29. Folge
von Ines Kistenbruegger
Mir ist nicht mehr in Erinnerung, wie häufig mir gesagt wurde: "Es gibt keine dummen Fragen!" Es muss sehr häufig gewesen sein. Und je älter ich werde, desto weniger stimme ich dem zu. Natürlich gibt es dumme Fragen. Das ist die Wahrheit. Bitteschön:
Schon in den Vorlesungen meines Studiums geht es mir auf die Nerven, wenn sich zaghaft die Finger in die Luft recken und mit leiser Stimme jemand fragt: „ Sie haben die Punkte 1., 2. und 4. aufgezählt. Drittens fehlt. Ist die Nummerierung vielleicht falsch?“ Dumme Frage, weil dies eben keine Frage ist. Warum nicht einfach sagen: „Entschuldigung, Sie haben sich in der Nummerierung vertan.“ Ist das unhöflich? Meines Erachtens nicht, aber viele meiner Mitstudentinnen scheinen genau das zu denken.
Hier in den USA, wo die mündliche Beteiligung in vielen der Wirtschaftsvorlesungen obligatorisch ist, tauchen aber auch noch Fragen auf, von denen ich behauptet hätte, sie seien seit meiner Schulzeit vor zwölf Jahren ausgestorben und haben in meinem Leben nichts mehr zu suchen. Es sind die Fragen von MitstudentInnen, die immer alles an der Tafel vorgerechnet haben wollen, bevor sie sich zu Hause hinsetzen, um genau diese Aufgaben selbst zu lösen. Diese halten dann gerne den gesamten Vorlesungssaal auf, weil sie mit ihrem Taschenrechner versuchen nachzumachen, was der Professor an die Tafel schreibt und immer hängen bleiben, wenn sie sich vertippt haben und dann nicht mitbekommen, wenn der Prof bereits den nächsten Schritt erklärt. „Entschuldigen Sie, können Sie das bitte noch einmal wiederholen?“, ist die häufigste Frage überhaupt. Am allerschlimmsten ist diese Studentenkategorie, deren Taschenrechner neu ist und für die das Auffinden der Tasten für die Finanzrechnungen schwierig zu sein scheint. „Ich verstehe einfach nicht, wie die Daten eingegeben werden müssen. Können Sie mir da helfen?“ Eine Mitstudentin von mir beugte sich tatsächlich einmal in so einer Vorlesung zu mir rüber und sagte: „Ich sollte wohl mal die Bedienungsanleitung lesen, aber wie haben immer sooo viele Hausaufgaben, ich finde nie Zeit dazu.“
Dann gibt es da noch diese andere Kategorie Student, die mit verallgemeinerten Fragen nerven. So betreten diese den Vorlesungssaal am letzten Tag vor einer Prüfung mit den Worten: „Ich versteh das alles nicht, kann mir jemand helfen?“ Irgendein leichtgläubiger Mitstudent erbarmt sich tatsächlich auch meistens ihrer und fasst das Gelernte in wenigen Worten zusammen. Ich habe mich mehrfach damit unbeliebt gemacht, in dem ich mich mit einer Gegenfrage wehrte: „Und was genau verstehst Du nicht?“ Und genauso schnell kam dann die Antwort „Alles.“ Häufig konnte ich mit meinen Gegenfragen genau eines herausfinden, der Student konnte nichts verstehen, weil er weder die Literatur zum Thema noch die Übungsaufgaben gemacht hatte. Dann hätte ich auch nichts verstanden. Im eigentlichen Sinne stellt der Fragende noch nicht einmal eine Frage. Es ist eine Unfrage. Ein Statement. Ich habe das nicht verstanden. Ich komme nicht voran. Das macht keinen Sinn. Den Ball wegwerfen und die Verantwortung weitergeben. Oder noch besser, davon profitieren, dass andere gearbeitet haben: Ein klassischer Schmarotzer.
Auch in meinem Leben als Projekt- und Teamleiterin ist mir eine besondere Fragetechnik aufgefallen. Manche Menschen beherrschen diese Technik so perfekt, dass sie im eigentlichen Sinne nie etwas selbst machen, außer mit der Leistung anderer zu glänzen. So hatte ich einen Mitarbeiter, der zwar nett und höflich, aber keine Bereicherung für das Team war. Er nahm Aufgaben entgegen, ohne sich Notizen zu machen oder eine Frage (!) zu stellen. Und immer kam er nach wenigen Stunden wieder und behauptete, er käme nicht voran. „Was haben Sie denn bereits gemacht?“ Nichts. „Woran hakt es denn?“ An allem.
In meiner Funktion als Leiterin des Teams und des Projektes entwarf ich mit ihm, einen Startplan in Form einer Liste. Er war ja noch neu und unerfahren, also wollt ich ihn unterstützen und bat ihn die einzelnen Punkte abzuarbeiten. Der erste Punkte der Liste lautete, die Probleme an einer Maschine in einem Bericht zusammenzufassen. Stunden später kam er dann wieder, erzählte, mit wem er alles geredet hätte und fing an die Probleme der Maschine aufzulisten.
Ich frage ihn nach seinen schriftlichen Notizen. Er hatte keine gemacht (!) und sagte, dass er noch auf die schriftliche Liste des Maschinenführers wartete. Häh? Er könne somit auch noch keinen Bericht schreiben, da dieser auf der Liste des Maschinenführers aufbaute. Ich brauche wohl nicht näher auszuführen, dass er sobald er die Liste des Maschinenführers tatsächlich in seinen Händen hielt, zu mir rannte, um mir mitzuteilen, dass er damit nichts anfangen könne ...
Also gab ich ihm ein paar Richtlinien mit auf den Weg, wie ein Bericht aufgebaut sein müsse und welche Informationen wichtig seien. Daraufhin bat ich ihn mit dem Bericht einfach einmal anzufangen und zu mir zu kommen, sobald er nicht weiter wisse. Der arme Mann nahm die Liste und schlich davon. Später ertappte ich ihn, wie er von Kollegen zu Kollegen rannte und sich Hilfe erbat. Er kam wieder zu mir mit einem Bericht, den letztendlich alle anderen für ihn geschrieben hatten, und sein Beitrag war, seinen Namen darunter zu setzen. Auf meinen Vorwurf blickte er mich nur groß an und sagte, er hatte die Aufgabenstellung nicht verstehen können. „Was hattest Du nicht verstanden?“ „Es war unklar formuliert, was ich tun sollte.“ „Wie hätte ich Dir die Aufgabe besser erklären können?“ Schulterzucken.
Das ist der Punkt in meiner Karriere gewesen, an dem ich mich das erste Mal sehr wunderte, was so kompliziert am Fragen und Antworten ist. Warum ist es so schwer auf Basis von Fragen und Antworten zu kommunizieren? Warum kann kaum jemand präzise formulieren, was nicht verstanden wurde oder wo ein Problem liegt? Alles wird mit verallgemeinerten Aussagen schwammig vernebelt. Manchmal ist mein Eindruck, dass einige Mitmenschen tatsächlich überzeugt davon sind, wenn etwas nicht auf Anhieb klar ist, dann ist es falsch.
Bevor so jemand Zeit investiert, um zu verstehen, was hinter dem vermeidlichen Problem liegt, wird das Wissen eines anderen abgeschöpft. Ist das schlecht? Hier spalten sich die Meinungen. Die einen sagen, dass es in der Verantwortung des Aufgabenstellers ist, die Aufgabe so eindeutig und verständlich wie möglich darzustellen. Jede Frage ist somit erlaubt und auch notwendig - als Lernprozess für den Aufgabensteller.
Meiner Meinung nach wird diese Frageerlaubnis aber benutzt, um den eigenen Aufwand möglichst gering zu halten, sozusagen ökonomisch überstrapaziert. Der Lernprozess für den Fragenden wird auf diese Weise minimiert. Auf ein Arbeitsteam oder sogar eine ganze Gesellschaft bezogen ist das ein eindeutiger Hinweis auf Bequemlichkeit, auf Angst vor der eigenen Verantwortung und auf eine mangelnde Bereitschaft, seinen Pflichtanteil auf sich zu nehmen und damit ist es schlichter, mangelnder Einsatz. Die eigentliche Frage ist dann nicht, ob jemand eine Frage stellen darf, sondern ob es zulässig ist, von seinen Mitmenschen, Kollegen oder Mitarbeitern einen gewissen Anteil selbständigen Nachdenkens zu erwarten, bevor diese andere um Hilfe bitten? So wie ich von meinen MitstudentInnen mittlerweile erwarte, dass diese das entsprechende Kapitel im Buch gelesen haben, bevor sie eine Frage zum Thema stellen, so erwarte ich von Mitarbeitern, dass diese versuchen, sich mit einem aufgabenbezogenen Problem selbständig auseinanderzusetzen, bevor sie Dritte um Hilfe bitten und damit deren Arbeitszeit in Anspruch nehmen.
Ich hatte mir also nach dem Erlebnis mit diesem schwierigen Kollegen vorgenommen, das Kommunizieren auf Basis von Fragen und Antworten zu üben. Der erste Schritt war das Üben von gezieltem Fragen. Es kam tatsächlich schon einmal vor, dass ich einen Kollegen wegschickte, mit der Bitte wiederzukommen, wenn eine konkrete Frage vorläge. Mit Verallgemeinerungen und oberflächlichen Bemerkungen wollte ich nicht mehr meine Zeit vertun. Ich wollte, dass meine Mitarbeiter lernten, sinnvolle Fragen zu stellen:
Statt mir anhören zu müssen, "das Berechnungsprogramm funktioniert nicht", wollte ich, dass die Mitarbeiter zu mir kamen mit der Datenquelle, einem Ausdruck der Eingabedaten und dem Ergebnis. Und sie sollten präzise formulieren, warum sie dachten, das Ergebnis sei falsch. Statt zu mir zu kommen mit so einem aussagekräftigen Satz wie: "Ich kann das Formular nicht ausfüllen", wollte ich erreichen, dass sie die Lücken soweit selbständig ausgefüllt hatten, wie nur irgend möglich. Niemand durfte zu mir kommen, ohne zumindest die Basis fertiggestelllt zu haben wie den Namen, die Abteilung und das Datum. Besser wäre natürlich noch mehr gewesen. Beliebt machten sich die Mitarbeiter, die tatsächlich bereits das Formular fertig ausgefüllt hatten und nur noch einmal nachfragten, ob dies so richtig sei, oder mit einer letzten Lücke, die sie eindeutig formulieren konnten, zum Beispiel: „Ich weiß nicht, woher ich die Projektnummer bekomme.“
Nun bin ich am Ende angelangt, um Ihnen zu erläutern, was mich an der heutigen Fragekultur nervt. Meine Empfehlung ist sehr einfach: Ein bisschen selbständiges Nachdenken, mal ein Buch aufschlagen oder andere zur Verfügung stehende Informationsquellen nutzen etc. Dann lösen sich viele Probleme wie von selbst. Und wenn nicht? Dann kann man immer noch fragen - aber bitte gezielt.
Detroit, 2005-08-29 by Ines Kistenbrügger, Wirtschaftswetter
Text: ©Ines Kistenbrügger
Illustrationen: ©Angelika Petrich-Hornetz
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