Die Brüder Löwenherz von Astrid Lindgren
Buchbesprechung von Juliane Beer
Liebe Eltern, fehlt noch ein Ostergeschenk? Vielleicht ein Buch? Und vergessen Sie Harry Potter und Co! Hier und heute sei an die Mutter aller Fantasy-Romane erinnert, erschienen vor dreißig Jahren, damals kontrovers diskutiert, und bis heute kein bisschen angestaubt.
Karl Löwe, zehnjährig, ist todkrank und verbringt seine Tage in Ermangelung eines Kinderzimmers auf einer Holzbank in der Küche. Die Familie lebt in ärmlichen Verhältnissen, der Vater hat sich aus dem Staub gemacht, die Fürsorge schenkt hin und wieder Möbel.
Einem heimlich belauschten Erwachsenengespräch entnimmt Karl, dass er bald sterben wird. Schon aufgrund seines Alters mit dieser Information vollkommen überfordert, gerät er in einen Zustand großer Unruhe und Verwirrung. Die allein erziehende Mutter ist in dieser Geschichte dauerabwesend, nur schemenhaft als im Nebenzimmer nähende Familienernährerin vorhanden. Karls Bezugsperson ist sein über alles geliebter und bewunderter großer Bruder Jonathan, gesund, mutig, agil. Jonathan, der ganz selbstverständlich die Elternrolle übernommen hat, immer für Karl da ist, selbst nachts aufsteht, um ihm Medikamente zu geben, versucht, seinem Bruder die Angst zu nehmen, indem er den Tod als das Land Nangijala darstellt, wo man gesund und fröhlich Abenteuer erlebt, wie sie in Märchen und Sagen vorkommen.
Doch durch einen Hausbrand kommt Jonathan zuerst ums Leben, als er mit seinem Bruder auf dem Rücken aus der bereits in Flammen stehenden Wohnung springt.
Karl überlebt, ist untröstlich über den Verlust seines Bruders, flüchtet sich in Phantasien über das Sagenland Nangijala. Wieder ist die Mutter abwesend, wird nur einmal als stumme Ansprechpartnerin anteilnehmender Kundinnen dargestellt, die den frühen Tod des wertvolleren Sohns bedauern.
Karl, mittlerweile von der Krankheit entkräftet und elend, liegt nun vollkommen verlassen auf seiner Bank in der ärmlichen Wohnküche.
Doch bald darauf kommt auch er nach Nangijala zu seinem Bruder, wobei Lindgren offen lässt, ob Karl gestorben ist oder sich aus Überforderung durch Schmerz und Krankheit in seine Phantasiewelt zurückzieht, was aufgrund der weiteren Geschehnisse für den erwachsenen Leser durchaus anzunehmen ist.
Doch zunächst scheint im Sagenland alles wunderbar zu sein. Die Brüder, die jetzt Löwenherz heißen, ein Name, den Jonathans Lehrerin ihm in einem Nachruf in Anspielung auf den mutigen König Richard Löwenherz verliehen hatte, besitzen eine kleines Häuschen und zwei Pferde im friedlichen Kirschtal von Nangijala.
Der Schein trügt. Das idyllische Leben in Nangijala ist bedroht, was wieder darauf schließen lässt, dass Karl eigentlich noch auf seiner ärmlichen Holzbank im Todeskampf liegt.
Die beiden Brüder kämpfen in den dunklen Schluchten von Nangijala gegen das Böse in Form des Tyrannen Tengil und seinen riesigen Drachen Katla, dessen Atemhauch Lähmung oder gar Tod bedeuten. Jonathan wird vom Drachenatem getroffen, Lähmung setzt ein. Die beiden Brüder liegen verletzt auf einem Felsvorsprung, wieder kann Jonathan trösten, weiß zu berichten, dass auch ein weiterer Tod nicht das Ende bedeutet, sondern man gesund und heiter im Lande Nangilima landet. Er schlägt vor, den Abhang hinunter in den Tod zu springen. Karl vertraut ihm ein weiteres Mal, dieses Mal stützt er seinen mittlerweile vollkommen gelähmten Bruder beim Sprung in die Tiefe. „Oh, Nangilima! Ich sehe das Licht!“, lautet Karls Ausruf und der Schlusssatz des Buches, und der erwachsene Leser geht einmal mehr gerührter, als es bei der Lektüre eines Kinderbuchs angemessen wäre, davon aus, dass der Junge in diesem Moment auf seiner ärmlichen Küchenbank gestorben ist.
Kann man Kindern ein solches Buch vorlesen oder zu lesen geben?, wurde immer wieder gefragt. Man kann. Kinder begreifen instinktiv. Der Sprung in den Tod der beiden Jungen am Ende des Romans, der bei erwachsenen Lesern heftige Diskussionen ausgelöst hat, wird von Kindern als Metapher gesehen: Der Mensch ist getragen und beschützt, nicht ausgeliefert, nicht einmal dem Tod. Es ist nie zu Ende, wenn eins endet, beginnt etwas Neues. Immer wieder.
Der Tod wird bei Astrid Lindgren als ein weiteres Abenteuer dargestellt, als etwas Greifbares, Plastisches, und nicht als dieses diffuse Nichts, das philosophisch gebildete (und atheistische) Erwachsenengehirne in Panik oder Verzweiflung versetzt.
Lindgrens Romanheld Karl hat sich während seiner letzten Lebenstage auf kindliche, spielerische Weise mit dem Tod arrangiert und stirbt voller Zuversicht auf ein besseres Dasein.
Der Tod ist und wird ein Mysterium bleiben, und so ist Karls kindliche Art, voller Erwartung zu sterben, sicherlich die instinktiv klügste, und für Kinder besser zu verkraften, als die dunkle, unheilvolle Tabuisierung des Unfassbaren.
Die Brüder Löwenherz ist ein Buch, mit dem Kinder weitaus besser fertig werden als Erwachsene, lautet meine persönliche Erfahrung.
Astrid Lindgren wurde 1907 im schwedischen Smaland geboren. Sie kam im Alter von Ende dreißig zum Schreiben, als sie für ihre kranke Tochter die Figur Pippi Langstrumpf erfand. Es folgten weitere erfolgreiche Kinderbücher wie beispielsweise Wir Kinder aus Bullerbü, Karlsson vom Dach und Michel aus Lönneberga, die allesamt auch verfilmt wurden. Lindgren wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet und selbst zur Namensstifterin eines hochdotierten Kinderbuchpreises. Sie starb 2002 in Stockholm.
Astrid Lindgren Die Brüder Löwenherz
Verlag Oetinger
auch als Hörbuch erhältlich
2010-03-27 Juliane Beer, Wirtschaftswetter
Text: ©Juliane Beer
Illu: ©ap
Fotos Themenbanner: ©Cornelia Schaible
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