Alles scheint wie gewohnt, aber nichts ist mehr so, wie es sein sollte. Das aus den steilen zackenförmigen Dachfenstern einfallende Licht erfüllt den Raum nach wie vor mit steter Helligkeit. Der Spezialanstrich der kalkweißen Wände verhindert seit Jahrzehnten unerwünschte Lichtreflexe. Das Brummen der Klimaanlage garantiert gleich bleibende Feuchtigkeit und die Temperatur von 24 Grad. Indonesische Klimaverhältnisse, wie sie die auf den langen spreizbeinigen Lattentischen ausgelegen Tabakproben benötigen. Es herrscht eine Atmosphäre gedämpfter Geschäftigkeit, umwabert von einer blaugrauen Rauchwolke würzigen Zigarrentabaks. Seit einem halben Jahrhundert spielt sich dieses Ritual der Einschreibung an der Bremer Tabakbörse genau so ab. In den kleinen, nach oben offenen Kabinen wird verhandelt. Mal hinter verschlossener Tür, mal steht sie einladend offen. Das Mobiliar dahinter zeugt von karger Schlichtheit bis zur hoffnungslosen Veraltung. Aber die in den Kabuffs befindlichen Lampen sind eins zu eins und originalgetreu den jeweils in den heimischen Produktionsbetrieben herrschenden Lichtverhältnissen angepasst. So viel Service muss sein.
An den Tischen stehen die Makler und Händler, Spielbein vor, Standbein zurück. Die zur Schau getragene Lässigkeit ist trügerisch. Manche haben sich die weiße Küperschürze umgebunden, manche tragen Anzug, andere haben das Jackett aus gezogen und zeigen sich im Hemd. Nur Jeans sucht man hier vergeblich. Man redet miteinander, streicht behutsam über die Tabakblätter, blättert sie durch oder macht Notizen. Etliche der Besucher haben eine glimmende Zigarre in der Hand. Asche und Stumpen werden in einer der überall bereit stehenden und auch an den Wänden an gedübelten silbernen Kastenbackformen entsorgt. Same procedure as every year. Auf den ersten Blick nimmt die Einschreibung des Jahres 2009, auf der die Ernte des Jahres 2008 versteigert wird, an Bremer Tabakbörse ihren gewohnten Verlauf.
Aber warum will die rote Lampe dort oben an der Wand heute überhaupt nicht erlöschen?
„Die rechnen vielleicht noch mit dem Abakus“, murrt ein älterer Herr, der an einem der kleinen Tische direkt an der Längswand Platz genommen hat. Sein Gegenüber runzelt irritiert die Augenbrauen. Der holländische Makler hat nicht verstanden. Prompt holt sein deutscher Kollege zu einem langatmigen Exkurs über Rechenmethoden des vordigitalen Zeitalters aus und kann so ein bisschen Zeit totschlagen.
So abwegig scheint der Gebrauch des altmodischen Rechengeräts in dieser Halle gar nicht zu sein. Noch immer laufen Makler und Händler mit ihren Leinen gebundenen Oktavbüchlein, den Einschreibebüchern, herum. Dunkles Orangegelb für Sumatra, dunkelbraun für Java. Etwa zwei Wochen, ehe sich die Beteiligten in Richtung Bremen auf den Weg machen, erhalten sie beide von der Bremer Tabakbörse zugesandt. Akribisch ist das indonesische Tabakangebot, das in Bremen zur Versteigerung kommen soll, darin erfasst. Mit spitzem Bleistift vermerken die Makler und Händler ihre eigenen Berechnungen und Anmerkungen, radieren hastig, wenn sich ihre Dispositionen geändert haben. Wehe, wenn so ein Büchlein einmal verloren geht. Für diesen worst case haben es sich manche Tabakbörsianer sogar zur Gewohnheit gemacht, ihre Eintragungen zu chiffrieren, damit die Konkurrenz auf keinen Fall etwas entziffern könnte.
Es ist eine seltsame Mischung aus zur Schau gestellter Herzlichkeit, ja, eventuell sogar tatsächlich bestehender Freundschaft und unterschwelliger Konkurrenz, die an einem Einschreibungstag die Atmosphäre der Bremer Tabakbörse bestimmt. Jeder scheint hier jeden zu kennen, flapsige Bemerkungen auf Deutsch, Holländisch, Englisch und Spanisch fliegen hin und her. Man frotzelt und zieht einander auf, belauert einander ununterbrochen, stets auf den optimalen Geschäftsabschluss bedacht. Die indonesischen Partner unterhalten sich leise in ihrer Muttersprache. Vereinzelt zeigen sich deren verschleierte Ehefrauen, lächeln freundlich und posieren bereitwillig, wenn sie um ein Foto gebeten werden. Es ist eine kleine, in sich geschlossene Welt, für einen Laien alles andere als leicht durchschaubar.
„Wir sitzen doch alle in einem Boot“, formuliert es ein holländischer Makler. „Wir sind befreundete Konkurrenten oder konkurrierende Freunde.“
Einig ist man sich in diesem Jahr, dass es heute besonders lange dauert.
„Das liegt an dem neuen Botschafter aus Indonesien“, mutmaßt Peter Borrmann, ein schon längst im Ruhestand befindlicher Tabakhändler, der aber trotzdem keine Einschreibung versäumen mag. „Der ist heute zum ersten Mal hier, dem muss alles erklärt werden. Dabei ist es fast unmöglich, dieses Geschäft einem Laien plausibel zu machen. - Das habe ich außerdem auch noch niemals erlebt, die ganzen Jahre lang. Noch niemals wurde für Java und Sumatra gleichzeitig geboten.“
Es ist eben doch alles ein bisschen anders dieses Jahr.
Warum wird dieser Vorgang überhaupt als Einschreibung und nicht als Versteigerung bezeichnet? Weil es sich um eine geheime Versteigerung handelt. Die Gebote werden nicht öffentlich abgegeben, sondern erfolgen schriftlich in einem verschlossenen Briefumschlag und bleiben geheim. Das Gebot erfolgt nach einem ganz bestimmten Ritual, so wie das gesamte Geschäft um den Tabak der indonesischen Staatsplantagen vorgegebenen Abläufen und Gesetzen unterliegt, die für einen Laien auch nach genauer Beobachtung immer noch rätselhaft bleiben.
Gebote steht auf der silbernen Briefkastenklappe, die sich vor einem Fenster befindet. Das Szenario erinnert an einen alten Fahrkarten- oder Postschalter in der Mittagspause. Die Jalousie ist heruntergelassen und blickdicht verschlossen. In dem Raum dahinter sitzt die mehrköpfige Delegation der indonesischen Regierung, die eigens jährlich eingeflogen kommt, um bei der Einschreibung dabei zu sein. Der Bieter klopft mit dem Knöchel gegen die Scheibe, was da heißt: „Gebot abgegeben“. Auf der anderen Seite nimmt die langjährige Sekretärin der Deutsch-Indonesischen Tabakhandelsgesellschaft den Umschlag entgegen und klopft von innen gegen die Scheibe. „Gebot angekommen.“
Wohl gemerkt: Angekommen, NICHT angenommen! Den tatsächlichen Zuschlag erhält nämlich das höchste Gebot. Wer das abgegeben hat, weiß jedoch niemand. Nicht zu diesem Zeitpunkt. Die um einen Tisch herumsitzenden indonesischen Regierungsbeamten öffnen jeden einzelnen Briefumschlag, notieren die Höhe des Gebots, öffnen den nächsten Umschlag. Zuvor haben sie gemeinsam für einen erfolgreichen Geschäftsabschluss gebetet. Natürlich hinter verschlossener Tür. Im Nebenraum sitzen die Gattinnen der Manager bei Kaffee, Tee, Kuchen und Keksen und freuen sich auf ihre Shoppingtour in der Bremer City.
„Das ist alles Schau, das ist alles schon hinter den Kulissen abgesprochen, was heute hier geboten wird.“ Ein tiefer Zug aus der Zigarre. Der holländische Produzent, Inhaber eines winzigen Betriebes in Belgien, zuckt die Achseln: „It’s showtime“, sagt er und lächelt ironisch.
„Oh, nein, das ist nicht nur Show“, verwahrt sich hingegen Wolfgang Köhne gegen diese ketzerische Behauptung. „Über die Einschreibung reguliert sich doch noch etliches, pendeln sich die Preise ein. Das gehört einfach zu diesem Business dazu.“
Die Ernte des Jahres 2008, die an diesem Junitag zur Versteigerung kommt, hält der einflussreichste Mann des Bremer Tabakhandels für „brauchbar, durchaus brauchbar.“ Der Geschäftsführer und Inhaber der Firma Hellmering, Köhne und Co, gleichzeitig Mit-Inhaber der Tabakbörse und Teilhaber der Deutsch-Indonesischen Handelsgesellschaft mbH und Co. KG wirkt entspannt und gelöst. Ganz anders im Unterschied zu seinem Verhalten vor sieben Jahren. Ein Filmemacher hat damals die Einschreibung des Jahres 2002 dokumentiert und fast schon peinlich nahe fest gehalten, wie der Bremer Tabakhändler, der so viele Aufgaben und Funktionen in seiner Person vereint, die Nerven blank liegen hatte. Damit stand er aber nicht allein, wie die Aufnahmen seiner anderen Kollegen in diesem Film beweisen.
„Na ja, das wurde schon ganz schön dramatisch dargestellt“, schränkt er heute ein. „Aber bedenken Sie, damals hatten wir wirklich auch nur 1200 Ballen zu Verfügung.“
Im Jahre 2009 sind hingegen 1500 Ballen Sumatra, 650 Java und 40 Kartons Connecticut Seed im Angebot. Mit dem hat es eine besondere Bewandtnis. Tatsächlich hat dieser Tabak seinen Ursprung in den USA, dessen Saat wurde aber vor etwa 30 Jahren nach Indonesien gebracht und unter dem Schutz von Gazezelten angebaut wurde. Shade-Anbau nennt man diese schonende Anbaumethode.
„Die Proben finden Sie dort vorne in der ersten Reihe.“ Auch für das Laienauge erkennbar: Die Tabakblätter des Conneticut Seed sind erheblich heller als die auf den anderen Tischen liegenden Proben. „Für’s Auge“, sagt Frederik Engelmans, auch er ein ganz alter Hase im Tabakgeschäft. „Die Blätter werden dünner und heller. Die Kunden wollen das eben so, insbesondere die jungen Leute.“ Sehr viel scheint er von deren Wünschen nicht zu halten.
„Aber selbstverständlich geht der Shade-Anbau auf den Geschmack“, sagt der Vertreter einer großen Schweizer Firma und pafft an seiner dicken Zigarre. Nein, nicht Sumatra, sondern Cuba. Er rauche nur kubanische Zigarren, das den ganzen Tag und mit Genuss, aber niemals würde er inhalieren. Mit den Zigarren sei das eine Sache wie mit einem guten Rotwein, nämlich Geschmackssache. Und Geschmack müsse man trainieren. So wie man sich beim Rotwein hoch trinke, könne man sich bei Zigarren qualitativ hoch rauchen.
Zum Schluss entscheide man sich eben für eine Sorte. Er persönlich habe sich nun einmal für die kubanischen entschieden. Geschäftlich ist er heute aber auf der Suche nach Sumatra, der nun unbestritten die beste Qualität und Eignung für die Deckblätter von Zigarren aufweise. Nach einem Crashkurs in Zigarrenformaten, die Churchill, Corona, Torpedo und Robusto heißen können, verrät er noch, was Ludwig Ehrhard rauchte. Der Vater des deutschen Wirtschaftswunders (ein Begriff gegen den sich dieser persönlich stets mit Vehemenz verwahrte), Wirtschaftsminister in den fünfziger Jahren und zweite Kanzler der Bundesrepublik Deutschland rauchte Handelsgold. „Preiswerte Fabrikware“, sagt der deutsche Händler des großen vornehmen Schweizer Tabakkonzerns, lächelt und nimmt eine tiefen Zug aus seiner Kubazigarre, ohne zu inhalieren natürlich.
Maßhalten lautete die Devise von Ludwig Erhard, den man heute wieder so gerne zitiert, an dessen einstige Erfolge anzuknüpfen so mancher Politiker (und manche Politikerin) vergebens träumt. Dem Trugschluss, es gäbe einen Weg zurück zu den traumhaften Umsatzzahlen der sechziger Jahre, als die gesamte indonesische Tabakernte über Bremen abgewickelt wurde, unterliegen Wolfgang Köhne und seine Kollegen nicht.
Letztendlich leidet der Tabakhandel mittlerweile unter einer dreifachen Bedrohung. Zum einen vollzieht sich seit Jahren ein permanenter, unaufhaltsamer Konzentrationsprozess auf dem internationalen Markt. Die Großen fressen die Kleinen auf. Die Konkurrenten werden immer weniger, aber dafür als einzelne um so stärker. Vergleichbar ist diese Entwicklung mit der des Kaffeemarktes während der sechziger und siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Wer vermag sich noch daran zu erinnern, dass in Bremen damals fast zweihundert kleine Privatröstereien existierten? Genauso, wie damals in der Hansestadt Zigarren noch im manuell produziert wurden.
In ganz Europa gibt es mittlerweile nur noch zwei Firmen, in der die Zigarren im Familienbetrieb mit der Hand gerollt werden. Einer ihrer Inhaber sitzt an seinem Tischchen, pafft seine eigene Zigarre („wir machen die besten Sumatras der ganzen Welt) und beobachtet gelassen das Geschehen.
Bedrohung Nummer zwei ist die Krise, unter der alle zu leiden haben: die Weltwirtschaftskrise, die alle auch gemeinsam zu überleben haben und es irgendwie werden. Die dritte Bedrohung für den Tabakhandel hingegen ist wiederum branchenspezifisch, nämlich die weltweite Nichtraucherbewegung.
Angel Elizalde, Sales Representative einer großen amerikanischen Firma aus Miami bekommt noch heute leuchtende Augen, wenn er sich an die Mitte der neunziger Jahre erinnert. „Arnold Schwarzenegger, Bill Clinton, George Hamilton, they all were cigar smokers”. Das war damals wirklich ein Boom, als es schick wurde, Zigarre zu rauchen. Nein, daran werde man auch in Zukunft nie mehr anknüpfen können. Die Lage habe sich mittlerweile auf einem etwas niedrigeren Level eingependelt und stabilisiert.
Und die wachsende Zahl der Nichtraucher und ihrer Lobby, deren ständiges Moralisieren und Lamentieren?
„It hurts, but in won’t destroy“, sagt der gebürtige Kubaner voller Zuversicht.
„Der Absatz der Konsumzigarren nimmt zu“, führt Wolfgang Köhne aus. Auf dem gehobenen, dem qualitativ höchsten Sektor habe man empfindliche Einbußen hinnehmen müssen. Aber auch er ist fest überzeugt, dass der Markt nicht vollständig zusammenbrechen wird. „Man raucht jetzt eben mehr zuhause. Das allgemeine Rauchverbot hat zu einer Veränderung des Konsumentenverhaltens geführt. Worüber klagen denn die Gastronomen? Nach dem Essen im Lokal gibt es keinen gepflegten Cognac oder Grappa mehr mit einer schönen Zigarre dazu. Die Leute verzehren ihr Menu, sagen „Danke schön, hat gut geschmeckt, auf Wiedersehen“ und gehen nach Hause, um dort in aller Ruhe ihre Zigarre zu rauchen.“
Die schmerzlichsten Folgen der Nichtraucherbewegung habe demnach die Gastronomie zu tragen, deren einzige Überlebenschance er in der Errichtung von Tabak-Lounges sieht. Ansonsten:
„Wir haben 500 Jahre geraucht und werden damit auch nicht aufhören.“
Das zeugt von Zuversicht und verhaltenem Optimismus.
Ihren 50.Geburtstag hat die Bremer Tabakbörse schon im vergangenen Jahr gefeiert. Entstehen und Geschichte sind untrennbar dem Lebensweg von Walter Köhne verknüpft. Der Nestor des Bremer Tabakhandels hat es sich auch an diesem Tag nicht nehmen lassen, persönlich bei der Einschreibung aufzutauchen. Blitzlichter flammen auf. Indonesische und bremische Geschäftsfreunde drapieren sich um den vitalen alten Herrn und lächeln in die Kamera.
Das stößt nicht nur auf Wohlwollen im Saale.
„Köhne, Köhne, überall Köhne, wo eine Kamera, da auch ein Köhne.“
Es ist wie in einer großen Familie, da gibt es eben auch einmal Streit oder gar Missgunst. Ja, es wird durchaus gelästert in diesen heiligen Hallen der Deutsch Indonesischen Tabakhandelsgesellschaft mbH & Co.KG.
Dabei ist tatsächlich Walter Köhne zu verdanken, dass das Monopol der indonesischen Tabaksverwertung überhaupt in Bremen landete. Im Zuge ihres Unabhängigkeitskampfes nach dem zweiten Weltkrieg wollte die neue Nation Indonesien nicht mehr so viel mit ihren ehemaligen Kolonialherren aus den Niederlanden zu tun haben. Die im Jahre 1957 entstehenden Unstimmigkeiten nahm man zu Anlass, gänzlich mit den holländischen Partnern zu brechen und sich an den, bereits aus gemeinsamen Geschäften in Rotterdam und Amsterdam bekannten Bremer Tabakhändler zu wenden. Nicht nur Walter Köhne erkannte das Potential der unerwarteten Anfrage aus Indonesien, sondern auch der Bankier, den Köhne später um 80 Millionen Mark Kredit anging, sowie der damalige Bremer Finanzsenator Kurt Eggers. Mit dem juristischen Kniff zeitweiliger Aussetzung von Verzollung der Tabaksproben setzte dieser die restriktiven Bestimmungen des deutschen Zollrechts außer Kraft und ermöglichte somit eine Prüfung in den Bremer Kontoren des Innenstadtbereichs (eigentlich Zollgebiet). Zwei Jahre dauerte das Provisorium, in dem die Einschreibung in Schuppen 6 vom Europahafen stattfand. Im Jahre 1961 war die Bremer Tabakbörse fertig. Inmitten der um sie ständig höher wachsenden schicken Neubauten der heutigen Überseestadt haftet dem schlichten Zweckbau mit den roten Klinkern und der Zackenkrone seiner Oberlichter mittlerweile schon etwas rührend Altmodisches an.
Klage-und Boykottdrohungen der Holländer gegen die Verlagerung des Tabakhandels nach Bremen nutzten nicht. Die Indonesier fuhren ungerührt mit ihrem Trennungsbestrebungen fort, was schließlich zur Gründung der DITH führte. Die Niederländer fügten sich schließlich den Gegebenheiten und entwickelten sich im Laufe der Jahre zu den treuesten und eifrigsten Besuchern der Bremer Tabakbörse.
„Ich komme schon seit 1964 hierher“, erzählt Charles Thie, der T-Broker und tobbacco surveyor aus Rosenholm. „Der weiß alles über Tabak“, sagt Directeur Ton Boenen aus Arendonk. „Der kann Ihnen alles erzählen.“
Im Augenblick jedoch nicht. Charles Thies blättert in seinem Einschreibbüchlein und hastet davon. Plötzlich macht es klick. Blauer Dunst und braune Doggen heißt ein Film, den das ZDF anlässlich des 25-jährigen Jubiläums der Bremer Tabakbörse produzieren ließ. Nach einhelliger Meinung etlicher Fachleute mit Abstand der beste Film, der jemals über dieses Thema gedreht wurde. Vor einem Vierteljahrhundert rannte ein Mann in dunkelblauem Marineblazer in wilder Hektik zwischen den verschiedenen Kabinen und seinen Kollegen her. Jetzt schreitet Charles Thie auf seine anvisierte Kundschaft zu. Er ist ruhiger geworden, sehr viel ruhiger.
„Das war einer von die ganz Slimme, der hat seine Kollege sogar die Brille von der Nase gerissen und ihn geslagen.“ Der Informant möchte an dieser Stelle auf keinen Fall namentlich zitiert werden.
Das waren die Jahre, als sich nach Verkündung der Zuschläge per Lautsprecher regelrechte Menschentrauben, besser gesagt –knäuel um die jeweiligen Käufer der begehrten Tabakballen bildeten, in denen geschoben, geschubst, gefuchtelt, gebrüllt, eben wild gestikulierend gehandelt wurde, um den benötigten Tabak für das eigene Geschäft zu ergattern.
„Ja, das waren noch die Zeiten, als die Händler die Kabinenwände hochkletterten und dahinter in die einzelnen Kabinen den Verkäufern auf die Schreibtische purzelten“, erinnert sich Peter Borrmann. Es ging damals wirklich bis an die Grenzen körperlicher Auseinandersetzung. Lang, lang ist es hier. Dass es so viel ruhiger geworden ist, liegt nicht nur am Alter der Beteiligten, sondern am grundsätzlichen Wandel des gesamten Geschäfts- und Verfahrensablaufes.
Vergleicht man das Angebot der Einschreibung vom Juni 2009 mit den Zahlen des Jahres 1959, ist kaum nachvollziehbar, dass die Händler sich so massiv um die Ware reißen mussten. Bei der ersten offiziellen Versteigerungen indonesischen Tabaks wurden in Bremen insgesamt 136.405 Ballen im Werte von 146,7 Millionen Mark verkauft. „Das waren noch Zahlen. So viel wurde damals wirklich umgesetzt. Sechs Einschreibungen hatten wir damals jährlich.“ Jetzt klingt Peter wirklich wehmütig. Damals wurde Handel der gesamten indonesischen Tabakernte über Bremen abgewickelt, was die Ernte der staatlichen als auch der privaten Plantagen umfasste. Die rasante Entwicklung der Containerschifffahrt, die seit Ende der sechziger Jahre so viele Veränderungen im Seehandel, auf den Weltmeeren und den Hafenstädten mit sich brachte, beeinflusste auch den Warenstrom in die alte Hansestadt. Bis 1986 waren auch die indonesischen Privatplantagen verpflichtet, ihren Tabak über Bremen zu verkaufen. Aber dann erließ die indonesische Regierung ein Gesetz, das die Verwertung des privaten Tabakertrages im eigenen Lande erlaubte. Die Staatsplantagen hingegen bewahrten der Bremer Tabakbörse ihre Treue. So betrug der Anteil des hier umgesetzten indonesischen Tabaks im Jahre 1996 noch zwanzig Prozent. Auf „wertmäßig noch 10-15 Prozent“ schätzt Wolfgang Köhne diesen Anteil im Frühsommer 2009.
Folge dessen: Es gibt nur noch eine Einschreibung pro Jahr. Nach wie vor fliegen die indonesischen Regierungsbeamten und Plantagenmanager ein, häufig in Begleitung ihrer Frauen. Die meisten tragen bunte Schleier, kleine Farbtupfer in dem nüchternen Weiß und den braunen Tönen des kargen Raumes.
„Ich denke, dass für zwei Partien gar nicht geboten wird“, mutmaßte Wolfgang Köhne in der langen Wartezeit vor Verkündung des Versteigerungsergebnisses. Warum? Und was passiert mit dem Tabak?
Die Ballen haben den Qualitätsansprüchen des Exports nicht genügt. Also unverkäuflich? Nein, diese Sendung würde nach Indonesien zurück geschickt und neu sortiert werden. Das ist möglich? Ja, die schlechte Qualität resultiere aus einer schlampigen Farbsortierung der Tabakblätter. Das könne man jedoch vor Ort problemlos nachbessern. Die Ware wird dann irgendwann an die Industrie verkauft.
Um 13:39 Uhr ertönt endlich der Gong. Durch die Anwesenden geht ein Ruck. Bleistifte werden gezückt, die Einschreibbüchlein aufgeklappt, mit gespitzten Ohren konzentriert der seit Jahrzehnten gleich und unbeteiligt klingenden Frauenstimme aus dem Lautsprecher gelauscht. Für Außenstehende kaum verständlichen Wortfetzen hallen durch den Raum, ergeben keinen Sinn, aber die Spezialisten verstehen ganz genau. Vor der Tür, die zu Sitzungsraum der Indonesier führt, bildet sich eine Menschentraube. Der erste in der Schlange drückt die Klinke hinunter, die Tür öffnete sich nur einen Spalt, wird sekundenschnell wieder geschlossen. Die Händler machen auf den Absätzen kehrt und hasten davon. Die Karawane zieht weiter in Richtung der Vertreter der vier großen Maklerfirmen, die das ausschließliche Privileg des Gebots besitzen. Nun ist ja bekannt, wer von ihnen den Zuschlag erhalten hat, bei wem man seine erwünschte Tabaksorte kaufen kann. Selbstverständlich nun zu einem höheren Preis. Die Verhandlungen beginnen.
Die Frauenstimme aus dem Lautsprecher erklärt die heutige Einschreibung für beendet und wünscht noch einen schönen Aufenthalt in Bremen. Eine seltsame Stimmung herrscht im Raum: Zufriedene Gesichter, entspanntes Lächeln auf der einen Seite, Verständnislosigkeit; Kopfschütteln, Verdruss, leichter Ärger auf der Seite derer, die bislang leer ausgegangen sind. Es wurden nicht die prognostizierten zwei Partien aufgehalten, sondern insgesamt zehn.
Damit hat niemand gerechnet.
Warum? Das ist einfach beantwortet. Weil der erwartete Preis nicht erzielt wurde. Es ist kein entsprechendes Gebot erfolgt. Daher haben die indonesischen Regierungspartien acht Partien zurück gehalten. Nicht zum ersten, auch nicht zum letzten Mal. Die gesamte Versammlung löst sich langsam auf. Ende der Tabakeinschreibung 2009.
Das ganze Spiel ist jedoch längst nicht beendet. Hinter den Kulissen geht es weiter. Tagelang, wochenlang, monatelang. Es wird nachbörslich weiter verhandelt. Dabei geht es ein bisschen zu wie auf einem Basar. Die Makler erhöhen ihr Gebot ein wenig, die Indonesier kommen ihnen ein Stück entgegen. Schritt für Schritt wird man sich einander nähern.
Im Augenblick befinden sich diese acht zurückgehaltenen Partien in einer Art Schwebezustand. Dafür ist wurde jedoch eine der Partien, auf die überhaupt nicht geboten wurde, fünf Tage nach der offiziellen Einschreibung verkauft. Bis spätestens August werden die Würfel für alle Partien gefallen sein. Dann werden 1500 Ballen Sumatra, 650 Ballen Java und 40 Kisten Connecticut Seed endgültig ihre Besitzer gewechselt haben. Zu welchem Preis? Das wird wie immer das Geheimnis zwischen Verkäufer und Käufer bleiben.
2010-04-25 Birgid Hanke, Wirtschaftswetter
Text + Fotos: ©Birgid Hanke
Fotos Themenbanner: ©Cornelia Schaible
Infos zu Datenschutz + Cookies
zurück zu: Themen
zurück zu: Startseite
wirtschaftswetter.de
© 2003-2021 Wirtschaftswetter® Online-Zeitschrift