Wer meint, VIPs und Helden halten die Geschichte am Laufen, den Staat zusammen und die Gesellschaft bei Laune, der war noch nicht im Maschinenraum der Menschheit. Abseits der Protagonisten sind es oft die Nebendarsteller auf der Bühne des Lebens, die immer erst dann dort auftauchen, wenn die Szene eine Aufheiterung und der nächste Akt einer hoffnungsvollen Wendung zum Guten bedarf.
Als die dreizehnte Fee den Saal betrat, dachte sich niemand etwas dabei, denn zwölf waren geladen, und die elfte weise Frau hatte die kleine Prinzessin gerade gesegnet. Doch die vermeintlich Zwölfte bebte vor Zorn, weil sie nicht eingeladen worden war. Sie verfluchte das Kind - es solle sich an einer Spindel stechen, sobald es herangewachsen war, und elendig zu Grunde gehen. Da trat die geladene, echte zwölfte Fee in den Saal. Sie kam zu spät. Sie erkannte die Gefahr und wusste sofort: Diesen Fluch könnte sie nicht vollständig aufheben, doch sie konnte ihn abmildern und dafür Sorge tragen, den unausweichlich scheinenden Tod in einen langen Schlaf zu verwandeln. Sie sprach: „Die Prinzessin wird nicht sterben, sondern hundert Jahre lang schlafen und mit ihr Haus und Hof. Eine undurchdringliche Hecke wird den Schlaf schützen, bis eines Tages ein Prinz auftaucht und die Prinzessin von dem Fluch erlösen wird und mit ihr das ganze Schloss.“
Dagegen konnte die böse dreizehnte Fee nicht viel tun. Sie tobte zwar, doch gegen soviel Wohlwollen war sie machtlos, auch wenn sie sich von ihrem Plan nicht ganz abbringen ließ. Dornröschen stach sich dann schließlich an einer Spindel, das Schloss schlief ein. Schlimm genug – allein die Vorstellung, dass eine Nacht so lang wie ein Menschenleben dauerte. Ist es dieser Gedanke, der ganze Kinder-Generationen so sehr faszinierte, dass "Dornröschen" weltweit bekannt wurde? Oder ist es ein unabwendbares Schicksal, das eintrifft, obwohl alle Spindeln aus dem Umfeld des Mädchens entfernt worden waren?
Das von den Brüdern Grimm aufgezeichnete Märchen Dornröschen wurde nicht nur in Filmen, in Theaterstücken, in Tanz und Musik umgesetzt sondern seit geraumer Zeit auch zu vielen psychologischen Deutungen herangezogen. Vor allem die Hauptpersonen werden immer wieder von Profi- und Amateurpsychologen für Thesen und Hypothesen bemüht: Wie kann es zum Beispiel noch im 21. Jahrhundert möglich sein, dass ein Mädchen schlafend auf seinen Prinz wartet? Ist sie nicht eine faule Trulla, die beide Augen fest vor der Realität verschließt? Hat sie die Dornenhecke im übertragenden Sinne womöglich selbst erschaffen? Und was ist das für ein Prinz, der einer Prinzessin hinterher jagt, die nur passiv daliegt? Und gab’s die böse Fee überhaupt oder handelt es sich lediglich um die eigenen Schranken im Kopf? Oder ist es doch die überraschende Wendung zum Guten, die Millionen Leser, Zuschauer und Zuhörer bis heute fesselt? Interessanterweise wurde die zwölfte Fee von den Dornröschen-Deutern eher wenig bis gar nicht zur Kenntnis genommen - nicht viel anders ergeht's im echten Leben vielen Ehrenämtlern, die alles verändern können, von denen viele profitieren und die kaum erwähnt werden - fast wie im Märchen.
Ausgerechnet die fiktivste Person von allen, die gute Fee, hat reale Züge. Sie tritt nur ein einziges Mal auf, und allein sie gibt der ganzen Handlung die alles entscheidende Wendung. Ohne die gute Fee, gäbe es das Märchen nicht, weil die Protagonistin viel zu schnell verschieden und die Geschichte damit vorzeitig beendet wäre: Die zwölfte Fee ist interessant. Erst kommt sie zu spät oder die dreizehnte drängelte sich vor, je nachdem. Und man vergisst diese Fee nach ihrem bescheidenen, alles entscheidenden Auftritt am Anfang der Geschichte, sehr schnell wieder - so nebensächlich agiert sie - nur scheinbar - und so klar umgrenzt ist ihre einzige Funktion: Leben zu retten, nicht geringeres als dem Tod entgegenzutreten. Sie tritt auf, sagt ihren Spruch, sie tritt ab, und dann kann das Leben ohne sie weitergehen. Gut beobachtet. Auch in der Wirklichkeit sind Lebensretter nicht selten Menschen, die ein Unfallopfer aus dem Auto ziehen, es in die Obhut der heraneilenden Rettungssanitäter übergeben und dann auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Die ehemaligen genesenden Opfer wenden sich an die Polizei, an das Krankenhaus, an die Öffentlichkeit, um den Retter ausfindig zu machen – und haben nicht immer Glück. Zwölfte Feen erwarten wohl keinen Dank, was schon so manchen wunderte.
Bleiben wir jedoch noch einen Moment bei Märchen und Mythen. Feen, sogar die bösen, sind in den Märchen meistens schön. Bei den alten Griechen gab es eine ähnliche Verbindung zwischen Anmut und Wohlwollen - , je nach Gegend und Zeitalter wurde mehr das eine oder andere hervorgehoben, doch meistens beides: Charis – eine Kombination von Anmut und Wohltätigkeit, die schwer ins Deutsche zu übersetzen ist. Die Göttergabe der so Angebeten, der Chariten, die zumeist zu dritt dargestellt werden, ist eine nicht einfache Angelegenheit, und doch findet man bei den antiken Autoren eine ganze Menge über sie. Ältere und jüngere Autoren vergangener Epochen betonen, dass bereits die Anmut als solche erfreut, genauso erfreut die Speisung der Armen ebendiese. Nicht Geringeres als der Einzug der Freude ins Leben – so oder so, ist die Gabe, das Angebot der Chariten. Damit sind sie für alles zuständig, was wir im heutigen Sprachgebrauch so fein säuberlich zu trennen pflegen oder es zumindest versuchen. Soziales Engagement wird mit Leid verbunden, doch selten mit Freude, dabei gehört beides seit Menschengedenken zusammen.
Die Chariten sollen einst ganz bodenständige Naturgottheiten gewesen sein und landeten schließlich als Begleiterinnen der wichtigeren Himmelsgestalten im Olymp. Sie verstärkten die guten Eigenschaften der großen Griechengötter. So verhalf erst die Anmut der Chariten der Schönheit Aphrodites zu strahlendem Glanz. Schon in den frühen Tagen, als die Chariten noch für gute Ernten und Fruchtbarkeit sorgten, waren sie gleichzeitig für die Ordnung veranwortlich. Es blieb erstaunlicherweise an diesen meist drei – manche antiken Schriftsteller kannten nur zwei, manche berichten von einem ganzen Heer Chariten – anmutigen Himmelswesen hängen: Sie wurden als Wahrerinnen der Ordnung verehrt. Sie stifteten nicht nur gute Ehen, sondern Eintracht und Frieden, weshalb man ihnen in manchen Städten mitten auf dem Marktplatz Tempel errichtete, gleich neben Zeus und Aphrodite. Wenn die jungen Athener beim Eintritt ins Erwachsenenalter ihren Schwur auf den Stadtstaat (Ephebeneid) leisteten, taten sie dies keineswegs zu Ehren von Zeus, wie man annehmen könnte, sondern sie schworen auf die Chariten, auf die drei anmutigsten und gütigsten Ladies, die der Olymp zu bieten hatte.
Das sagt schon eine Menge darüber aus, was wir uns unter "Ordnung" innerhalb einer Gesellschaft und Staat vorzustellen haben oder auch, was fehlen kann, wenn wir die Anmut nicht zu respektieren wissen, weil wir sie nicht verstehen. Demnach wird eine Gesellschaft nicht nur durch (hässliche) Pflicht zusammengehalten, sondern vor allem durch die Güte, Wohltätigkeit und Anmut, die diese Gesellschaft anzubieten hat. Die Chariten bringen Freude, genau das hält zusammen. Sie werden mit dem Tanz – der Schönheit der Bewegung - in Verbindung gebracht. So wundert es kaum, dass viele moderne Wohltätigkeits-Veranstaltungen Musik, Tanz und Kurzweil beinhalten, weil das großzügige Spenderherz immer dort höher schlägt, wo die Anmut es berührt. Die Chariten – bei den Römern wurden sie zu Grazien – weilen damit bis heute unter uns. Auch wenn sie niemand mehr in Tempeln verehrt, wird ihnen auf jedem Wohltätigkeitsball unabsichtlich gehuldigt.
Manchmal grenzt die Güte, die einem in der Not widerfährt fast an ein Wunder. ‚Kein Wunder’ also, dass es Menschen gibt, die fest an Engel glauben. Bei näherem Hinsehen erweisen sich viele dieser Engel als Menschen aus Fleisch und Blut. Der Autofahrer, der ausweicht, weil ein Wagen neben ihm abgedrängt wird, der Autofahrer, der vom Gas geht, weil er sieht, dassvor ihm jemand mit einem geplatzten Reifen zu kämpfen hat, oder derjenige, der im letzten Moment abbremst, weil ein kleines Kind unvorhersehbar und plötzlich auf die Straße tritt. Hätten diese Verkehrsteilnehmer in diesem Moment nicht wohlwollend und wohltätig auf ihre Mitmenschen geachtet, sondern gerade telefoniert und eben nicht so aufmerksam nach vorn und zur Seite geschaut, wären andere und sie selbst zu Schaden gekommen.
Auf den Autobahnen ist das Wohlwollen ein alltägliches - undankbares - Geschäft: Solange eine Mehrheit aufmerksam-defensiv fährt, fallen die anderen, die rücksichtslos brettern, die gnadenlos auf dem Gaspedal stehen und die während der Fahrt mit allem anderen beschäftigt sind als mit dem Verkehr um sich herum, nur deshalb nicht übermäßig ins Gewicht, weil – ob sie es wahrhaben wollen oder nicht – die anderen die ganze Zeit auf sie aufpassen und dafür sorgen, dass meistens nichts passiert. Manchmal klappt es leider doch nicht. Doch so schlimm der Verkehr schon ist - er wäre einfach unerträglich, wenn es diese Engel in Form von aufmerksamen LKW-, Bus- und PKW-Fahrern, Fahrradfahrern und sogar Fußgängern nicht gäbe. Kein Wunder also auch, dass man die Verkehrsclubs, die im Stau nicht nur Kaffee verteilen, Engel nennt. Ohne all diese Wohlwollenden, Vorausschauenden und Mitdenkenden wäre der Straßenverkehr der reinste Hexenkessel.
In Gefahrensituationen über sich selbst hinauswachsen und in einer Katastrophe nicht zu verzweifeln, bedarf einer außergewöhnlichen Aufmerksamkeit, eines enormen Einfühlungsvermögen und die Entwicklung eines guten Willens - so ausgerüstet werden manche Mitbürger in brenzligen Situationen für die Hoffnungsloseren unter uns zu den reinsten Überlebenstrainern. Nicht selten verschwinden diese Wohltäter genauso so plötzlich, wie sie in der Gefahr plötzlich da waren, wieder von der Bühne der Geschehens - sobald die akute Not, die Katastrophe ausgestanden ist - so, als wurden sie zu richtigen Zeit an den falschen Ort gepflanzt, weil die anderen ohne sie nicht überlebt hätten.
Sie bezeichnen, später gefragt, die in der Außenwirkung „große Tat“ in ihrer persönlichen Wertung meist als reine Selbstverständlichkeit. Manche nennen es auch schlicht gesunden Menschenverstand. Sie versehen „ihren Dienst“ und treten wieder ab, ohne Umschweife und manchmal namenlos - würden nicht die „Geholfenen“ in schönster Regelmäßigkeit darum bitten ihren Rettern danken zu dürfen. Das ist nicht wenigen Wohltätern sogar ein wenig peinlich. Sie halten die Zivilcourage, das Durchhaltevermögen und vieles andere, dessen sie – im Gegensatz zu anderen – fähig waren oder sind, und für die Geretteten (über-)lebenswichtig wurde, für nichts Besonderes. Das ist erstaunlich in einer Welt, in der nicht wenige andere über Leichen gehen. Die Wohltäter sind einfach da, wenn man sie am meisten braucht. Bei „Langzeitengagements“ sieht es ähnlich aus. Während immer mal wieder jemand in der Öffentlichkeit zu mehr Bürgerengagement oder Spendenbereitschaft aufruft, ist die Mehrheit der Spender und ehrenamtlich Tätigen seit Ewigkeiten längst da und stetig aktiv. Sie wirken im Hintergrund - ohne großes Aufsehen, dafür dauerhaft und effizient.
Manches Engagement hingegen lebt gerade davon, dass möglichst viel Aufsehen erregt wird. Für eine humanitäre Idee muss geworben und ein teures, soziales Projekt finanziert werden. Da braucht man viele Spender oder große Spender. Und die sogenannten Charity-Ladys legen sich mächtig ins Zeug – um ganz im Sinne der Grazien – das Kapital vom Geld verdienen zum Geld ausgeben zu bewegen - als ein Investment in die Menschlichkeit, worauf es letztendlich immer hinausläuft, auch wenn es sich zum Beispiel um eine Veranstaltung zum Schutz von Wäldern handelt.
Die Wohltätigkeit ist so vielfältig wie die Gesichter derjenigen, die sie praktizieren, ob ein einziges Mal im Leben oder dauerhaft, ob aus einem religiösen Glauben heraus oder aus Vernunft, ob aus Mitgefühl und auch aus eigener leidvoller Erfahrung: Die Wohlwollenden unter uns sind die Gebenden, die Investierenden, die Sorgenden - einzelne Menschen und ganzen Gruppen, die nicht nur im christlichen Sinne „Glaube, Liebe, Hoffnung“ schenken - und Licht in Situationen des Mangels, der Not, des Schmerzes, Leidens, der Verwahrlosung und der Hilflosigkeit bringen. Das zeugt von Güte - womit hier nicht Eier der Güteklasse A gemeint sind. Doch der Begriff "Güte", der sowohl die hervorragenden Eigenschaften irgendeines Produkts als auch die "edle Gesinnung" meint, erzählt durchaus etwas davon, wie wenig, zumindest sprachlich Qualität und Wohlwollen zu trennen sind. Wer wirklich viel von sich hält, der sollte aufhorchen.
So unterschiedlich die Motivation und so verschieden die Lebensumstände auch sind, im Ergebnis verbessern die Wohltätigen allen das Leben, das Schicksal derjenigen, für die sie sich einsetzen, und ein bisschen auch ihr eigenes, denn wer (Freude) gibt, der lässt in der Welt auch immer ein Stück von sich selbst zurück, selbst wenn er selbst schon längst von ihr – oder lediglich von der Bühne des Geschehens - abgetreten ist. Die Wohltätigen sorgen wie die zwölfte Fee im Märchen dafür, dass die Geschichte nicht endet, sondern immer weitergeht oder sich sogar entscheidend zum Guten wendet. Das Bild der Chariten vermittelt darüber hinaus, dass wahre Schönheit tatsächlich von innen kommt. Ohne die Begleitung der Anmut bleibt Schönheit plakativ und Aphrodite ohne Glanz. Wohltätigkeit setzt Grazie voraus und erschafft diese. Kein Staat der Welt ist ohne Anmut zu machen - deren Wesen nur der versteht, der erwachsen geworden ist, erwachsen genug, um wohltätig zu wirken, Glanzvolles zu leisten oder auch nur, um in ein einziges menschliches Gesicht ein Leuchten, ein Lächeln oder nur ein Aufatmen zu zaubern - dass noch einmal alles gutgegangen ist.
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Musarion oder die Philosophie der Grazien von Christoph Martin Wieland, Projekt Gutenberg
Bilderbuch für Kinder und Erwachsene,
Dornröschen.
Gebrüder Grimm, Bilderbuch von Imke Sönnichsen
Charis und Charisma Gewalt und Grazie von Winckelmann bis Heidegger
von Eckart Goebel
2006-03-25 Angelika Petrich-Hornetz, Wirtschaftswetter
Text: ©Angelika Petrich-Hornetz
Illustrationen: © Angelika Petrich-Hornetz
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