von Joy Fraser
Ein Markenzeichen für Nordamerika ist die sprichwörtliche Freundlichkeit. Ich hörte europäische Stimmen behaupten, diese Freundlichkeit sei oberflächlich und verlogen. Das mag so stimmen. Man denke an Michael Jackson, der gern von der Bühne aus ruft: "I love you all". Ist man als Tourist in Nordamerika unterwegs, mag man es auch nervig finden, wenn Kassiererinnen und Bedienungen ständig fragen, ob es uns gut geht, oder uns mit vertraulichen Kosenamen belegen, die in etwa mit "meine Liebe, mein Lieber" oder "Süße, Süßer" zu übersetzen sind.
Aber das ist keineswegs persönlich oder aufdringlich gemeint, sondern schlicht und einfach nordamerikanische Höflichkeit. Ein brummiger Kellner, eine Kassiererin, die ihren Kunden nicht in die Augen schaut, frech wird oder gar ignorant, muss mit der Entlassung rechnen. Höflichkeit ist oberstes Gebot, persönliches "sich kümmern" wird vom Kunden erwartet, oder man vermeidet in Zukunft diesen Laden zu betreten. Die Kanadier die ich kennen gelernt habe, wählen ihre Lieblingsläden nicht nach dem Preis, sondern nach dem persönlichen Service. Wird ein Verkäufer unverschämt, machen sie nie wieder ein Geschäft mit ihm. Kanadier sind da gnadenlos konsequent. Ein freundliches Gespräch verkauft - nicht ein freundlicher Preis oder ein super gutes Produkt. Ein Autoverkäufer, der Kunden übers Ohr haut, ist schneller arbeitslos, als er "zinsfreie Finanzierung" sagen kann. Die Tankstelle mit dem höchsten Preis behält ihre Stammkunden trotzdem, solange die Angestellten freundlich und zuvorkommend sind, gesprächig und humorvoll, persönlich und aufmerksam, und auch noch ein kostenloses Lotto-Ticket springen lassen. Und, nebenbei bemerkt, man grüßt seinen Tankart, wenn man ihn im Supermarkt trifft, anstatt schnell zur Seite zu schauen.
Ich persönlich empfinde diese allgemeine Höflichkeit nicht als aufdringlich, sondern sie bewirkt eine gewisse Erleichterung des Alltags. Lächelnde Gesichter erzeugen ein Gegenlächeln. Und Lächeln ist bekanntermaßen gesund, setzt Endorphine frei und bewirkt, dass man sich gleich besser fühlt. Was man auch durch Schokolade essen erreichen kann, funktioniert in Kanada durch einkaufen gehen, anderen Menschen begegnen, und hat keine Kalorien.
Geht man in Whitehorse (Kanada) auf der Straße an jemandem vorbei und es entsteht Augenkontakt, grüßt man oder lächelt zumindest freundlich. Man fragt Verkäufer, wie es ihnen geht. Die Antwort ist stets vorprogrammiert: "Danke, nicht schlecht", oder man hört Variationen wie: "Danke, gut." Sodann kann man zum eigentlichen Thema übergehen, oder einfach weiterspazieren. Das Gleiche gilt am Telefon. Noch bevor eine Person sich mit dem Namen vorstellt kommt ein freundliches: "How are you?". Man beantwortet die Nachfrage, und dann bekommt man zu hören, wer am Apparat ist. Gleich drauflos zu plappern gilt als grob.
Übermäßig eilig hat es niemand. Man nimmt sich Zeit für den Austausch höflicher Floskeln, und wird auch manchmal persönlich, wenn der Kontakt ein netter ist. Neulich, als ich gerade meine Dollarmünze in einen Einkaufswagen stecken wollte, bemerkte ich den netten älteren Herrn in Supermarktuniform, der den undankbaren Job hat herumliegendes Papier und Müll aufzusammeln. Ansonsten ist es seine Aufgabe, Kunden an der Tür mit einem freundlichen "Hello, how are you today?" zu begrüßen. (Auch eine Art Arbeitsplätze zu schaffen!). Mich hatte er spontan als Deutsche entlarvt, und wir hatten einen netten Plausch. Wenn ich mir nun seinen Namen auf dem Schildchen an seinem Kittel merke und ihn nächstes Mal damit anspreche, bin ich sofort eingebürgert.
An diesem Tag sah er mich nicht gleich, und ich sprach ihn mit der Begrüßungsformel an. Er antwortete diesmal nicht wie ein Roboter mit implantiertem Lächeln, sondern klagte er könne mehr Schlaf brauchen. Ich vermutete eine persönliche Geschichte hinter der Bemerkung, die er gern loswerden wollte, und fragte höflich nach. Er berichtete, er habe ein ausgesetztes Hundebaby gefunden und aufgenommen, und das bringe ihn um seinen Nachtschlaf, weil es die ganze Nacht jault und heult. Ich erzählte von meinen eigenen Erfahrungen mit unserem kleinen Husky-Heuler, und schon war ein echtes, aufrichtiges, nettes, nicht höflich vorgetäuschtes Gespräch im Gange.
Und das ist keine Seltenheit. Die zunächst automatisch heruntergeleierte Höflichkeit führt oft zu guten Gesprächen und neuen Kontakten. Hinter der höflichen Fassade stecken echte Menschen, die ihren Beruf viel mehr lieben wenn sie ihn mit Freundlichkeit ausfüllen. Selbst wenn es im ersten Moment unecht und antrainiert erscheint. Wobei ich sagen muss, dass die Kanadier generell zurückhaltender sind als die Amerikaner, und selten übertrieben wirken. Bisher hat noch keine Verkäuferin die englische Entsprechung von "mein Schätzchen" zu mir gesagt, was mir in Los Angeles öfter mal passiert ist. Darling, Sweetheart, Sweetie, Luv', all diese Worte, die bei uns in den Privatbereich gehören, erfahren in Amerika einen weit lockereren Umgang.
Hier fragt sich der ahnungslose Mitteleuropäer, wie man echte Gefühle von leeren Floskeln unterscheiden soll. Selbst das normalerweise viel sagende "I love you" wird leichtlippig und gedankenlos geäußert. Dies als kleine Warnung an Frauen, die sich in Nordamerikaner verlieben. Man tut gut daran beherzt nachzufragen, ob es sich um eine freundschaftliche oder romantische Liebe handelt, bevor man sich Hals über Kopf in eine Affäre stürzt. Der Umgang mit dieser Art lockerer Vertraulichkeit ist sicherlich Gewöhnungssache, und man findet die wahre Bedeutung spätestens dann heraus, wenn man eine Weile im Land gelebt hat.
Ich komme mit der kanadischen Art und Weise besser zurecht als mit kurz angebundenem, anonym-distanziertem Personal, das wirkt, als sei ihm alles egal, außer der Gehaltsüberweisung am Ende des Monats. Man hat auch den Eindruck, Angestellte sind hier glücklicher. Durch ihre freundliche Ausstrahlung ziehen sie andere freundliche Menschen an, was ihren eigenen Arbeitstag erträglicher macht, und den Kunden lächelnd aus dem Laden gehen lässt.
Was also sollte schlecht an der nordamerikanischen Höflichkeit sein? Unser aller Alltag wird heller, wenn wir andere Menschen anlächeln und freundlich begrüßen, und wir stecken andere damit an. Es ist schön das Gefühl zu haben, ein Verkäufer lässt alles stehen und liegen, nur um sich voll und ganz um meine Bedürfnisse zu kümmern. Mag es antrainiert sein, nur eine Floskel am Anfang des Gespräches, oder nicht. Es hebt mein Gemüt und hinterlässt den Verkäufer mit dem zufriedenen Gefühl jemandem weitergeholfen zu haben.
Auch der Kunde gibt dem Personal nicht das Gefühl der Sklave eines Königs zu sein. Höflichkeit und Respekt wird auf beiden Seiten bekundet, und klappt mal etwas nicht, wie das elektronische Zahlungssystem, so habe ich noch keinen Kanadier ungehalten, arrogant oder gar laut dem Personal gegenüber reagieren sehen. Sicher gibt es Ausnahmen, Drängler und Augenroller gibt es überall, aber grundsätzlich hat man Verständnis für die kleinen Pannen des Alltags, an denen schließlich niemand im besonderen Schuld ist.
Eine amerikanische Freundin von mir kehrte gerade von einem Deutschlandbesuch zurück. Sie berichtete, sie habe sich amüsiert über deutsche Gesichter, nachdem sie ihnen ein freundliches "Hallo" auf der Straße zugerufen hat. Was für sie normales Benehmen ist, verblüffte die Deutschen, löste verlegenes Wegschauen aus. Ist das nicht schade?
2005-09-23 by Joy Fraser, Wirtschaftswetter
Text: © Joy Fraser
Foto: © Cornelia Schaible
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