Bayerischer Kultusminister initiiert Verwirrspiel um die Schulpflicht
von Annegret Kempf
Lesen und Logik sollen Kinder lernen, die in die Schule kommen. Doch mit der Logik hapert es derzeit bei den Erwachsenen, die für die Einschulung in Bayern zuständig sind und einen an Donald-Duck-Unbeholfenheiten erinnernden Kuddelwuddel aus der Vorverlegung des Einschulungsalters und der Vorverlegung des Stichtags für die Einschulung kreieren.
Einerseits bekamen im September 2009 auch die Eltern der zwischen Oktober und Dezember 2004 geborenen Kinder Briefe der Stadt München, in denen es hieß: Liebe Eltern und Erziehungsberechtigte, es ist soweit: Ihr Kind soll nächstes Jahr in die Schule kommen. Fast zeitgleich ließ der bayerische Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU) in einer Pressemitteilung und an den Kindergärten verkünden: Der Einschulungsstichtag werde ab dem Schuljahr 2010/2011 der 30. September sein. Die bis jetzt praktizierte Vorverlegung des Einschulungsalters habe sich nicht ausreichend bewährt.
Noch im Februar 2010 wird auf der Internetseite der Stadt München betont: Durch die Vorverlegung des Einschulungsalters wird die Zeit, in der Kinder nach wissenschaftlichen Erkenntnissen in hohem Maße aufnahme- und lernbereit sind, besser genutzt.
Kein Wunder, denn Mitte Februar 2010 ist der Bayerische Landtag, also der Gesetzgeber in Bayern, weit davon entfernt, die notwendige gesetzliche Grundlage für einen Rückzug von der Vorverlegung des Einschulungsalters zu beschließen. Marion Schneider von der Landtagspressestelle: „Dem Bayerischen Landtag liegt bis dato kein Gesetzentwurf vor, somit fand auch keine Abstimmung statt.“
Claudia Asang von der zuständigen Fachabteilung des Schul- und Kultusreferats der Stadt München, Mitte November 2009: „Die Bayerische Staatsregierung sieht vor, den Stichtag der Einschulung zu ändern. Hierfür ist eine Gesetzesänderung des Art. 37 des Bayerischen Gesetzes über Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) geplant.
Uns liegen derzeit weder ein Gesetzesentwurf, noch sonstige Informationen vor, wie diese Neuregelungen konkret aussehen werden.“
So kommt es, dass die ausführenden Behörden, der geltenden Rechtslage entsprechend, auch Kinder, die zwischen Oktober und Dezember 2010 sechs Jahre alt werden, zum Gesundheitstest für die Einschulung bestellten. Dabei sind diese ABC-Schützen in spe für das Kultusministerium mit Blick auf das kommende Schuljahr bereits ausgemustert.
Als beispielsweise die Eltern eines der im November 2004 geborenen Kinder Anfang Februar 2010 – so wie vom Gesundheitsamt schriftlich aufgefordert - einen Termin für März 2010 vereinbaren wollten, sollten sie keinen bekommen. Begründung der Mitarbeiterin: „Das Kind ist noch nicht schulpflichtig“. Beim Hinweis auf die tatsächlich geltende Gesetzeslage vergab sie schließlich doch einen Termin. Aber für einen Tag, der nach der allgemeinen Schulanmeldung im April liegt, bei der sich das Kind einem besonderen Test unterziehen solle. Die Gesundheitsamtsmitarbeiterin: „Den Termin bei uns können Sie danach ja absagen“.
Paradoxerweise steht plötzlich parallel zu den Ausführungen, dass Kinder, die bis zum 31. Dezember 2004 sechs Jahre alt werden, schulpflichtig sind und alle zwischen September und Dezember Geborenen im März 2010 zur Einschulungsuntersuchung kommen müssen, Mitte Februar 2010 – anders als noch Anfang Februar 2010- auf der Internetseite muenchen.de zu lesen:
Einschulungsuntersuchung 2010:
Achtung: Das Bayerische Kultusministerium plant den Stichtag für die Einschulung 2010 vorzuverlegen.
Für diesen Fall wären Kinder schulpflichtig, die bis zum 30.9.09 sechs Jahre alt werden. Kinder, die ab dem 1.Oktober 2004 geboren sind, wären nicht mehr schulpflichtig und müssten erst im nächsten Jahr zur Schuleingangsuntersuchung vorgestellt werden.
Nunmehr sollen die eigentlich schulpflichtigen, aber dennoch als frühzeitig schulwillig behandelten Kinder erst zur Anmeldung in der Schule gehen – ohne das eigentlich dafür notwendige Okay des Gesundheitsamtes in der Tasche – und dann erst zum Gesundheitstest, falls sie denn von der Schule angenommen werden. Der Mitarbeiterin zufolge sei dieses Vorgehen sinnvoll: „Die von der Vorverlegung des Einschulungsalters betroffenen Kinder haben aufgrund ihrer Jugend in der dritten und vierten Klasse massive Probleme in der Schule bekommen.“
In Gesundheitsamt sitzen demnach moderne Auguren, die in die Zukunft sehen können: Denn erst im Schuljahr 2010/2011 werden die ersten Kinder in der dritten Klasse sitzen, die nach dem 30. September 2002 geboren sind und aufgrund der Vorverlegung des Einschulungsalters bereits 2008 in die erste Klasse gekommen sind. Druck entsteht für bayerische Dritt- und Viertklässler bislang durch den frühzeitigen Übertritt auf weiterführende Schulen.
Was sagt das Kultusministerium zu dem Versuch, Politikverdrossenheit durch Wirrwarr und unzuverlässige Vereinbarungen bereits bei Fünfjährigen zu säen? Silke Hanz, Sprecherin des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus: „Die Neuregelung soll ab 1. August 2010 in Kraft treten und somit bereits für die Einschulung zum Schuljahr 2010/11 gelten, das heißt, es werden die Kinder schulpflichtig, die bis zum 30.09.2004 geboren wurden.“
Doch was wird aus den später geborenen Kindern des Jahrgangs 2004, die sich schon lange auf ihren ersten Schultag freuen und vielleicht bei der Osternestsuche einen Schulranzen finden? Hanz: „Kinder, die direkt von dieser Umstellung betroffen sind, weil sie im Oktober, November und Dezember 2004 geboren wurden, sollen aufgrund der Umstellung keinen Nachteil haben. Bei einem vorzeitigen Antrag auf Einschulung sollen Elternwille und vorausgegangene Maßnahmen, zum Beispiel Aufnahme in die Vorschulgruppe des Kindergartens, in besonderem Maße berücksichtigt werden.“
Kommen Kinder, die zwischen Oktober und Dezember 2004 geboren worden sind, automatisch und verpflichtend im kommenden Jahr in die Schule, oder ist diese Regelung tatsächlich gekippt?
Nach der Neuregelung - wie oben beschrieben - sind diese Kinder im kommenden Schuljahr nicht schulpflichtig.
Was müssen Eltern und Kinder unternehmen, damit die potenziellen Erstklässler dennoch, wie eigentlich erwartet und geplant, eingeschult werden?
Eltern, deren Kinder von Oktober bis Dezember 2004 geboren sind und die eine Einschulung wünschen, kommen zum Einschreibtermin mit ihrem Kind in die Schule. Dort führen erfahrene Lehrkräfte das Einschulungsverfahren durch. Auf dessen Grundlage erfolgt ein Beratungsgespräch, ob die Einschulung zu empfehlen ist.
Werden Kinder, die bis vor kurzem als Pflicht-Erstklässler galten, möglicherweise aufgrund der überraschenden Kehrtwende des Ministeriums nicht in die Schule gelassen, falls sie einen Früh-Einschulungstest nicht bestehen, dem sie sich nach bisheriger Lage der Dinge gar nicht hätten unterziehen müssen?
Diese Kinder nehmen an dem gleichen Einschulungsverfahren teil, das auch schulpflichtige Kinder durchlaufen. Entscheidend ist der individuelle Entwicklungsstand des Kindes, das heißt, die Frage, ob das Kind - unabhängig vom Stichtag - aufgrund der körperlichen, sozialen und geistigen Entwicklung voraussichtlich mit Erfolg am Unterricht teilnehmen kann.
Bisher hatten die Eltern der in diesem Zeitraum geborenen Kinder das Rücktrittsrecht, das heißt, sie konnten selbst entscheiden, ob sie ihr Kind einschulen oder nicht. Ein Großteil der Eltern hat davon Gebrauch gemacht, so dass die Neuregelung den meisten Eltern entgegen kommt und nicht völlig überraschend ist.
Werden den Eltern der zwischen Oktober und Dezember 2004 geborenen Kinder die Kosten für das überraschende, zusätzliche Kindergartenjahr erstattet?
Nein. Die Problematik stellt sich in der Praxis kaum. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass ein Großteil der Eltern von ihrem Rücktrittsrecht Gebrauch machen und ihr Kind nicht einschulen, zudem können sie ihr Kind, falls sie es für schulpflichtig halten, auf Antrag einschulen.
Wird das G8 für diese Kinder zur Pflicht, damit sie bis zum Berufsstart nicht noch mehr Zeit gegenüber den Schülern, die in den Jahren vor ihnen geboren wurden und früher eingeschult werden mussten, verlieren?
Kein Kind muss das achtjährige Gymnasium besuchen. Die Eltern entscheiden in Absprache mit den Grundschullehrkräften sowie auf der Basis der gültigen Übertrittsregelungen, welche weiterführende Schule ihr Kind besuchen wird.
Warum hat sich die bisher praktizierte Vorverlegung des Einschulungsalters, die auch einer Anpassung an den europäischen Standard diente, nicht bewährt?
Die Neuregelung stellt deutlich die Entwicklung des einzelnen Kindes in den Mittelpunkt: Wer schnell lernen kann und will, muss schneller lernen dürfen; wer langsamer lernt, muss auch langsamer lernen dürfen. Diese Ausrichtung wird dem einzelnen Kind wesentlich besser gerecht als eine Einheitsregelung nach dem Motto Für alle Kinder das Gleiche. Dennoch gelingt es Bayern ja, das Durchschnittsalter der Kinder bei der Einschulung zu senken, so dass für die Kinder in Bayern im internationalen Vergleich die gleichen Bildungschancen bestehen.
Beim Koalitionspartner der CSU im Landtag, der FDP, spricht man vom mangelnden Erfolg der früheren Einschulung als Grund für die überraschende Kehrtwende. Zu heterogen seien die Klassen, seit die Schulanfänger nach aktuell geltendem Gesetz immer früher eingeschult wurden. Deshalb sei man nun uniso für eine Rücknahme der Vorzeitigkeit gewesen, so die bildungspolitische Sprecherin der FDP-Fraktion im Bayerischen Landtag, Renate Will.
Die Vize-Chefin der Bayern-FDP erläutert die liberale Unterstützung der Lex Spaenle: „Die einen konnten beim Schulstart schon lesen, rechnen und schreiben, sich aber aufgrund mangelnder Feinmotorik noch nicht selber die Schuhe zubinden. Andere neigten zu Aggressivität, weil es ihnen im Unterricht langweilig wurde, da sie auch schon vor ihrer Einschulung lesen konnten: Sie sollten aber nicht deshalb in eine Förderschule abgeschoben werden. Wieder andere waren sprachlich absolut nicht fit oder konnten nicht stillsitzen, so dass die Lehrer mit all den Anforderungen ihrer sehr jung eingeschulten ABC-Schützen nicht zurechtkamen.“
Geschenkt bekommt die CSU die parteienübergreifende Einigkeit über eine Gesetzesänderung von der FDP dennoch nicht. Zustimmung gibt es „unter gewissen Voraussetzungen, zu denen eine flächendeckend qualitativ hochwertige, frühkindliche Bildung in den Kindergärten, speziell in einem verpflichtenden Vorschuljahr, gehören“, das die FDP derzeit durchdrücken will, betont die FDP-Bildungsexpertin. Einen Betreuungsschlüssel von eins zu zehn und das Setzen von Standards hielten die Liberalen für absolut notwendig. Will: „Die Kinder müssen intensiv auf die Schule vorbereitet werden, etwa durch eine ausführliche Beschäftigung mit Sprache, damit es gerecht beim Start in die Schule zugeht.“ Ihr Ja ist für die Liberalen auch an das neue Modell der flexiblen drei Schul-Einstiegsjahre gekoppelt, in denen die Kinder in Gruppen individuell gefördert werden, ohne dass ein Zweitklässler sitzen bleibt, weil er nicht das Glück hat, im Elternhaus ausreichend gefördert zu werden.
„Wir arbeiten uns – teils über Kompromisse - Stück für Stück vor, ebenso beim Thema der Ganztagsschulen, die nach FDP-Willen von den einzelnen Schulen selbständig gestaltet und qualitativ aufgewertet werden sollen“, strukturiert Will die Bildungspolitik der Landtags-Liberalen. Und skizziert gleich noch ein weiteres Stück Bildungs-Freiheit: „Die Frage der Qualität einzelner Schulen, Schulverbände und Mittelschulen wird unweigerlich zu einer Auflösung der Sprengel führen. Die Sprengel-Aufteilung fällt – irgendwann wird die Aufhebung der Sprengel nicht mehr aufzuhalten sein und mit der Schulqualität, sowie der Notwendigkeit guter Ganztagsschulen, Hand in Hand gehen.“
2009-12-03 - aktualisiert 2010-02-23, Annegret Handel-Kempf, Wirtschaftswetter
Text: ©Annegret Handel-Kempf
Illustrationen: ©ap
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