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Die Masken der Niedertracht

Seelische Gewalt im Alltag und wie man sich dagegen wehren kann

Buchbesprechung von Angelika Petrich-Hornetz

Illustration Bücher Von jeher gab es Menschen ohne Skrupel, berechnend, manipulierend, für die der Zweck die Mittel heiligte - schreibt die Ärztin, Psychoanalytikerin, Viktimologin und Familientherapeutin Marie-France Hirigoyen in der Schlussbemerkung (S.23) ihres Buches, das bei seinem Erscheinen vor einem Dutzend Jahren in Frankreich für viele Diskussionen und für eine Auflage von fast einer halben Million Exemplare sorgte. Man sollte Unbedarfte vor dessen Lektüre tatsächlich warnen: Es handelt sich um schwere Lesekost, die zudem kein angenehmes Bild der Gesellschaft von heute zeichnet.

Die deutsche Öffentlichkeit reagiert verunsichert, wenn das Thema seelische Gewalt in Familien oder am Arbeitsplatz angesprochen wird, bei der eine Art der Kommunikation im Vordergrund steht, die Hirigoyen als Tätlichkeiten Perverser entlarvt. Doch da auch hierzulande ein großes Interesse am Dauerthema Mobbing besteht, das durchaus messbare (wirtschaftliche) Schäden anrichten kann, erscheint der Ratgeber, der Opfer zur Gegenwehr ermutigen will, bereits in der zehnten Auflage.

Wobei etwas mehr französische Entschiedenheit dem heiklen Thema und den Opfern seelischer Gewalt sicher auch in Deutschland gut täte. Das liegt vielleicht auch daran, dass die Viktimologie (Opferforschung) in Frankreich, aber auch in den USA einen anderen Stellenwert hat. Die Untersuchung einer Tat aus der Sicht des Opfers, die Schädigungen von Beteiligten und Unbeteiligten sowie die Reaktionen des sozialen Umfelds sind u.a. Gegenstand dieser Forschung - einer Disziplin der Kriminologie.

So hält sich Hirigoyen auch nicht lange mit der Frage auf, wie und warum jemand zu einem narzisstisch Perversen mutiert, der sich an seinen Opfern gütlich hält, sondern stellt diesen ganz speziellen Tätertyp, der seine Opfer und dessen Umfeld verwirrt, erstarren und verzweifeln lässt, umso besser sichtbar der Öffentlichkeit vor und gibt ihm den Titel der Aggressor.

Dass solche - andere Mitmenschen quälende - Zeitgenossen möglicherweise selbst, nicht selten in der Kindheit, Opfer einer oder mehrerer Formen von Gewalt geworden sind, muss dem interessierten Leser als eine mögliche Erklärung unter vielen genügen und beinhaltet doch gleichzeitig immer die Lösung aus einem Teufelskreis, der zunächst einmal überhaupt erkannt werden muss, um verlassen werden zu können.

Das Buch warnt jedoch an mehreren Stellen immer wieder ausdrücklich alle Opfer von seelischer Gewalt davor, praktizierende Perverse bekehren zu wollen, in der falschen Annahme, dass diese deshalb - schließlich sind sie möglicherweise auch nur irgendwann einmal selbst Opfer gewesen - etwa eine Heilung wünschten: Das schlichte Ziel des akuten Aggressors ist keineswegs Heilung, sondern die Aufrechterhaltung des Status Quo durch die Beherrschung und Zerstörung des verhassten Objekts, das folglich nicht als Person und daher auch nicht als Mensch wahrgenommen und entsprechend ernstgenommen wird. Die Stärke der Perversen ist ihre Gefühllosigkeit. Sie kennen keinerlei Skrupel moralischer Art. Sie leiden nicht. Sie greifen völlig ungestraft an (S. 158).
Auf eine Einsicht warten die Opfer daher stets vergeblich, jedenfalls solange sie für den Täter verfügbar - und damit ungewollt Bestandteil eines grausamen Rollenspiels sind, in dem der andere herrscht - und sie beherrscht werden.
Es handelt sich hier nicht um Liebe, die sich in Hass wandelt, wie man zu glauben geneigt ist, sondern um Missgunst, die sich in Hass verwandelt (S. 144).

Ihre Priorität setzt die Autorin dagegen auf die Aktivierung der bislang hilflosen Opfer, die so oder so auf eine konsequente Beendigung einseitiger und damit pathologischer Beziehungsgeflechte hinausläuft: Die Umgebung spielt nicht mit und/oder das Opfer entzieht sich - ein beherrschender Einfluss und offene Gewalt können folglich nicht mehr ausgeübt werden.

Das Buch liefert damit auch eine nachvollziehbare Erklärung dafür, warum Mitarbeiter, die in einem Unternehmen von ihren Vorgesetzten oder Kollegen gequält worden sind, so häufig trotz aller gut gemeinten, aber zu schwachen Gegenmaßnahmen kündigen - und sich erst nach diesem drastischen Schritt in Sicherheit fühlen.

In vielen Unternehmen und anderen Einrichtungen, in denen ein konkurrierendes Miteinander herrscht, fehlt jedoch das Wissen oder die Zeit, um sich mit internen, krank machenden Zuständen beschäftigen zu können oder zu wollen, obwohl so ein Vorgang eine ganze Firma tatsächlich in den Ruin treiben kann, wie die Autorin betont. Die Auseinandersetzung bleibt damit zwingend notwendig: Allein Menschenkraft kann menschliche Verhältnisse in Ordnung bringen. Diese perversen Zustände können sich nur entfalten, wenn man sie fördert oder duldet. Es ist an den Arbeitgebern und Unternehmenschefs, die Achtung in ihren Betrieben wieder einzuführen (S.218).

Vor der Abwehr der Opfer steht zunächst das Erkennen, beherrscht und gequält zu werden. Entlarvt werden narzisstisch Perverse an ihrer Art zu kommunizieren. Sie verweigern die direkte Kommunikation, sie entstellen die Sprache, sie lügen wie gedruckt, sie verachten, verspotten, paradoxieren. Sie setzen herab, sie beleidigen und verleumden ganz offen und ohne jede Gewissensbisse. Sie trennen - um besser herrschen zu können und sind damit in der Lage, ihre gesamte Umgebung zu manipulieren, so dass dem wirklichen Opfer schließlich kein Glauben mehr geschenkt wird. Doch gerade das könnte die Quälerei abrupt beenden: Die anderen nicht mitzureißen auf das Feld der Gewalt, ist für den Perversen eine Schlappe; es ist folglich das einzige Mittel, die Ausbreitung des perversen Prozesses einzudämmen (S. 151).

Leider ist der perverse Prozess jedoch nicht selten eine Langzeitveranstaltung, weil in einem bereits manipulierten Umfeld unbemerkt etwas stattfindet, das nicht vorgesehen war und für das daher auch keine Gegenmaßnahmen rechtzeitig aufgestellt worden sind. Die vom Aggressor gewünschte Destabilisierung des Opfers durch seinen andauernden, zersetzenden Einfluss in Kombination mit der Teilnahmslosigkeit des Umfelds schreitet damit unbehelligt und unaufhaltsam voran. Der Aggressor hat daher freies Spiel - und kann zum Beispiel ungestraft
- sich über die Überzeugungen, politischen Meinungen oder Vorlieben seines Opfers lustig machen
- das Wort nicht mehr an es richten und es in der Öffentlichkeit lächerlich machen, es vor den anderen anschwärzen
- das Opfer aller Möglichkeiten berauben, sich zu äußern
- sich über dessen Schwachstellen lustig machen
- abfällige Andeutungen machen, ohne diese je zu erklären
- die Urteils- und Entscheidungsfähigkeit des Opfers in Zweifel ziehen
(S.132).

Die meisten Menschen haben schon mehr als nur einmal im Leben die Urteilsfähigkeit oder die politische Meinung eines anderen verspottet oder sich über die Vorlieben ihrer Mitmenschen lustig gemacht. In allen Unternehmen fällt hier und dort einmal eine verletzende Bemerkung. (..) im Übrigen ist es uns allen schon einmal passiert, dass wir einen anderen manipuliert haben, um einen Vorteil zu erlangen (S. 152) .
Der Unterschied zwischen diesen temporären Reaktionen - inklusive anschließender Reue und Gewissensbisse - und einer pathologischen Bösartigkeit liegt in der Kontinuität der Aggression ohne jedes Schuldgefühl, mit der Perverse nicht von ihren Opfer lassen können. Es sind größenwahnsinnige Individuen, die ohne einen Leidtragenden nicht leben können, weil nur dessen Existenz - und Scheitern - das eigene kranke Ego aufwertet. Damit das Opfer bleibt (wo es ist), gehen Perverse äußerst geschickt zu Werke.

Die Enthirnung (S. 115) des Opfers findet in zwei Phasen statt: die perverse Verführung und die offene Gewalt. Die erste Phase beinhaltet die eigentliche Verführung, gefolgt von der Beeinflussung und endet in der Unterwerfung. Diese Phasen sind für Außenstehende nicht sichtbar, obwohl dem Opfer bereits jede Freiheit genommen wurde. Es sei denn, der Gequälte leistet aktiven Widerstand: Erst dann bricht der Hass seines Peinigers offen aus - die Phase der Gewalt beginnt: Wenn das Opfer ausspricht, was es empfindet, muss man es zum Schweigen bringen (S. 143). Und daran, dass seelische Gewalt sogar tödlich sein kann, besteht für Gewaltforscher kein Zweifel.

Die bisher nur unter der Oberfläche ausgeübte Gewalt wird, wenn der Hass offen zur Schau gestellt wird, folglich zum ersten Mal auch für Außenstehende sichtbar. Wer nun annimmt, die Opfer hätten selbst etwas zu verbergen oder neigten zu irgendeiner Art von Masochismus, wird von der Viktimologin Hirigoyen eines Besseren belehrt: Es sind in der Mehrheit tolerante, offene und vitale Menschen, die voller Lebenslust und Freude sind, derer sich Perverse aneignen wollen. Die einzigen bestehenden Motive dabei lauten: Neid und Missgunst.

Die Perversen wollen befriedigt, ihnen soll Bewunderung zuteil werden, indem sie zum Beispiel auf die Ideen von Menschen voller Energie Zugriff erhalten. Die Autorin beschreibt dies drastisch als: die Vampirwerdung der Aggressoren. Wenn der Neider nicht von Hass geblendet wäre, könnte er in einem Austauschverhältnis lernen, wie man ein wenig von diesen Gaben erwirbt. Das setzt aber Bescheidenheit voraus, die die Perversen nicht haben (S.162). Es ist das Verlangen nach dem, was die Person noch zusätzlich hat und der Perverse sich aneignen möchte (S.144).

Interessant ist auch, wie die Opfer andere, vermeintlich Unbeteiligte davor bewahren, zu Opfern zu werden, indem sie als eine Art Ventil funktionieren und sich in Stellvertreterfunktion für ihr ganzes Umfeld ausbeuten lassen, das dadurch erst recht nichts von den üblen Vorgängen ahnen kann oder will. Nicht selten verharrt das Umfeld auch in einem Zustand, in dem jeder nur froh ist, nicht selbst das nächste Opfer zu werden.

Erst nach der Verlustigung des Opfers muss sich der Perverse ein anderes suchen. Bei Trennungen spielen sich die Perversen dann als verlassene Opfer auf, was ihnen eine schöne Rolle beschert und ihnen ermöglicht, einen neuen, tröstenden Partner anzulocken (S. 162). Auch das erfolgreich zerstörte Opfer erfüllt nicht mehr seinen Zweck. Es wird entsorgt, der Perverse sucht und findet ein Neues, dessen Vitalität nun ebenfalls in aller Seelenruhe ausgeschlachtet werden kann, um sich selbst zu erhöhen. Neben der geschickten Manipulation sowohl des Opfers als auch des gesamten sozialen Umfelds, ist auch die Pufferfunktion eines vorhandenen Opfers ein Grund, warum diese subtile Art der Gewalt so selten oder erst sehr spät von der Umgebung überhaupt bemerkt wird.

Bis dahin schützen die Masken der Niedertracht das wahre Ansinnen ihrer Träger. Wie erschreckend erfolgreich die perverse Kommunikation, die schon von mittelalterlichen Kriegsstrategen sehr geschätzt wurde, bis heute - unbemerkt - funktioniert, zeigt das Buch anhand vieler Beispiele aus alltäglichen, quälenden Situationen am Arbeitsplatz oder im privatem Umfeld auf.
Im ersten Kapitel - die perverse Gewalt im Alltag - stellt die Autorin die beiden häufigsten Schauplätze seelischer Gewalt vor: die private Gewalt in Paarbeziehungen und Familien und die Gewalt am Arbeitsplatz, die aber genauso in Schulen, Sportvereinen oder Universitäten stattfinden kann. Im zweiten Kapitel analysiert die Autorin die perverse Beziehung und ihre Protagonisten, um im dritten Kapitel schließlich Informationen über die Folgen für das Opfer und die Übernahme der Verantwortung zu geben - Hinweise, die überlebenswichtig werden können.

Der Text oder die Übersetzung mag einigen Lesern nicht an allen Stellen formal genügen, doch der Inhalt wird brillant vermittelt und ist brisant - insbesondere für die so Entlarvten. Marie-France Hirigoyen hat einen klugen und wichtigen Ratgeber geschrieben, der es noch vielen Opfern, aber auch Personalentscheidern sowie dem stets ebenfalls Schaden nehmenden Umfeld ermöglichen wird, der eigenen Wahrnehmung zu trauen, sich zur Wehr zu setzen und damit perversen Prozessen ein Ende zu bereiten.

Buch-Werbung + Infos:

Die Masken der Niedertracht
Seelische Gewalt im Alltag
und wie man sich dagegen wehren kann
von Marie-France Hirigoyen
ISBN 978-3-423-36288-7
erschienen im Deutschen Taschenbuchverlag


2010-07-01, Angelika Petrich-Hornetz, Wirtschaftswetter
Text: ©Angelika Petrich-Hornetz
Illustrationen: ©aph
Fotos Themenbanner: ©ap
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