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Alle Jahre wieder ein neuer Präsident

Demokratie nach Schweizer Art: Viel Konsens und wenig Glanz

von Cornelia Schaible

Flagge Schweiz Als ich einst an der Universität Tübingen neben anderen netten Dingen auch Politikwissenschaft studierte, kam ich ziemlich oft in die Lehrbuchsammlung – immer auf der Jagd nach wichtigen Fachbüchern, die ständig ausgeliehen waren und viele Wochen lang vorbestellt werden mussten. In den langen grauen Regalen herrschte durchweg gähnende Leere. Nur ein dicker gelber Wälzer stand unverrückt an seinem Platz. Der Titel: „Das politische System der Schweiz.“ Kein Mensch hat das Buch je ausgeliehen, wozu auch. In meiner ganzen Studienzeit wurde nie ein Seminar zu diesem Thema angeboten. Wahrscheinlich steht der Band – in einer neueren Ausgabe – immer noch dort und zieht Staub an. Wer, bitte, interessiert sich schon für Politik in der Schweiz?
Ich bin ohnehin fest davon überzeugt, dass viele Deutsche im Glauben leben, dass die Schweiz gar keine richtige Regierung hat. Wahrscheinlich nie eine hatte und auch keine braucht – wie war das noch mit dem Rütlischwur? Oder sie bei einer Volksabstimmung kurzerhand abgeschafft hat; mit der Armee klappte das schließlich auch beinahe. Wie es halt so geht in einer direkten Demokratie. Wenn ich gelegentlich die kleine Quizfrage stelle: „Wie heißt der Bundespräsident der Schweiz?“ stoße ich jedenfalls nicht selten auf ungläubiges Staunen: „Nee – gibt’s den wirklich?“

Ja, es gibt ihn, und im Jahr 2005 hieß er Samuel Schmid. Heuer (2006) bekleidet Moritz Leuenberger das Amt des Schweizer Bundespräsidenten, den das Parlament alljährlich aus dem Kreis der Bundesräte wählt. Kein Wunder, dass sich niemand den Namen merken kann. Vielleicht fällt es bei Leuenberger leichter, denn der ist schon zum zweiten Mal dran. Da es nur sieben Bundesräte beziehungsweise Minister gibt, die rotieren, kommt das mitunter vor. Der Präsident gilt allerdings nur als „Primus inter pares“, als Erster unter Gleichen, und wird allenfalls auf internationalem Parkett wie ein Staatsoberhaupt behandelt. Wahrscheinlich reist er genau deshalb hin und wieder sogar ins Ausland.

Die Schweizer selbst schenken ihrem Präsidenten keine große Beachtung, weshalb er sich meist eher unauffällig unters Volk mischt. Passend dazu Samuel Schmids Motto fürs abgelaufene Präsidentenjahr: Begegnung. Hoffentlich merkten das auch alle Schweizer, wenn sie ihm zufällig begegneten. „Überraschungsbesuch in den Kantonen Zug und Uri“ stand etwa am 1. April in Schmids Agenda. Die Überraschung hält sich freilich in Grenzen, wie ich in meiner Schweizer Zeit lernte – bei der „Escalade“ in Genf, einem Volksfest in Gedenken an den missglückten Überfall der Savoyer anno 1612 auf die Stadt, erspähte ich den damaligen Bundespräsidenten Adolf Ogi über mir auf einem Balkon. „Ah – le président“, bemerkte ein Mann neben mir in der Menge, konzentrierte sich aber gleich wieder auf den historischen Festumzug. Sonst nahm niemand Notiz.

Das ist nicht die einzige Kuriosität am politischen System der Schweiz, wo das Volk die Regierenden mit Initiativen und Referenden das Fürchten lehrt. Die Eidgenossen geben sich außerdem mit einem Milizparlament zufrieden. Das ist zwar im Prinzip nichts Schlimmes und bedeutet lediglich, dass die National- und Ständeräte ihr Mandat nicht hauptberuflich ausüben, was aber manche an ernsthafter Politik interessierte Schweizer für genau so gefährlich halten, wie es sich anhört. Außerdem haben die Eidgenossen eine Bundeskanzlerin. Ehrlich. Und das schon viel länger als die Deutschen – seit 2000 hat Annemarie Huber-Hotz dieses Amt inne. Zugegeben, es hat nicht ganz dieselbe Funktion wie in Deutschland oder Österreich: Die Schweizer Bundeskanzlei ist für die Koordination der Bundesverwaltung zuständig. Aber immerhin scheint der Einfluss der Behörde neuerdings zuzunehmen, und so spricht man schon vom „achten Bundesrat“. Frau Huber-Hotz durfte auch mit aufs Bundesrats-Foto.

Sollte nun der Eindruck entstanden sein, dass die politischen Ämter der Schweiz allenfalls zum Gegenstand von Anekdoten taugen, ist dieser nicht ganz falsch – zumindest aus eidgenössischer Sicht. Nur so lässt sich erklären, dass zumindest die deutschsprachige Schweiz ein wenig neidisch gen Norden blickt. Über die politischen Vorgänge im Nachbarland ist man in Helvetia bestens informiert – in der Berichterstattung der Schweizer Tagesschau kommt Berlin neben Bern garantiert nicht zu kurz. Auch nicht nach dem Wahlkampf. Und lässt sich ein deutscher Kanzler offiziell in der Schweiz blicken, sind alle ganz aus dem Häuschen. Die Walliser Gemeinde Raron ließ einst an der Burgkirche sogar eine Gedenktafel anbringen, „in dankbarer Erinnerung an den Besuch des Rilkegrabes und der Rarnerburg durch Herrn Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl am 14. April 1989“. Wie schön, dass Altbundeskanzler Gerhard Schröder – neben all den anderen Beschäftigungen, die er noch in der Pipeline hat – beim Schweizer Medienkonzern Ringier anheuerte.

Hausfassade Dabei gibt es auch in der Schweizer Politik durchaus spannende Momente. Wie im Jahr 2003, als die so genannte „Zauberformel“ gekippt wurde. Seit 1959 hatte man die Bundesratsposten unter den vier großen Schweizer Parteien – ungeachtet des jeweiligen Wahlergebnisse – wie folgt verteilt: FDP, CVP und SP erhielten jeweils zwei Posten, die SVP einen. Das nannte sich das Schweizer Modell der Konkordanzdemokratie. Mit dem Wahlsieg der SVP im Oktober 2003 büßte die CVP einen Posten ein, und der Rechtspopulist Christoph Blocher schaffte als zweiter SVP-Bundesrat den Sprung in die Regierung.

Die heile Welt der eidgenössischen Politik war allerdings schon zwei Jahre vorher in ihren Grundfesten erschüttert worden. Am 27. September 2001 drang der Amokläufer Fritz Leibacher ins Zuger Kantonsparlament ein, tötete mit dem Sturmgewehr 14 Politiker und richtete sich am Ende selbst. In öffentlichen Gebäuden wurden die daraufhin die sehr lax gehandhabten Sicherheitsvorkehrungen verschärft. Besucher des Berner Bundesparlamentes passieren seit 2003 eine Sicherheitsschleuse. Nach einem Bericht des „Tagesanzeigers“ konfiszierte der Sicherheitsdienst am Eingang des Bundeshauses schon zahlreiche Waffen; eine Person habe gar versucht, „mit einer gut getarnten Schusswaffe“ ins Parlament zu gelangen.
Trotzdem soll es immer noch Bundesräte geben, die einfach mit dem Tram zur Arbeit fahren. Für so bedeutend, dass sie ihre Sicherheit in der Öffentlichkeit ständig gefährdet sehen, halten sie sich dann doch nicht.

2006-01-01 by Cornelia Schaible, Wirtschaftswetter
Text: © Cornelia Schaible
Foto: © Cornelia Schaible
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