von Muni Poppendiek-Kritz
Zu Beginn des Jahres wurde Malte Ludins Dokumentarfilm „2 oder 3 Dinge, die ich von ihm weiß“ als Benefizveranstaltung zu Gunsten von "Amcha" in zehn deutschen Großstadtkinos gezeigt. Malte Ludin, dessen Vater Nazifunktionär war, setzt sich in seinem Film mit den Legenden auseinander, die in seiner Familie über den Vater kursieren. Bedauerlicherweise fand diese Benefizveranstaltung nur in einigen wenigen Großstädten statt. Sie hätte eine breitere Öffentlichkeit verdient.
Am Ende des 2. Weltkriegs, als die alliierten Truppen die Konzentrations- und Vernichtungslager befreit hatten, versuchten die wenigen Überlebenden, die diese Kraft noch aufbringen konnten, in die Städte und Länder zu gehen, aus denen sie stammten - in der Hoffnung Angehörige zu finden, die ebenfalls überlebt hatten. Das hebräische Wort Amcha, was so viel wie „dein Volk“ bedeutet, war für sie ein Erkennungszeichen. Sagte einer „Amcha“ und sein Gegenüber antwortete gleichermaßen, dann wussten beide, dass sie zu den wenigen Überlebenden des jüdischen Volkes gehörten.
Heute ist Amcha eine Non-Profit-Organisation in Israel, die 1987 von Holocaustüberlebenden gegründet wurde, um denjenigen Hilfe anzubieten, die an den Spätfolgen des Holocaust leiden.
In früheren Zeiten gehörte der Begriff Trauma zum fachsprachlichen Wortschatz. Inzwischen hat er in die Alltagssprache Einzug gehalten. Wirft man einen Blick auf die Medien, kann man durchaus von einem inflationären Gebrauch sprechen: Da hat eine Partei auf Grund von Stimmenverlusten ein Trauma erlitten. Da läuft ein Eisschnellläufer seinem Trauma davon, und aus einem Fußballspieler wird ein Ballartist mit Elfmetertrauma. ‚„Cafe-Trauma-Terrasse" geöffnet’ - las ich neulich im Vorbeifahren. Und in meiner Buchhandlung lag ein „Crashkurs“ zur Selbstheilung bei Traumata nach einem Autounfall.
Wenn wir so nachlässig mit dem Begriff Trauma umgehen – hat es einen Einfluss auf unsere Wahrnehmung und die Vorstellungen, die sich Menschen von Trauma und Traumaopfern bilden? Durch einen solchen inflationären Gebrauch könnten wir uns mehr oder weniger alle als Traumatisierte, also als Opfer, begreifen, und das Mitgefühl bliebe dabei auf der Strecke. Eine Differenzierung scheint mir daher dringend erforderlich.
Psychotraumatologen sprechen nur dann von einem Trauma oder einem traumatiserenden Ereignis, wenn eine Todesgefahr besteht. Präziser: Ereignisse, in denen Menschen Todesangst, Hilflosigkeit und schutzlose Preisgabe erleben - wobei die Flucht oder Verteidigung in der traumatischen Situation unmöglich ist. Gemeint ist also nicht die Angst und Hilflosigkeit, die man zum Beispiel dann erlebt, wenn man sich einer bestimmten Aufgabe nicht gewachsen fühlt oder einem großen Stress ausgesetzt ist. Nur, wenn jemand einem Vernichtungserleben ausgesetzt ist, spricht man von einem traumatischen Ereignis. Wobei man als Trauma nicht das Ereignis als solches bezeichnet, sondern die seelischen Folgen, die entstehen können, wenn jemand Opfer einer solchen, traumatischen Situation war.
Uns fällt dabei sofort der 11. September, die Tsunamikatastrophe oder das Zugunglück von Eschede ein. Die Bilder, die via Bildschirm in unsere Wohnzimmer kamen, haben sich uns eingebrannt. Aber auch hier ist Differenzierung notwendig: Die Menschen, die das erleben mussten, die wirkliche Opfer dieser Katastrophen wurden, haben in ihren Köpfen und Seelen etwas gänzlich anderes, als wir, die wir vor den Bildschirmen saßen. Im Rahmen der Information über Katastrophen teilen uns die Nachrichtensprecher wie selbstverständlich mit, die Betroffenen werden psychologisch betreut. Wir erfahren von Fachleuten, dass der beste Schutz vor Traumatisierungen eine schnelle und kompetente Hilfe ist, um Trauma-Folgestörungen vorzubeugen. Wir verfügen über eine Notfallpsychologie, die auf aktuelle Traumatisierungen spezialisiert ist und wesentlich dazu beiträgt, dass es gar nicht erst zu Traumafolgestörungen kommen soll. So betrachtet, sind wir eine Gesellschaft, die für das Phänomen psychische Traumatisierungen sensibilisiert zu sein scheint.
Traumatisierende Ereignisse - uns fallen dazu spontan die Katastrophen der letzten Jahre ein, und wir verbinden damit schreckliche Ereignisse, und doch bleiben es Ereignisse von relativ kurzer Dauer. An das überwältigende Desaster des Holocausts, an die Menschen, die monate- und jahrelang täglichen Entwürdigungen, Demütigungen und Todesgefahren ausgesetzt waren, denken wir in der Regel im Zusammenhang mit dem Begriff Trauma heutzutage nicht mehr.
Schnelle und kompetente Hilfe als Prävention gegen Traumafolgestörungen - die Überlebenden des Holocaust erfuhren eine solche kompetente Hilfe nicht.
Nach der Befreiung der Konzentrationslager durch die Alliierten waren viele Überlebende dem Zusammenbruch nahe. Sie waren emotional auf das Tiefste verwundet und ihre Vertrauensfähigkeit an die Mitmenschen und Menschlichkeit war komplett zerstört, denn die extrem-traumatisierenden Ereignisse, denen sie so lange ausgesetzt waren, waren von Menschen hergestellt und wurden ihnen täglich von Menschen angetan. Überlebende, die versuchten in die Orte zurückzukehren, aus denen sie deportiert worden waren, fanden Zerstörung und Verwüstung vor, Feindseligkeit und Misstrauen schlugen ihnen entgegen. Fremde Menschen wohnten in ihren Häusern und Wohnungen. Ihre Habe war gestohlen und geraubt worden. Ihre Familien waren zerstört - nur sehr selten hatten ganze Familien überlebt.
Am Tag der Kapitulation befanden sich unter Anderen 200.000 Juden, die Zwangsarbeit, Konzentrationslager, Vernichtungslager und Todesmärsche überlebt hatten, in den von den Alliierten - zum Teil in früheren Arbeits- und Konzentrationslagern - eingerichteten DP Lagern. Die meisten wollten verständlicherweise Europa verlassen, in der Hoffnung in einem anderen Land ein neues Leben und ein neues zu Hause aufbauen zu können.
Sie waren gezwungen in den überfüllten Lagern, die manchmal sogar die Orte des Grauens und ihrer Pein waren, auf ihre Visa zu warten: Die Auswanderungsmöglichkeit in Überseeländer unterlag Beschränkungen, und die britische Politik, Palästina in Übereinstimmung mit dem „White Paper of 1936“ für Immigranten zu sperren, zwang sie in Ungewissheit und Hoffnung bezüglich ihrer Zukunft auszuharren - unter Umständen Jahre. In der Zeit von 1945 bis 1952 wurden 80.000 jüdische DPs von den Vereinigten Staaten aufgenommen, 136.000 gingen nach Israel beziehungsweise Palästina. Diejenigen, die nach Palästina immigrieren wollten, wurden von den britischen Behörden auf Zypern wiederum in Lagern interniert. Einige mussten Monate in diesen Internierungslagern verbringen, andere wurden Jahre dort festgehalten.
In den Aufnahmeländern angekommen, mussten sie notwendige Anforderungen meistern, wie zum Beispiel eine neue Sprache lernen und sich Arbeit suchen. Sie unternahmen große Anstrengungen die verlorenen Familien durch eine neue zu ersetzen. Äußerlich schienen die tiefen Wunden verheilt, die ungeheuere Anstrengung der Wiedereingewöhnung ins Leben war bei den meisten erfolgreich verlaufen. Damit wurde eine fast unvorstellbare Anpassungsleistung vollbracht, die großen Respekt und hohe Achtung verdient. Anfang der 50ger Jahre waren dann die Überlebenden und ihre Schwierigkeiten aus dem Blickfeld der Presse und der Öffentlichkeit verschwunden und in Vergessenheit geraten. Damals dachten die Organisatoren der Hilfsmaßnahmen ausschließlich in Kategorien materieller Unterstützung. Im Rückblick erscheint uns das unglaublich: Der Aspekt der seelischen Folgen der extrem traumatisierenden Situation des Lagerlebens wurde übersehen. Die Möglichkeit psychosozialer Spätfolgen bleibt auch noch Ende der 60iger Jahre, im Rahmen der „Wiedergutmachungs“-Gesetze, unberücksichtigt: für psychosoziale Spätfolgen wird nicht entschädigt.
Erlebnisse, die wir haben, auch unangenehme oder schockierende können wir als Erfahrungen in uns aufnehmen und in unser Leben integrieren. Traumatische Erfahrungen überfordern aber sämtliche menschliche Bewältigungsmöglichkeiten, sie können nicht integriert werden. Die Lehre von den psychischen Verletzungen und ihren vielfältigen negativen Folgen geht davon aus, dass traumatisierende Ereignisse, die Betroffenen nachhaltig verändern und häufig Probleme hinterlassen, mit denen die Opfer unter Umständen ihr Leben lang zu kämpfen haben – sogenannte Traumafolgestörungen. Zu diesen Folgen gehört eine dauerhafte Erschütterung des Verständnisses über sich selbst und die Welt, was zu psychischen Erkrankungen führt. Nicht immer entwickelt sich eine Traumafolgestörung sofort, unter Umständen kann sie noch Jahrzehnte nach dem Trauma eintreten. Das Altern kann zum Beispiel solch ein Risikofaktor für den Ausbruch einer Traumafolgestörung sein.
Unter Umständen kann auch die seelische Verfassung von Kindern und Enkelkindern der Überlebenden gekennzeichnet sein von den Erfahrungen ihrer Eltern oder Großeltern. „Gefühlserbschaft“ nannte es Sigmund Freud. Traumen, die Eltern erlitten haben, können auch noch für die nachfolgenden Generationen bedeutsam bleiben. Nicht alle Kinder von Überlebenden leiden an psychischen Konflikten, aber es gibt bestimmte Aspekte zwischen den psychischen Konflikten, die Kinder und Enkel von Überlebenden haben können, die in Verbindung stehen mit dem Überleben ihrer Eltern oder Großeltern.
Nach Schätzungen leiden heute etwa 240.000 Überlebende an den Spätschäden der Naziverfolgung. Sie sind derzeit im Alter etwa von Anfang 60 bis 90 oder noch älter. Viele von ihnen waren am Ende des Krieges nicht älter als 16 Jahre alt. Es sind Menschen, die nicht nur ihrer Kindheit und Jugend beraubt wurden, sondern in diesen für die Entwicklung so wichtigen Jahre dem Holocaust ausgesetzt waren.
Nach dem Krieg wurden diese Kinder von jüdische Soldaten der Alliierten, Sozialarbeitern jüdischer Hilfsorganisationen und besorgten Überlebenden aus den Lagern gesammelt, sie wurden aus Verstecken in Klöstern oder bei nichtjüdischen Familien geholt. Man brachte sie in Krankenhäuser und andere Zentren. Viele wuchsen dann später in Israel im Kibbuz oder in Pflegefamilien auf.
Die „Jüdischen Allgemeinen 04/06“ berichtete von zehn Amcha-Zentren in Israel, in denen ungefähr 8000 Überlebende betreut werden. 150 Sozialarbeiter, Psychologen und Psychiater bieten ihnen gemeinsam mit 500 Freiwilligen ein breites Spektrum sozialer und psychologischer Hilfe an. Sensibel und mitfühlend geht man hier auf ihre Nöte und Bedürfnisse ein: auf ihre existenzielle Einsamkeit, ihre Trauer, ihren Schmerz, ihre wiederkehrenden Verfolgungsträume.
„Hier darf man die eintätowierten Nummern auf den Armen zeigen und weinen, ohne sich schämen zu müssen. Aber hier werden auch Geburtstage gefeiert, wie es in einer Familie sein sollte“ betont Nathan Durst, der klinische Direktor von Amcha, in seinem Artikel „Psychotherapeutisches Arbeiten mit Überlebenden des Holocaust." ( Zeitschrift Politische Psychologie 1999 )
Auch für die Angehörigen der Überlebenden, für ihre Ehepartner und Kinder stellt Amcha ein Unterstützungsangebot bereit. Unter anderem können sie durch Amcha miteinander in Kontakt treten und sich gegenseitig unterstützen. Denken wir an die oben erwähnten Konflikte, die im Zusammenhang mit dem Überleben der Eltern oder Großeltern stehen können, wird deutlich, wie wichtig Amcha auch für die nachfolgenden Generationen ist. Ein spezielles Unterstützungsangebot hält man bei Amcha für die Überlebenden unter den Einwanderern aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion bereit.
Die Fachleute von Amcha mit ihren Erfahrungen gelten als Experten auf dem Gebiet der Behandlung von traumatisierten Menschen. Als solche wurden sie auch als Berater in Krisengebieten wie Kroatien und Ruanda nachgefragt und beraten bei der Behandlung von Traumata nach Terroranschlägen.
Auf amcha.de wird der Besucher informiert, dass 70 Prozent der Kosten aus Spendeneinnahmen finanziert werden müssen. In verschiedenen Ländern haben sich Freundeskreise von Amcha gebildet. Sie helfen mit die Finanzierung zu ermöglichen. Peter Fischer der Vorsitzende von Amcha Deutschland bedauerte erst kürzlich in der „Jüdischen Allgemeinen 04/06“, dass die Spenden aus Deutschland in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen sind.
Unser Wissen darüber, was nach einem traumatisierenden Ereignis angemessen und richtig ist, ist in den letzten Jahren immens gewachsen, und wir können eine für das Phänomen psychischer Traumatisierungen sensibilisierte Gesellschaft sein. Den Überlebenden des Holocaust wurde damals vorenthalten, was nach unserem heutigen Kenntnisstand heilsam ist: Mitgefühl, Anerkennung, Schutz - also ein ganz behutsamer Umgang. Heute können wir mit einer direkten Spende oder auch einer Benefizveranstaltung mithelfen, den Schmerz dieser unsichtbaren Verletzungen ein wenig zu lindern und unsere Solidarität mit den ehemaligen Opfern zeigen.
Weitere Informationen:
Amcha Deutschland
2006-05-05 by Muni Poppendiek-Kritz, Wirtschaftswetter
Text: © Muni Poppendiek-Kritz
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