von Joy Fraser
Voller Vorurteile und ein wenig verunsichert, trat ich vor kurzem meine erste Amerikareise an - nach Kalifornien, Los Angeles, um präzise zu sein. Die gängigsten Aussagen über Amerikaner sind hinreichend bekannt, US-Bürger sind: kinderfreundlich, laut, platzverschwenderisch, großzügig, nicht sehr der Reinlichkeit zugetan, essen zu viel, umgeben sich gern mit allerlei kitschigen Nutzlosigkeiten in augenfolternden Farben, weinen hemmungslos bei menschlichen Verlusten in ihrer täglichen Arztserie im Fernsehen, ziehen sich nur im Dunkeln aus, halten ein wässriges schaumloses Getränk für Bier, gestehen jedem x-beliebigen Fremden ihre Liebe, geraten in ekstatische Verzückung bei allem, was rosa oder niedlich ist und halten ihr Land für den fortschrittlichsten aller Kontinente, seit der Erfindung des Sprühdosenkäses.
Ich war gespannt nun endlich zu erfahren, was von meinem Amerikabild für immer zerrüttet, und was sich bestätigen würde. An dieser Stelle möchte ich betonen, dass ich hauptsächlich von Kalifornien spreche, und manches durchaus nicht für den Rest der USA gilt, es sei denn, es wird ausdrücklich erwähnt. Jeder amerikanische Staat kocht sein eigenes Süppchen, und man kann nur staunen, über die vielen verschiedenen Lebensweisen - mehr oder weniger friedlich vereint unter dem Namen USA.
Zunächst versetzte mich der blitzsaubere Flughafen von Los Angeles in Erstaunen. Der Eindruck in ein Feuchtbiotop geraten zu sein, wurde verstärkt von echten Palmen und Achtung, frisch gewischt!- Schildern. So viel Reinlichkeit erschütterte mich. Nasse Flecken, eifrige Putzkolonnen - überall, wie im Einmarsch auf ein kleines Land befindliche Truppen.
Im Hotel, einem unpersönlichen Wolkenkratzer-Glaskasten, erlebte ich die weltweit übliche Hotelatmosphäre, wobei eine Besonderheit heraus stach. Amerikaner können nicht einmal im Winter ohne Eis auskommen. Eis, nicht im Sinne von Vanille und Cherry-Kirsch, sondern von gefrorenem Wasser. In groben Würfeln, oder klein zerknirscht, ganz nach Wunsch.
Man stelle sich bitte das Geräusch vor, das Granitbröckchen in einer handelsüblichen Kaffeemühle verursachen würden, und man weiß, was ich die ganze Nacht hören durfte, denn auf jedem Flur des Hotels befand sich eine Eis-Zerknirsch-Maschine. Zu welchem Zweck die Menschen mitten in der Nacht so viel Eis benötigen, konnte ich nicht ermitteln. Vielleicht war das Hotel voller Touristen, die schon immer mal dem amerikanischen Eiswahn verfallen wollten.
Beim Frühstück muss man aufpassen und das Eis im kostenlos bereitgestellten Wasser rechtzeitig abbestellen, sonst läuft man Gefahr die Stadttour mit gefrorenen Magenwänden unternehmen zu müssen.
Ich war begeistert vom kostenlosen Wasser-Service. Das sollte es bei uns auch geben. Amerikaner trinken nicht nur Cola, nein, sie trinken auch literweise kaltes Wasser aus der Leitung. Im Sommer mag das angenehm sein, falls man die Geduld hat so lange zu warten, bis die extrem übertriebene Eiswürfelmenge sich im Glas in etwas Trinkbares verwandelt hat, und einem die Kälte nicht die Vorderzähne zerspringen lässt.
Essen gehen in Kalifornien ist ein Erlebnis der besonderen Art, zumindest für den nicht sehr verwöhnten deutschen Durchschnittsbürger. Es gilt die Regel: Wartet man in einem Lokal länger als sieben Minuten auf Bedienung, steht man auf und geht wieder. Bravo, kann ich da nur sagen.
Rauchen ist überall verboten, ja sogar verpönt. Nur einige wenige Lokale bieten Rauchertische, meist draußen. Zündet man sich in einem unerlaubten Bereich eine Zigarette an, wird das ansonsten freundliche Personal schon mal böse. Mit Nachdruck wird man auf ein Nichtraucherzeichen hingewiesen, und der strenge Gesichtsausdruck signalisiert, man hat soeben ein Verbrechen begangen. Wo bleibt die Gastfreundlichkeit? Kein "entschuldigen Sie bitte, aber rauchen ist hier verboten", sondern ein gehöriger Anschnauzer der unhöflichen Art erwartet einen solchen Täter.
Man erklärte mir, der Grund für das raue Benehmen läge in der Kriminalität, in die sich das Lokal selbst begibt, lässt es das Rauchen zu. Scharfe Strafen und Konzessionsaberkennungen könnten die Folge sein. Jeder weiß und akzeptiert das. Nur Touristen natürlich nicht, die ahnungslos zusammengestaucht werden. Gleich im Nachbarstaat Nevada, insbesondere im Spielerparadies Las Vegas, stört sich niemand daran. Rauchen und öffentliches Trinken kurbelt das Geschäft an und trägt nicht unerheblich dazu bei, die Geldbeutel der Touristen zu lockern.
Das nur mit dieser Ausnahme auf Höflichkeit geschulte Personal geleitet den Gast zu Tisch und liest ihm jeden Wunsch von den Augen ab, manchmal sogar wenn er gar keinen hat. Ein interessantes Phänomen von prägkognitiver Telepathie.
Bevor ich überhaupt an ein zweites Getränk gedacht hatte, denn das erste kam in einem anderthalb Liter Glas, stellte ein lächelnder Kellner ein neues vor mir ab. Kostenlos und unaufgefordert. Ich war geplättet. Nebenbei bemerkt, ich vermute es existieren keine 0,25l Gläser auf dem gesamten Kontinent.
Leicht kann man sich in ein lockeres Gespräch mit einem Kellner verwickeln lassen, falls man das möchte. Wie mit einem Sensor ausgestattet, lässt einen das Personal in Ruhe, wenn man nur kurze Antworten gibt, und den Augenkontakt nicht lange hält. Ich hingegen erfuhr von einer Kellnerin den einzigen deutschen Satz, den die sagen konnte, wo sie studierte, und aus welchem Teil Europas ihre Vorfahren stammten.
Man könnte das als Oberflächlichkeit auslegen, aber nicht wirklich. Ich bin sicher, das Mädchen hatte an ihrem Job mehr Spaß, als ein Mürrisches in einem deutschen Café, das genervt von Tisch zu Tisch hetzt, weil die Kollegin krank geworden ist.
Man entschuldigte sich einmal bei uns, weil wir fünf Minuten auf die Bedienung warten mussten. Der Kellner erklärte lächelnd, er sei heute allein, und wir verziehen ihm natürlich. Die Betonung liegt auf lächelnd. Selbst im Stress bleibt ein aufs Trinkgeld angewiesener Amerikaner noch nett und höflich.
Ich finde das System hat seine Vorteile, wenigstens für den Gast. Wieder zuhause, kamen mir die meisten deutschen Kellner arrogant und herablassend vor. Selten bekommt man seinen Teller mit einem Lächeln serviert. Mir war das vorher nie aufgefallen.
Ein Teller der Größe einer Fleischservierplatte indes, darauf thronend ein überdimensionaler Hamburger, den ich beim besten Willen nicht ohne eingerissene Mundwinkel essen konnte, dazu Pommes für eine mittelgroße Familie, machten mich schon beim Hinsehen satt.
Grundsätzlich reichten mir zwei Mahlzeiten am Tag. Das Frühstück bestand schon aus, wahlweise: Drei aufgeblasen anmutende Waffeln mit Sahnebergen und frischen Fruchtstücken plus süßem Sirup, daumendicke Toastscheiben mit Konfitüren, gebratene Eiern aller Art – easy, over easy, sunny side up, scrambled, boiled, over hard, over medium, broken, poached, coached, coddled, – ein ganzer Fachjargon existiert dafür, zahlreiche Omelettvarianten, Steaks mit Bratkartoffeln (ja, wirklich!) und natürlich der zu allem gereichte knusprige Frühstücksspeck.
Für den kleinen Hunger zwischendurch isst man subs. Das sind ganze Baguette-Brote, belegt mit dem Wochenvorrat eines deutschen Kühlschranks an Wurst, Schinken und Käse, einem halben Glas Mayonnaise, Salatblättern, Tomaten und Gürkchen.
Abends wird meist warm gegessen. Nach Berichten meiner amerikanischen Freunde allerdings, isst der arbeitende Durchschnittsamerikaner nicht ganz so viel. Morgens gibt’s wie bei uns etwas Kleines, Frühstücksflocken, Müslis und Kaffee, Mittags oft einen Burger mit Pommes, und Abends je nach Größe der Familie ein Sandwich, oder es wird gekocht.
Ist man als Tourist unterwegs, entfällt das Kochen oder Brote machen, und man ist der kulinarischen Versuchung ständig und überall ausgesetzt. Kein Lokal macht Mittags zu, oder erst Abends auf. Essen wird immerzu bereitgehalten, rund um die Uhr. Die Wohlstandsgesellschaft darf nicht Hungern.
Typisch amerikanisch sind die Fastfood-Ketten und Steakhäuser. Ansonsten trifft man Restaurants aller Weltkulturen an. Für jeden Geschmack lässt sich etwas finden. Und preiswert ist es auch. Man kann eine komplette Mahlzeit in einem fantastischen Steakhaus bestehend aus Getränk, Suppe oder Salat, Filetsteak, Pommes Frites und Nachtisch, für rund zwölf Dollar haben.
Verglichen mit einem deutschen Filetsteak, das ohne Vorspeise, Getränk und Nachtisch vierundzwanzig Euro kostet, versteht man warum die Amerikaner so oft und gern essen gehen. Sie können es sich leisten, und es ist ein fester Bestandteil ihrer Kultur.
Geht man Essen oder Schaufensterbummeln, ist es ratsam auch im Sommer eine leichte Jacke mit sich herum zu tragen, denn in sämtlichen Gebäuden laufen Klimaanlagen. Beim Sitzen in einem Restaurant kann einem leicht frisch werden. Beim Schlendern durch Geschäfte ist es mir nicht so aufgefallen, allerdings hatte ich nach drei Tagen rote Augen durch den ständigen unterschwelligen Luftzug.
Das amerikanische Leben ist voller Annehmlichkeiten, denn man lebt nach der Devise, warum kompliziert, wenn’s auch leichter geht?
Die meisten Geschäfte machen spät nachts zu, oder gar nicht. Selbst an Wochenenden bleibt alles geöffnet. Es gibt nur breite, behindertenfreundliche Türen, kaum Treppen, (wozu gibt es schließlich Fahrstühle), riesige Parkplätze, die garantieren, dass man jederzeit einen findet, und die breit genug sind, damit auch eine Frau,die im neunten Monat schwanger ist, noch bequem aussteigen kann.
Jedes Auto hat mehrere cupholder, das sind praktische Getränkehalter. Cupholder findet man auch an den gigantisch großen Einkaufswagen, denn wenn Mutti morgens einkaufen geht, nimmt sie ihren nicht ausgetrunkenen Kaffee mit, oder kauft sich einen Mocca-Vanille-koffeinfrei-ohne-Zucker-plus-fettreie-Sahne-Cappucino bei Starbucks. Schließlich braucht sie ihre freien Hände zum Geld ausgeben. Das Eintüten der gekauften Waren wird selbstverständlich vom Ladenpersonal übernommen, und überlasteten Müttern mit Kleinkindern sogar ans Auto gebracht.
Die großen Einkaufswagen erklärte ich mir damit, dass man nicht, wie oft bei uns, täglich etwas besorgen geht. Einmal pro Woche, oder gar pro Monat reicht völlig aus, denn die Amerikaner kaufen im bulk. Was bedeutet, fast alles gibt es in Großpackungen. Eine Tube Zahnpasta würde hier nicht in meinen Spiegelschrank im Bad passen. Mündspülung (man hat gern einen frischen Atem, es grenzt schon an Zwangsverhalten) gibt sich großzügig in der Zweiliterflasche, die ich erst recht nirgends unterbringen könnte, geschweige denn früh morgens hochstemmen, und kostet weniger als unsere Minifläschchen des selben Produktes. Flüssigkeiten aller Art in Plastikflaschen erreichen leicht ein Volumen von fünf Litern.
Fasziniert betrachtete ich einen 2,5 Kilo Beutel voller schokoüberzogener Erdnüsse. Ein Paradies für Naschkatzen.
Auch muss man nicht für jede kleine Besorgung in vier verschiedene Läden gehen, denn die meisten Supermärkte bieten einfach alles – vom Autoreifen über frisches Brot, bis hin zum Kopfschmerzmittel.
Natürlich kommen die meisten Autos serienmäßig als Alles-Geht-Automatisch, sogar der Kofferraumdeckel öffnet sich per Fernbedienung.
Praktisch sind sie eben, die Amis. Diesen Ausdruck mögen sie übrigens gar nicht.
Nach dem letzten Krieg entwickelte sich im Rest der Welt das Bild des Dirty-American, der Kaugummi kauend in verlotterten Jeans untätig in die Welt grinst. Man tut alles, um dieses Image loszuwerden. Man ist freundlich, gar liebevoll, hört zu, nickt, grüßt wildfremde Leute mit einem Lächeln, hält die Straßen sauber, hält die öffentliche Moral aufrecht, und das alles nur um geliebt zu werden.
Für Abfall auf die Straße werfen wird man in Los Angeles mit 1000-Dollar-Bußgeld bestraft. Autsch, das tut weh. Die Straßen sind dementsprechend geradezu unnatürlich sauber. Man fragt sich, ob hier wirklich Menschen leben, oder man sich in einer originalgetreuen Attrappe bewegt.
Jemanden schubsen oder beleidigen kann teuer werden. Amerikas Moralvorstellungen werden streng verteidigt. Ich fragte meine Freunde, woher im Widerspruch dazu all die Gewaltszenen in Filmen stammen. Ständig wird eine Bar auseinander genommen wegen der kleinsten Beleidigung, und die Fäuste scheinen locker zu sitzen. Die ganze Welt muss glauben, so seien die Zustände in den USA.
Meine Freunde reagierten entsetzt. Es war ihnen nicht bewusst, welches Amerikabild über den großen Teich schwappt.
Man erklärte mir, dem sei nicht so, denn man ginge ins Gefängnis, wenn man sich prügelt. Kommt es zu einer solchen Auseinandersetzung, so wartet jeder der Gegner bis zum letzten Moment mit dem Zuschlagen, denn das Gesetz sagt, wer den ersten Schlag ausführt, ist der Schuldige und wird bestraft. Schlägerein kämen daher fast nur in der Bevölkerungsschicht vor, wo sich niemand traut die Polizei zu holen, denn fast jeder hat dort selbst etwas zu verbergen, und die Prügel wahrscheinlich verdient.
Ich sah mir die Kriminalitätsraten einzelner Städte an, und stellte fest, dass der Hauptanteil der Tatbestände auf Autodiebstähle fällt. Natürlich ist die Kriminalität in den USA nicht zu verniedlichen. Es geschehen mehr Morde als irgendwo sonst auf der Welt. So manche verallgemeinernde Behauptung stimmt allerdings nicht mit der Realität überein.
Political correct bedeutet, man darf keine Minderheiten beleidigen. Offiziell dürfen weder Indianer noch Schwarze diffamiert werden. Die Political Correctness treibt manchmal Blüten, in dem Versuch, niemandem auf die Füße zu treten.
Das Land mit der Freiheitsstatue ist eingeengt von Regeln und Vorschriften, und erscheint gar nicht so frei. Ich erwähne nur einige Kuriositäten.
Das Überqueren einer Straße zwischen fahrenden Autos ist bei Strafe untersagt.
Alkohol darf im Auto nur in geschlossenen Behältern mitgeführt werden, und offene Flaschen nur im Kofferraum, denn: Alkoholisches trinken während des Fahrens ist sämtlichen Insassen untersagt. Ebenso Trinken auf öffentlicher Straße, selbst als Fußgänger. Man trägt grundsätzlich keinen offenen Alkohol mit sich herum, nicht einmal eine Dose Bier.
Öffentliches Fluchen ist verboten und wird im Fernsehen mit einem Piepton belegt. Kinder werden von der Schule suspendiert wenn sie ein Schimpfwort sagen.
Filme fallen der Zensur zum Opfer, damit das Volk rein und unbefleckt bleibt.
Einer der Bundesstaaten will durchsetzen, dass Romane, in denen Sexszenen vorkommen, nicht öffentlich im Laden stehen dürfen. Läden, die das nicht beachten, müssen bestraft werden. Kinder könnten ein Buch greifen, es durchblättern und geschockt werden. Pornografie ist verboten, und zwar nicht nur in Bildern. So manche heiße Buchszene könne durchaus als pornografisch eingestuft werden.
Gegner sind bereits auf den Barrikaden, und argumentieren, dass dies über die Hälfte aller Romane aus den Läden entfernen würde, unter ihnen jede Menge hochverehrte klassische Literatur. Und überhaupt, von Zensur wollen die Amerikaner nichts wissen, wobei sie die bereits existierende großzügig ignorieren.
Manchmal wollte ich glauben, ich sei in einem islamischen Land. Betritt man einen Zeitungsladen, sind Titelblätter von schwarzen Pappen oder Folien verdeckt. Ich schaute unter eine Pappe und erspähte ein vollbusiges Bikinimädchen, wobei man in einem solchen Bikini an einem deutschen Baggersee für einen Zeitreisenden aus den Sechzigern gehalten werden würde.
Mit aller Gewalt will man vermeintlich schmutzige Verführungen von den Bürgern fern halten. Jugendliche und Kinder könnten zu Sexbesessenen mutieren, beim Anblick nackter Brüste auf Zeitschriften, wo sie doch zuhause nicht einmal ihre eigenen Eltern je nackt gesehen haben.
Sodom und Gomorrah lauern überall, muss man bedenken.
Puritaner regieren noch immer das Land. In ländlichen Gebieten ist es Schulkindern verboten, im Sportunterricht T-Shirts zu tragen, die beim Hochspringen den Bauchnabel enthüllen. Nackter Haut wird mit Entsetzen begegnet, während Gewaltbilder in den Nachrichten und in Filmen – allzu Blutiges wird allerdings geschnitten – zur Normalität gehören.
Eine amerikanische Mutter erklärte mir, sie glaube ihr heranwachsender Sohn könne schwerer an eine Waffe herankommen, als an ein vierzehnjähriges Mädchen Hand anlegen. Daher ist sie der Zurschaustellung von Gewalt gegenüber nicht so kritisch, doch hält alles auch nur annähernd Sexuelles von ihm fern. Wo keine Verführung ist, ist auch kein Sexualtrieb, scheint man allgemein zu glauben.
Aufgeklärt werden Kinder zwar mittlerweile recht gut, doch in der Familie offen über Sexualität sprechen ist eine Seltenheit. Ich weiß, ich wage hier eine grobe Verallgemeinerung und riskiere damit die Entrüstung von Millionen weniger puritanischen Amerikanern. Man muss bedenken, dass die sexuelle Offenheit regional stark unterschiedlich ausfällt. Manche Regionen sind offener, andere zugeknöpfter, doch man kann durchaus sagen, landesweit sind sich alle einig:
Man kann auch sehr gut ohne nackte Brüste auf Zeitschriften durchs Leben gehen. Die allgemeine Prüderie wird oft belächelt, doch in jedem Fall akzeptiert und respektiert. Es wäre unhöflich und politisch nicht korrekt, prüde Mitmenschen vor den Kopf zu stoßen.
Skandalöse Filmstars und Einflüsse aus dem sexuell weit lockereren Europa, die schonungslose Offenheit des Internets und gute Beziehungen mit anderen Ländern, lenken hier zögerlich eine Wende ein.
Ein bekanntes Vorurteil hat mich besonders interessiert. Amerikaner sind nicht ganz so intelligent. Ich muss sagen, ich habe viele Amerikaner kennen gelernt, und kann sagen, dumm sind sie nicht. Wie könnte man das auch von einer Millionenbevölkerung behaupten. Hier handelt es sich um eine Aussage, die in ihrer Qualität dem Vorurteil entspricht, Deutsche hätten keinen Humor.
Die amerikanische Einstellung ist vielen Dingen gegenüber einfach anders als die europäische. Öffentliche Systeme wie Schulen sind meiner Ansicht nach sehr clever durchdacht. Ein junger Doktor von nur fünfundzwanzig Jahren glänzt durch das selbe fundierte Wissen wie ein beim Abschluss weit älterer Deutscher.
Jeder kann ein College besuchen, Kurse belegen und sich weiterbilden, ganz egal wie alt er ist. Das Bildungssystem steht immer offen. Kinder in den höheren Klassen der Hochschulen schreiben ganze Abhandlungen über ihre Projekte und Themen, und werden ganz speziell nach ihren persönlichen Neigungen und Stärken gefördert.
In ländlichen Gegenden wiederum, trifft man oft auf eine ablehnende Lernhaltung. Gute Schüler werden als Streber bezeichnet, und eine gute Bildung ist un-cool. Hier liegen die Brutstätten der Vorurteile. Kinder aus solchen Schulen haben es schwer mit einem beschränkten Horizont im Leben etwas zu erreichen, und werden später vom Rest der Welt als dumme Amerikaner, na ja, man kennt sie ja, belächelt.
Hinzu kommt die hohe Bewertung des Sports. Ein Kind, das gut im Baseballteam ist, kann damit all seine schlechten Noten ausgleichen. Nicht jeder wird jedoch später ein reicher Baseballstar, sodass viele mit einer schlechten Bildung auf der Strecke bleiben. Entrüstete Amerikaner erzählten mir davon, und stehen dieser merkwürdigen Sichtweise selbst machtlos gegenüber.
Im Businessleben fällt auf, dass ein jeder hetzt und rennt, viel beschäftigt aussieht, und doch nirgendwo ankommt. Oft werden ungeheuer viele Überstunden geleistet, ohne dass die Arbeit jemals weniger wird.
Das deutsche Arbeiterherz blutet. Wie gern würde man ein bisschen Organisation in die Sache bringen, und schon liefe der Laden effektiver. Aber: Halt! Das ist gar nicht erwünscht. Effektivität ist eine deutsche Erfindung und wird in den USA mit einem Stirnrunzeln bedacht. Man ist der Meinung, wir sind diejenigen, die sich einen Herzinfarkt erarbeiten. Denn trotz Stress bleibt der Amerikaner innerlich ruhig.
Wie aber kommt es zu dieser Ineffektivität? Bei genauerer Betrachtung stellt man fest, dass Amerikaner gern viel Zeit vertun, durch unnötiges Wiederholen des bereits Gesagten, betonen des Offensichtlichen, und nicht zum Punkt einer Sache vordringen.
Das kann einen ungeduldigen, effektiven deutschen Gesprächspartner schon mal an den Rand des Wahnsinns bringen.
Geschäftsmeetings verlaufen oft ergebnislos. Zunächst wird sich darüber unterhalten, dass der Sohn bald seinen Abschluss macht, und gefragt ob es der werten Gattin besser geht. Smalltalk nennt man das, und ist sehr wichtig.
Kommt man nach einer Stunde endlich zum Thema, fällt jede Menge Belangloses, bis festgestellt wird, dass man heute gar keine Entscheidung fällen kann, weil noch wichtige Informationen fehlen. Aber, schön, dass man mal darüber gesprochen hat.
Zur amerikanischen Kultur gehört auch, dass man einem Hobby nachgeht. Ob es Reiten ist, Tennis spielen, Fitnesstraining, Golfen, Wandern, Wintersport, Wassersport, Bogen schießen, häusliche Basteleien, ganz egal - jeder macht irgendetwas, ohne dass es ein Vermögen kostet.
Die Preise für Lebensnotwendiges sind generell niedrig. Vergleicht man mit dem Euro und den Gehältern, so erfreuen sich Amerikaner einer höheren Lebensqualität. Sie können weit mehr Freizeitspaß genießen, für weit weniger Geld.
Wermutstropfen sind und bleiben hohe Kosten für Kranken- und Autoversicherung. Dafür kann man sein Leben für ein paar lumpige Dollar so hoch versichern, dass sich die Angehörigen schon frühzeitig nach dem werten Befinden erkundigen.
Die Gemütsruhe der Kalifornier im Besonderen, und in diesem Fall im Umgang mit der Erdbebengefahr, beeindruckte mich tief. Man nimmt es als vollkommen normal hin, dass der Boden mehrmals täglich leise bebt, und die meisten Bewohner nehmen das nicht einmal mehr wahr.
Wie mit gespannter Erwartung blickt man dem großen Beben entgegen, bei dem der Voraussage nach der gesamte kalifornische Küstenstreifen in den Pazifik abrutschen soll, vielleicht dieses oder nächstes Jahr, wie manche Geologen kühn im Fernsehen behaupten. Seltsamerweise verursacht das keine Massenflucht, sondern der Staat bevölkert sich immer mehr, um dabei Smog und Verkehrschaos zu verschlimmern.
Zu bestimmten Zeiten ist kein Durchkommen in Los Angeles. Busse und Bahnen bleiben denen vorbehalten, die sich kein Auto leisten können, und sind dementsprechend unbeliebt. Die Stadt versucht das zu ändern, macht außerdem Reklame für Fahrgemeinschaften, denn in den meisten Autos sitzt nur ein Mensch. Geändert hat sich bisher nichts. Amerikaner lieben ihr Auto und gewöhnen sich nur schwer an neue Dinge, besonders wenn sie eine Einschränkung ihrer Bequemlichkeit bedeuten.
Alles was kompliziert, langwierig, aufwendig und nervig ist, lehnt der Amerikaner schlichtweg ab. Nie und nimmer würde er etwa einem Flaschenpfandsystem zustimmen, und den damit verbundenen Aufwand in Kauf nehmen. Nicht umsonst hat er sich sein Leben bequem und praktisch gestaltet. Er ist von Natur aus mit wenig Geduld gesegnet, was die Erschaffung von wirklich Praktischem möglich machte.
Beispielsweise verfällt ein Amerikaner in ungläubiges Staunen, wenn er hört, dass man in Deutschland mit der Küche umzieht. Amerikas Küchen sind fester Bestandteil des Hauses, und wenn sie einem nicht gefällt, so kann man sich jederzeit eine neue kaufen, die aber beim Auszug nicht mitgenommen wird. Manchmal werden einfach nur die Türen ausgetauscht, aber keinem würde es einfallen die Küche auszubauen, oder gar den Herd mitzunehmen.
Kleiderschränke hält man für ebenso unpraktisch, wie mobile Küchen. Daher verfügt jedes Haus über praktische Einbauschränke, und oft eine Speisekammer, für den Bulk-Einkauf. Zu diesem Zweck stehen außerdem riesige Gefriertruhen in jedem größeren Haushalt bereit.
Wohin auch immer ein Amerikaner mit Familie beruflich versetzt wird, da kauft er ein Haus. Renovieren ist nicht teuer, ein paar Eimer Farbe, ein paar neue Tapeten, und schon wird aus einem unschönen gebrauchten Haus ein gemütliches neues Zuhause. Nur sauber muss es sein. Ein schmutziges Haus kann sehr lange zum Verkauf stehen, und wird am Ende für einen Spottpreis verschleudert werden müssen.
Amerikaner an sich sind nicht so sesshaft wie ihren oft europäischen Vorfahren. Man hat wenig Probleme mit der Eingewöhnung in einer neuen Umgebung. Eine solche Abwicklung geht schnell und problemlos - kein großer Papierkrieg ist nötig, kein lästiges An- und Abmelden bei Behören, kein sechs Monate im Voraus planen. Beginnt der neue Job in der neuen Stadt nächste Woche, so wird sich bis dahin ein Haus finden und ein Umzug organisiert sein. Dann braucht man nur noch den alten Führerschein gegen einen örtlichen einzutauschen und dem Auto ein neues Nummernschild besorgen. Schon ist man umgezogen. Menschen ohne Führerschein verlieren mehr oder weniger ihre Identität, denn der Führerschein gilt als Hauptdokument, noch vor dem Reisepass. Er ersetzt praktisch einen Personalausweis.
No problem ist etwas, das man gemeinhin zu hören bekommt, wenn man sich mit einem organisatorischen Problem an einen Amerikaner wendet. Keine Panik, fast alles ist möglich, und meist sofort, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten.
Einem Amerikaner zu sagen man möge sein Land nicht, stürzt ihn in Depressionen. Teilt man ihm dagegen mit, man liebe es, wird man wie ein König behandelt, und erkennt ehrlich gemeinte Freude in den Gesichtern.
Ich kann von ganzem Herzen sagen, dass Amerika gut zu mir war, und dass ich es mag. In Anlehnung an den liebenswürdigen Hang zur Übertreibung der Amerikaner möchte ich enden mit: I love America!
2006-10-01 by Joy Fraser, Wirtschaftswetter
Text: © Joy Fraser
Fotos © Cornelia Schaible
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