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Oh, Gott, ein Junge!

Eine fiktive Geschichte

von Angelika Petrich-Hornetz

Zitat: "Und wie du wieder aussiehst, Löcher in der Hose und ständig dieser Lärm!"
Die Ärzte (Jazz ist anders, 2007)

Ein Junge! Die Beileidsbekundungen ließen nicht lange auf sich warten. Die erste kam von der Großmutter: Hauptsache, es ist gesund, verkündete knapp die hochgewachsene Frau mit dem kurz geschnittenen Silberhaar gleich nach der Geburt ihres zweiten Enkels, die ungeduldig vor dem Kreissaal gewartet hatte. Es ist wieder ein Junge, hatte ihr die Hebamme ohne die Miene zu verziehen vorher zugeraunt. Nur ein Junge .... und nun schon der zweite.

Wie konnte das nur passieren? Alle hatten zunmindest noch anfangs ein Mädchen erwartet. So hatte die silberhaarige Frau einst selbst drei Töchter großgezogen, erfolgreiche wohlgemerkt, alles Akademikerinnen, jede auf ihre Weise schön und intelligent. Und sie hatte wirklich nichts dem Zufall überlassen! Doch dann kam dieser Nichtsnutz daher, KfZ-Mechatroniker, pah! dann Abitur auf dem zweiten Bildungsweg und angehängtes Studium. Allein schon Autos! Eine veraltete Industrie, die sich nachweislich auf dem absteigenden Ast befand!
Erst bezirzt er ihre Jüngste und dann werden die Kinder auch noch die reinsten Abziehbilder ihres Erzeugers. Die frischgebackene Großmutter konnte es kaum fassen, dass ausgerechnet sie zwei männliche Enkel verdient hätte, zumal auch keine weiblichen nachkommen dürften. Nun, es war ja schon lange abzusehen. Sobald es möglich war, das Geschlecht auf den Ultraschallbildern zu erkennen, stand das Telefon bei dem jungen Elternpaar nicht mehr still. Ein Junge! Warum ist dieser Kelch nicht an mir vorbeigegangen, dachte die Großmutter wieder. Irgendwann hatten die Kinder den Hörer nicht mehr abgenommen, wenn sie anrief, doch auf ihre Informatinnen konnte sie sich schließlich immer verlassen.

Dass auch die andere Großmutter nicht zufrieden sein konnte, wusste die silberhaarige Frau nur zu gut. Schließlich hatte auch diese ebenfalls zwei großartige Töchter. Nur leider auch diesen vollkommen aus der sonst so feinen Art dieser Familie geschlagenen Sohn, der seinem abtrünnigen Vater - ein Scheidungskind - immer ähnlicher wurde: entsetzliche Umgangsformen - und dieses ständige Grinsen mit einem Hang zu zweifelhaftem Humor! Nur fiel es damals unter den anderen Jungen nicht besonders auf, in den ersten Milleniumsjahrzehnten, als die Erziehungsmethoden in den öffentlichen Schulen noch viel zu lasch waren. Gab es damals überhaupt welche? Man hätte ihn gleich auf eine Privatschule schicken sollen.

Dem ersten Enkel wurde deshalb sofort professionelle Hilfe zuteil. Männliche Gene bedürfen heutzutage nun einmal eines ausgeklügelten Programms, damit die bei ihnen natürlich angelegte, reduzierte Grob- und Feinmotorik, die üblichen Aufmerksamkeitsstörungen sowie einige weitere geschlechtsbezogene Defizite mit Hilfe eines durchdachten Therapieplanes in die richtigen Bahnen gelenkt werden konnten. Darüber wachten die weiblichen Mitglieder der beiden Familien mit Argusaugen, auch wenn sich die Tochter und Mutter dieses eigensinnigen Jungen-Exemplars teilweise geschickt entzog - zum Beispiel in so etwas Überflüssiges wie Abenteuer-Urlaube. Die hochintelligenten Tanten dieses Buben hatten sich dagegen frühzeitig gegen Kinder entschieden, wohl überlegt. Der erste Neffe gab schließlich ein genügend abschreckendes Beispiel für die nur allzu reale Gefahr ab, wie eine gut geplante Karriere und ein geordnetes Leben durcheinander gebracht werden können.

Schon im Kindergarten war er einfach nur peinlich: Zum Beispiel heulte er ständig wie ein Schlosshund, wenn ihn die Mädchen nicht mitspielen lassen wollten, die in der Überzahl waren. Mit zwei Jahren trat er gegen das Schienbein der Kindergärnterin, wenn er seinen Willen nicht durchsetzen konnte. Man munkelte, die steigende Zahl von Mädchen-Geburten läge daran, dass einige Frauenarztpraxen inzwischen auf Wunsch eine Auswahl träfen. Aber darüber wurde in der Öffentlichkeit eisern geschwiegen. Dagegen galt es schon lange als gesichert, dass Mädchen leichter lernten, sich anpassunsfähiger und sozialer verhielten und daher deutlich besser in Schulen und Universitäten abschnitten. Mädchen und Frauen galten als die wahren Garantinnen für das Ansehen ihrer Familien. Lediglich noch dreißig Prozent der Abiturienten waren männlich. Also, es gab keinen Anlass, sich über die Geburt eines Jungen wirklich über alle Maßen zu freuen, im Gegenteil. Die klugen, auf eigenen Nachwuchs verzichtenden Tanten argumentierten übrigens auch damit, dass sie ihren Beruf zwar noch mühsam mit Schule und Kindergarten vereinbaren könnten, aber ein Junge, der montags zur Ergotherapie, dienstags zur Logopädie, mittwochs und freitags zum Sport und donnerstags zur Psychomotorik gekarrt werden müsse, überstiege schlicht und einfach die Vorstellungskraft ihrer Arbeitgeber über die Noch-Verfügbarkeit der Angestellten am Arbeitsplatz .

Mädchen waren sowieso klüger. Das hatte kürzlich auch eine Lehrerin vor einer achten Klasse gesagt. Widerspruch gab es nicht. Oder glaubte noch jemand, dass diese Dank extremen Computerkonsums in der Regel geistig zurückgebliebenen, männlichen 13- bis 14-Jährigen noch irgendetwas zu sagen gehabt hätten, geschweige denn auch nur ansatzweise wussten, was Argumentation ist? Sie trauten sich nicht, etwas gegen die weibliche Wissensmacht zu sagen. Wer sollte ihnen auch beibringen, eigene Gedanken zu entwickeln und diese verbal zu äußern? Die Schulen? Die Eltern? Die hatten sich längst dem Mainstream angepasst. Und wohin die männliche Sichtweise führte, hatten wir zu Genüge an den schweren Wirtschaftskrisen der Vergangenheit ablesen können! Als ihnen damals nichts mehr einfiel, fingen sie an, Frauenquoten einzuführen.

Auf das männliche Maß an Rücksichtlosigkeit konnten die alternden Industrie-Gesellschaften Mitte des 21. Jahrhunderts schon lange verzichten. Unangepasste Individuen wurden deshalb längst nicht mehr zur Rede gestellt, sie wurden einfach sozial ausgegrenzt. Meist eilte ihnen, natürlich vorwiegend Männern, ihr Ruf schon voraus. Der Rest war ein Leichtes: einige Gerüchte in die Welt gesetzt, die sich in der wunderbar vernetzten Welt in Windeseile festsetzten und schon blieben die Türen zu. Wozu noch bestrafen? Wozu diese ewig Hinterherhinkenden überhaupt noch lehren, Verantwortung zu übernehmen? Ach, was, dazu wären sie ja doch nie in der Lage, denn sie konnten doch nichts dafür, diese armen, kleine Kerle, dass sie so sind, wie sie sind und wie sie ewig bleiben sollten.

Man trichterte ihnen daher - natürlich in ihrem eigenen Interesse - von Anfang ein, dass mit ihnen etwas nicht in Ordnung wäre. Dass sie herumspringen war unverwünscht, dass sie ständig zu laut reden, lachen und singen genauso falsch. Irgendwann arrangierten sie sich immer mit den gegebenen Machtverhältnissen. Diese wurden schon in der Kinderbetreuung, später in der Schule und in den üblichen Freizeitangeboten festgezurrt: Filz- oder Papierschöpfkurse, Aquarell- oder Seidenmalprojekte, die Literatur-AG, die Musik-Meditation, der Entspannungs-Workshop und so weiter und so fort - selbstverständlich interessierten sich dafür vor allem weibliche Kinder! In der Projektwoche des Kindergartens mit dem Thema Märchen wurden kleine rosa Prinzessinnen liebevoll in Pappkartons mit Bühnenbild drapiert. Es gab sogar Feen mit Flügeln aus echten Federn. Niemand käme mehr auf die abstruse Idee, einen furchterregenden Drachen aus Holz zu sägen, einen Ritterkampf aufzuführen oder eine böse Stiefmutter aus Metallteilen zusammenzuschrauben. Überhaupt, die Freizeit-Angebote für Jungen beschränkten sich inzwischen auf den unvermeidbaren Fußball und eine Handvoll anderer rauer Sportarten.

Genau dort würde auch ihr Enkel landen. Was für ein schweres Schicksal für ihre Tochter und wie sollten die beiden Großmütter diese Unannehmlichkeit nur in ihren Kreisen vertreten, ohne das Gesicht zu verlieren? Ein schreiendes, unangepasstes Etwas, dem man selbst die Haltung der Gabel noch beibringen muss, weil es mitnichten durch schlichte Nachahmung lernen will. Ein Wesen, dass keinen Sinn darin erkennen mag, ähnlich wie die Anderen zu sein, sondern es genetisch bedingt, von vornherein ablehnt, angepasst zu werden und es vorzieht, in Wettkämpfen zu konkurrieren und sich in Eigenständigkeit zu üben, und zwar ohne, wie die viel klügeren Mädchen, taktisch zu kommunizieren und Netzwerke zu knüpfen. Ja, Männer waren geradezu eine aussterbende Art, die sich mit ihrem Verhalten heillos dem Verderben preisgab! Und wie sollte dieses ungehobelte Wesen es später schaffen, wenigstens ein Exemplar des intelligenteren Geschlechts für sich zu gewinnen? Die Großmutter war verzweifelt.

Mädchen, Link WirtschaftswetterDie Ärmste ahnte nicht, dass sie mit ihren beiden männlichen Enkeln noch Glück gehabt hatte, denn deren Geschlecht entschuldigte schließlich auch die meisten Defizite. Viel mehr als sie, musste sich eine andere Großmutter sorgen, deren kleine Enkelinnen sich partout nicht für sie ziemende Spiele interessieren wollten! Am liebsten kletterten sie auf Bäumen! Sie lagen den Großeltern solange in den Ohren, bis der Opa mit ihnen zusammen ein Baumhaus baute, dass die beiden anschließend zu einer bewaffneten Ritterburg hochrüsteten. Seitdem fanden dort Kämpfe mit den Nachbarsjungen statt!

Zu Weihnachten wünschten sie sich ein Trampolin und eine Autorennbahn! Sie bauten Raketen und Roboter aus Bausteinen und rasten mit ihrem Skateboard die Straße hinab! Sie spielten auch Arzt - aber wie! Letzte Woche spielten sie, dass das Bein der einen amputiert werden müsse, weil die Patientin sonst an einer Blutvergiftung gestorben wäre! Auch wenn das Bein dem Plastikmesser sei Dank dran blieb, wurde der Großvater (männlicher Einfluss!) von seiner Ehefrau sehr gescholten, weil er - ohne sie zu informieren - die beiden vorher an einem Regennachmittag eine Wissenschaftssendung sehen ließ, in der es um Viren und Bakterien ging und dann noch dieses scheußliche Kinder-Chirurgen-Besteck im Spielzeugladen gekauft hatte! Vergangene Woche fiel die Großmutter fast in Ohnmacht, als eines der Mädchen sie darum bat, ihm das wunderschöne, lange, lockige Haar abzuschneiden, weil es sich doch immer so lästig in den Ästen der Bäume verfing. Was sollte nur aus diesen Mädchen werden?


2010-03-25 Angelika Petrich-Hornetz, Wirtschaftswetter
Text: ©Angelika Petrich-Hornetz
Illustrationen: ©ap
Fotos Themenbanner: ©Cornelia Schaible
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