von Anne Siebertz
Unsere Welt wächst zusammen. Autos und Flugzeuge bringen uns an jeden Ort der Welt, die Globalisierung ist in aller Munde. Doch was uns wie eine Erscheinung der modernen Zeit vorkommt, ist in Wahrheit schon immer das Bestreben der Menschheit gewesen. Schon seit Jahrhunderten erfand der Mensch Fortbewegungsmittel: mit der Kutsche, dem Fahrrad, der Eisenbahn wurden Entfernungen und Grenzen überwunden. Allein die Alpen schienen in Mitteleuropa lange Zeit eine fast unüberwindbare natürliche Grenze darzustellen. Bis Baumeister und Ingenieure auf die Idee kamen, statt der Passstraßen über die Alpen, Tunnel durch die Berge zu bauen. .
Der 1898 begonnene und 1906 vollendete Simplon-Tunnel zwischen der Schweiz und Italien war eines dieser Projekte. Die Eisenbahn sollte den Süden Europas mit der Schweiz, Frankreich und Deutschland verbinden, die Nationen sollten zusammen wachsen. In diesem Jahr finden in der Schweiz überall Jubiläumsfeiern zum 100-jährigen Bestehen des Tunnels statt, der für tausende von Menschen neue Hoffnungen auf eine andere, neue Welt aufkeimen ließ.
Der Düsseldorfer Autor und Wissenschaftsjournalist Wolfgang Mock hat die Ära des Tunnelbaus in seinem packenden Roman „Simplon“ detailgetreu nachgezeichnet. Angeregt durch seine eigene Familiengeschichte hat sich Mock für diese bewegende Geschichte fast zwanzig Jahre lang mit diesem Thema beschäftigt, bevor er sie nun in Romanform vorgelegt hat.
Auf 354 Seiten begleitet der Leser den italienischen Ingenieur Alessandro Tello auf dem Weg voller Hoffnungen und Träume. Frisch verheiratet mit Gianna ist Alessandro in den Jahren kurz vor Beginn des 20. Jahrhunderts war er einer der Pioniere des Tunnelbaus. Voller Zuversicht verlässt das Paar die von Arbeitslosigkeit und Hungersnöten gezeichnete Trostlosigkeit Turins und bricht auf in das Bergdorf Varzo am Fuße des Simplon. Ihnen folgen hunderte von Arbeitern und Angestellten. Das ehemals verträumte Bergdorf an der Passstraße in die Schweiz explodiert förmlich in den acht Jahren des Tunnelbaus. Unterkünfte für die Arbeiter, Eigenheime, Restaurants, Bars und Geschäfte entstehen, nicht zuletzt ein Krankenhaus. Doch der Tunnel bringt nicht nur Wohlstand und Frieden. Die Arbeit im Bergbau ist hart und bringt die Männer an den Rand der Erschöpfung. Während der Berg sich auf italienischer Seite mit äußerst hartem Gestein hartnäckig den Eindringlingen zu widersetzen scheint, treffen von schweizerischer Seite wiederholt Meldungen über den erfolgreichen Fortgang der Arbeiten ein. So lastet zusätzlicher Leistungsdruck auf den Ingenieuren und Arbeitern am Vortrieb, ein Druck, dem viele nicht gewachsen sind. Der Traum von einem Leben mit Arbeit und Wohlstand zerplatzt, als Streik, Aufwiegelung und Intrigen die Arbeiten trotz guter Bezahlung immer wieder verzögern. Der Tunnelbau wird für viele über eine schier unendliche Zeitspanne zu einem aufreibenden Lebensprojekt mit ungewissem Ausgang. Am Ende ist es nur noch die Vision einer besseren Zukunft, die den Menschen letzte Kraft verleiht.
Der Durchbruch zwischen der Schweiz und Italien war 1906 geschafft. 1914 brach der erste Weltkrieg aus.
Mit „Simplon“ gelingt es dem Autor, den Leser in eine Zeit vor gut hundert Jahren zu versetzen, ihm jedoch zugleich immer wieder die Parallelelen mit der heutigen Zeit vor Augen zu führen. Das Zusammenwachsen der Nationen, die Erschließung neuer Horizonte, die Suche nach Arbeit, Wohlstand und weniger Grenzen sind die zentralen Themen. Dass diese weit hinter der wirtschaftlichen Realität mit Revolution, Arbeitslosigkeit und Klassenkampf zurückstehen, steht auf einem anderen Blatt. War damals das Glück verheißende Element die Eisenbahn, so sind es heute Autos und Flugzeuge, die das Tor zu neuen Welten öffnen. Doch damals wie heute ist der Mensch unterwegs, auf der Suche nach einer besseren Zukunft, die hinter dem Hier und Jetzt liegt.
Durch die langjährige Recherche gelingt es Mock, einen Roman vorzulegen, der sich wie ein authentisches Zeitzeugnis liest. Die Figuren sind lebensnah und überzeugend gezeichnet. Mit guter Beobachtungsgabe beschreibt Mock nicht nur die technischen Details des Tunnelbaus, sondern zeichnet auch ein akribisch genaues Bild der sozialpolitischen Lebenssituation der Menschen. In der Enge des Bergdorfes, wo tausende von Menschen auf kleinstem Raum zusammen leben, kommt es immer wieder zu allzu menschlichen Konflikten.
Eine ungewöhnliche Perspektive am Rande des Geschehens bietet die Prostituierte Marcella, die die Gefühlswelt der hart arbeitenden Männer als Außenstehende beschreibt. Sie taucht erst nach gut einem Drittel des Buches auf, mal als Ich-Erzählerin, dann wieder in der dritten Person. Das wirkt mitunter befremdlich, wenn nicht gar störend, da auch andere Charaktere ihre Gedanken und Beweggründe offen legen, ohne die Perspektive des Ich-Erzählers einzunehmen. Denn gerade durch die Beschreibung vieler einzelner Sichtweisen und Schicksale gelingt es Mock, den Leser bis zum Schluss zu fesseln. Unbedingt lesenswert!
Buch-Werbung + Info:
Wolfgang Mock: „Simplon“, 354 Seiten
Das Buch erschien im März 2006
ISBN 9783938476093
Verlag Tisch 7
2006-02-12 by Anne Siebertz, Wirtschaftswetter
Text: © Anne Siebertz
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