber dann doch schon recht vertraut und manchmal sogar alltäglich.
Immer, wenn ich Besuch aus Europa bekomme, bringen mir die Erlebnisse und Eindrücke meiner Gäste auch ein Stück jenes überwältigenden Gefühls zurück, das mich selbst die ersten Wochen und Monate in Shanghai begleitete: Laut, lärmend, pulsierend, grell, leuchtend, glanzvoll, faszinierend, abstoßend, übel riechend, modern und trotzdem traditionell. Eindrücke, die mit der Zeit langsam verblassen. Das Lebenstempo ist zu schnell, und genauso schnell ändert sich die Welt um einen herum.
Ich nehme dies auch als willkommenen Anlass, mich wieder einmal neu auf „mein“ Shanghai einzulassen und habe daher einen konkreten Ort ausgewählt, der für mich kulturell immer wieder ungewohnt und voller Spannung ist.
An einem Vormittag unter der Woche habe ich mich aus dem Büro verabschiedet und mich in eine der kleinen Seitengassen begeben, abseits von meinen eingetreten Pfaden und fern vom modernen, mondänen Shanghai. Hier ist Shanghai noch ursprünglich und authentisch, weit entfernt von Tourismus und dem oberflächlichen Glanz der so unerbittlich nach Fortschritt strebenden Stadt.
Die Tiaogong Lu ist keine Einkaufsstraße mit glitzernden Leuchtreklamen, sondern ein traditionelles Wohnviertel und ein brodelnder Mikrokosmos chinesischer Lebenskultur.
Nur wenige Straßenzüge von der nächstgelegenen U-Bahnstation entfernt wird noch chinesisch-kleinstädtisch gelebt und mir drängt sich der Eindruck auf, zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort zu sein. Ich lasse noch einen Supermarkt als eine letzte Bastion westlicher Bequemlichkeit hinter mir, und schon tauche ich tief in das echte chinesische Leben ein. Etwas seltsam ist mir wohl zumute, denn die Gegend hier ist mir nicht sehr gut bekannt. Die Beengtheit der Straße und das nicht enden wollende Durcheinander von Menschen üben eine Faszination, aber auch eine Art von Beklemmung aus. Ich passe meinen an sich recht zügigen Schritt an das gemächliche Tempo der Chinesen an und schlendere vorbei an unzähligen kleinen Geschäften und Garküchen.
Es ist ungefähr 11:00 Uhr morgens und die Chinesen drängen bereits zum Mittagessen. In unvorstellbar engen, bescheidenen und für unsere Begriffe schmuddeligen Räumen sitzen scharenweise Hungrige an wackeligen Tischen, auf kleinen Stühlen. Manche schlürfen bereits - ausgesprochen geräuschvoll - aus einem riesigen Topf ihre Nudelsuppe, andere warten noch auf Essen. Mein offensichtliches Interesse erweckt Neugierde, und bald bin nicht mehr ich der Beobachter, sondern mein westliches Äußeres zieht neugierige Blicke auf sich, und ich werde zum Objekt der Beobachtungen. Ein kleines Kind zeigt mit dem Finger auf mich und ruft: „Waiguoren“ (Ausländer). Es ist Zeit weiterzugehen.
Ein Gemisch aus allerhand Düften zieht durch die Luft, und ich lasse mich davon weitertreiben<. Überall brutzelt, brodelt und raucht es, und die fremdartigsten Speisen werden angeboten.
In engen Hausnischen, die zu einfachen Küchen umfunktioniert sind, werden Fladenbrote frisch gebacken, und in runden, dampfenden Bambuskörben stapeln sich Baozi (eine Art gedämpftes Brot mit Fleisch – oder Gemüsefüllung).
Bei einem Stand herrscht besonderer Betrieb, und so stelle ich mich dazu, um besser beobachten zu können. Der Koch bereitet auf einem kleinen Grill Spieße mit Käfern, Heuschrecken und Meeresfrüchten zu. Die bunten Spießchen finden reißenden Absatz und werden gleich im Stehen auf der Straße verspeist; die Reste werden nach Beendigung der schnellen Mahlzeit umgehend auf der Straße entsorgt. Der Boden ist voll von den hölzernen Überresten des Imbiss und gleicht einem unlösbaren, kolossalen Mikadospiel.
In einem schmalen, finsteren Hauseingang bereitet eine ältere Frau in einem Wok Tofu zu. Es ist der Tofu der stinkenden Sorte (chou tofu). Der Geruch ist beißend und vermischt sich mit dem kalten, abgestandenen Luftstrom, der aus dem Eingang zu mir dringt. Die ärmlichen Lebensverhältnisse sind bedrückend, und ich bin erleichtert, hier nicht lange verweilen zu müssen.
Hinter mir beginnt es laut und energisch zu klingeln. Ein Fahrradfahrer, der auf einem Anhänger eine unvorstellbare Menge von Kisten befördert, bahnt sich auf dem Gehsteig seinen Weg durch die Menschenmassen. Niemanden scheint es zu stören und alle machen, wenn auch nur zögerlich, aber ohne Murren - Platz.
Ich überquere in der Sicherheit einer großen Menschenmenge die stark befahrene Straße. Hier hat ein neues Geschäft eröffnet. Der zur Straße hin offene Laden bietet ein Sammelsurium von Haushaltswaren an. Vom hölzernen Kleiderbügel über Hausschuhe mit rosa Quaste bis zur Unterwäsche aus Vollpolyester ist alles vorhanden. Inmitten dieser Vielfalt steht eine kleine Verkäuferin und schneidet sich die Fingernägel. Sie entdeckt mich und zeigt mir einen lila BH, der mindestens fünf Nummern zu groß ist. Sie möchte unbedingt ein Geschäft machen und nennt unter den ständigen Beteuerungen: „hen pianyi“ (sehr billig) einen unverschämt teuren Preis. Ich lehne auf Chinesisch freundlich dankend ab und werde postwendend wieder vom Beobachter zur Beobachteten. Die Verkäuferin ist hocherfreut, dass ich ein wenig Chinesisch spreche und versucht, mich in ein Verkaufsgespräch zu verwickeln. Ein junges Paar, beide im Schlafanzug, bleibt vor mir stehen und starrt mich unverhohlen an. Erst als aus einem anderen Geschäft ein lautstarker Streit zu hören ist, wenden sie sich von mir ab.
Die lauten, aufgeregten Stimmen machen auch mich neugierig, und ich gehe zu dem Geschäft, aus dem das aufgebrachte Stimmengewirr dringt. Es ist leicht zu finden, denn eine Menschentraube hat sich dort bereits versammelt. Die Stimmung ist am Brodeln, und der Streit eskaliert. Worum es geht, kann ich nicht verstehen, die beiden Streithähne reden sehr schnell und noch dazu im lokalen Dialekt, auf Shanghainese. Ich fühle mich unangenehm berührt und empfinde mein Verhalten als voyeuristisch. Ich kann nicht anders und muss weitergehen.
Ich passiere ein altes, baufälliges Haus, das vollständig von einen Baugerüst aus Bambus eingerüstet ist. Es geht weiter, vorbei an einer kleinen Fahrradwerkstätte. Die Reparaturen werden auf dem Gehsteig durchgeführt, und ein Sammelsurium von schmierigem Werkzeug liegt überall verstreut herum. Der Handwerker hockt inmitten seiner Arbeitsgeräte und macht sich an einem bereits recht lädierten Fahrrad zu schaffen. Es gefällt ihm nicht, dass ich ihn beobachte. Laut schimpfend und mit einer eindeutigen Handbewegung vertreibt er mich.
Ich lege einen Schritt zu. Ein Wassertropfen trifft meine Nase, und jetzt hebe ich erstmals meinen Kopf und schaue nach oben. Überall hängt Wäsche auf Stangen vor den Wohnungen zum Trocknen. Neben Unterwäsche, T-Shirts, Bettwäsche und Windeln finden sich aber auch Schuhsohlen und ein großes Stück Speck. Ich muss instinktiv schmunzeln. Ein junges chinesisches Mädchen, richtet seinen Blick ebenfalls nach oben. Es deutet auf den kuriosen Behang, lächelt mich an und ich lächle zurück.
2005-11-09 by S. Stern, Wirtschaftswetter
Text + Fotos : ©S. Stern
Schlussredaktion: Ellen Heidböhmer
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