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Tibeter in der Schweiz

Helden des Alltags

von Moon McNeill

Für manchen sehen alle Berge gleich aus

Für Tendzin, Wangmo, Kalsang und Thubden jedoch waren die Berge des Himalaya heilige Orte, an deren Pässen bunte Gebetswimpel flatterten. Musste man einmal einen solchen Pass überqueren, sprach man traditionell Glück verheißende Mantras oder rief die Götter um Schutz an. Man legte einen Manistein auf einen der Steinhaufen, die früher vorbeigehende Reisende dort schon hinterlassen hatten. Die schneebedeckten Berge waren allgegenwärtig. Ein Leben voller Härten und Entbehrungen auf dem Dach der Welt. Tibet: In unseren westlichen Augen ein verwunschenes Land - Heimat von sechs Millionen Tibetern.
Das war vor der Kulturrevolution.

Diese bis dahin relativ abgeschottete Welt unversehens verlassen zu müssen und sich der unbekannten Welt der Technologie anzuvertrauen, ist mit Sicherheit alles andere als leicht gewesen. Doch die Tibeter hatten 1959 keine andere Wahl. Tausende von Flüchtlingen verließen angesichts der chinesischen Invasion das Land und suchten verzweifelt eine neue Heimat. In den Jahren 1960-63 flohen mit Hilfe von schweizer Rot-Kreuz-Delegierten sowie des eigens gegründeten „Vereins der Tibeter Heimstätten“ circa zweitausend Tibeter über Nepal und Indien in die Schweiz. Zuvor hatte der Schweizer Bundesrat die Aufnahme der Flüchtlinge aus humanitären Gründen genehmigt.

Was so einfach klingt, ist in Wahrheit Teil eines Dramas, das viele Kapitel und Aspekte hat. Unter den dramatischen Umständen einer erzwungenen Flucht nach der chinesischen Besetzung konnte es nicht leicht sein, sich als Tibeter in einem Land zurecht zu finden, das nicht allzu viel mit dem gemein hatte, was man bis dahin kannte. Die Rettung und Erhaltung des kulturellen Erbes mag zunächst angesichts der Herausforderung, die das neue Leben in der Schweiz bedeutete, zweitrangig gewesen sein - zumal man sicher hoffte, bald nach Tibet zurückkehren zu können. Aber die Besinnung auf die kulturellen Wurzeln war letzten Endes genauso entscheidend wie der Versuch der Anpassung an neue Gegebenheiten in einem modernen Land.

Zunächst jedoch regierte Orientierungslosigkeit. Viele der Flüchtlinge hatten noch niemals eine Maschine gesehen - geschweige denn bedient. Plötzlich in einer Metallwarenfabrik in Rikon zu arbeiten, statt in der Tschangtang Hochebene Yaks zu hüten oder bei Lhasa ein Feld zu bestellen - das ist eine Herausforderung, die einen Menschen bis ins Innerste erschüttern kann. Plötzlich Adoptivkind einer kinderlosen Schweizer Familie oder Teil einer Wohngruppe aus mehreren Familien zu sein, statt in gewohnter Umgebung bei der eigenen Familie zu leben - das klingt nach Heimweh, Konflikten und Anpassungsproblemen, je nach Alter und Umständen mehr oder weniger ausgeprägt. Man kann sich die Verständnisprobleme, die allein schon aus verschiedenen Sprachen und Religionen resultierten, leicht vorstellen. Zum Vorteil gereichte den Tibetern ihre angeborene Flexibilität und Neugierde und ihr enormer Wille zum Überleben.

Auch auf Seiten der Schweizer, die tibetische Adoptivkinder aufgenommen haben oder plötzlich tibetische Mitarbeiter anlernen mussten, wird nicht alles den anfänglichen Vorstellungen gemäß abgelaufen sein. Manchen Adoptiveltern werden die buddhistischen Vorstellungen fremd gewesen sein, Arbeiter hatten kein Interesse an dem Land, aus dem ihr Arbeitskollege kam. Sie erwarteten Anpassung. Wie aber kann man seine buddhistischen Wurzeln kappen und sein Heimweh überwinden, wenn ganze Familien zurückbleiben mussten, um die man sich sorgte?! Wie an eine Zukunft denken, wenn man nicht wusste, was in seinem Heimatland geschah? Ethnologen benennen dieses Erleben einen Kulturschock. Im Laufe der Sozialisation in eine neue Kultur kann er aufgelöst werden. Das aber kann Jahre dauern. In manchen Fällen misslingt es gar - wenn nämlich die Bereitschaft und die inneren Möglichkeiten fehlen, mit der Situation umzugehen - oder wenn einem bei der Sozialisation Steine in den Weg gelegt werden, die das Verstehen der neuen Kultur verhindern oder nur zum Teil ermöglichen.

Mehr als 100.000 Tibeter folgten ihrem religiösen und politischen Oberhaupt ins Exil. Sogar heute noch kommen Flüchtlinge auf abenteuerlichen Wegen nach Dharamsala, dem Sitz des Dalai Lama in Nordindien - vor allem, um Seine Heiligkeit wieder zu sehen oder ihren Kindern eine Ausbildung in einem freien Land zu gewährleisten. In der Schweiz leben derzeit etwa 3.000 Tibeter. Weniger als die Hälfte davon hat einen Schweizer Pass. Die größte Tibetergemeinde der Schweiz stellt mit 300 Tibetern der Ort Rikon, wo auch das einzige vom Dalai Lama anerkannte tibetische Kloster im Westen steht. Das klösterliche Tibet-Institut im Tösstal wurde gegründet, um den entwurzelten Tibetern einen geistigen und kulturellen Halt zu geben. Neben dem Kloster existieren mittlerweile etliche Vereine, die sich um das Wohl der Exiltibeter in der Schweiz und anderswo kümmern. Der Dalai Lama kommt regelmäßig nach Zürich und sorgt dafür, dass auch die jungen Tibeter, die ihr Land noch niemals sahen, den Erhalt der tibetischen Kultur wichtig nehmen. Erst in den achtziger Jahren konnten einige Exiltibeter ihr Heimatland wieder besuchen. Inzwischen haben mehrere tibetische Flüchtlingsfamilien in der Schweiz kleinere Hilfsprojekte in ihren ehemaligen Heimatdörfern gegründet.

In der Schweiz ist derweil Normalität eingekehrt. In einem Restaurant im Zentrum von Winterthur stehen tibetische Momos und Züricher Geschnetzeltes einträchtig auf ein und derselben Speisekarte. Kein Wunder: die Eignerin ist eine Tibeterin. Gartenzwerge und tibetische Gebetsflaggen in den Vorgärten geben Auskunft von einem gelungenen Miteinander - und von der tiefen Verwurzelung der Tibeter in ihrer Kultur. Sieben tibetische Schulen in der Schweiz sorgen für eine angemessene Ausbildung. Finanziert werden sie von der Gemeinschaft der Tibeter in der Schweiz. Der starke Zusammenhalt, die Bescheidenheit und die starke kulturelle Verwurzelung der Tibeter sind es gewesen, die ein erfolgreiches Überleben letzten Endes möglich gemacht haben. Und die Großzügigkeit der Schweizer, denen sie ein neues Zuhause verdanken.

Für manchen sehen alle Berge gleich aus. Die Tibeter müssen Tag für Tag Berge von Problemen überwinden, von denen wir keine Vorstellung haben. Ihr Land ist mittlerweile zersiedelt und besetzt worden, längst sind sie dort zu einer Minderheit geworden. Ihre Stärken aber hat ihnen nichts und niemand nehmen können. Der Traum von der Heimkehr in ihr Geburtsland ist immer noch nicht näher gerückt. Die junge Generation, die dieses Land nur aus Erzählungen kennt, identifiziert sich vielleicht eher mit der Schweiz. Tibeter sind sie dennoch; Wanderer zwischen zwei Welten, die nicht vereinbar erscheinen - und es dennoch sind.


2006-01-01 by Moon McNeill, Wirtschaftswetter
Text: ©Moon McNeill
Bilder + Fotos: ©Moon McNeill
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