von Annegret Handel-Kempf
Die Weltleitmesse Electronica, die vom 9. bis 12. November elektronische Komponenten, Systeme und Anwendungen in der Neuen Messe München zeigt, wird zum Schauplatz einer dramatischen Rettungsaktion: Der Emergency Call, kurz eCall, ruft nach schneller Hilfe. Er soll zehn Jahre nach seiner Erfindung endlich in Europa flächendeckend eingesetzt werden und so zehn Prozent mehr Leben als mit herkömmlichen Alarmierungen retten. Dirk Reimer vom Telematic-Spezialisten NXP: „Wir müssen einfach damit loslegen, Leute zu retten“.
Mit einer eCall-Tour quer durch Europa wollen eCall-Befürworter und –Provider wie NXP, BMW, Allianz OrtungsService, IBM und AvD nun auf die Hupe drücken, damit keiner mehr weghört und die Sicherheitssysteme für möglichst viele Menschen die Rettung werden: Je mehr Autos damit ausgestattet sind, desto billiger wird auch die Technik, desto mehr rentieren sich die Investitionen. Bei der Electronica in München wird die Aktion gelauncht. Dann starten die Autos in Madrid, Athen und Helsinki. Sie inszenieren und senden auf ihrer Fahrt nach Brüssel regelmäßige eCalls, um deren europaweit einheitliche Installierung voranzutreiben.
Die Europäische Union kommt immer stärker in Bedrängnis, die Zahl der Unfalltoten zu senken, droht seit langem mit einem Gesetz, tut sich aber schwer damit, den eCall verpflichtend einzuführen. Sie setzt lieber auf Fördermittel für die technische Bereitstellung und hofft auf die Mitgliedstaaten. Spätestens ab 2013 bis 2015 soll niemand mehr der Endzielgerade ausweichen können, drängen die Befürworter des eCalls.
Ein fataler Zeitverlust: Bereits ab 2010 sollte das automatische Notrufsystem in der EU in jedem Auto verpflichtend mitfahren, um bei einem Unfall sofort selbständig Alarm auszulösen und den Rettungsdienst exakt an die Unfallstelle zu lotsen. Denn nur in der so genannten Golden Hour, in der ersten Stunde nach dem Verunglücken, haben Schwerverletzte eine gute Chance, zu überleben. Tödlich endet es hingegen, wenn die Helfer den Unfallwagen nicht rechtzeitig finden. Da erscheint es fragwürdig, warum ein Einsatz vorhandener Technik von Unternehmen und Politik nicht schon längst forciert wurde. „eCall ist ein heißes Feld“, heißt es von Verkehrslenkungs-Fachleuten, da alle so genannten Provider vernetzt werden müssten und Sensoren im Auto Auskunft über den Unfall geben sollen. Auch muss sichergestellt werden, dass nicht beliebig und ohne Notfall nachvollziehbar ist, wer gerade wo herumfährt. Das sei aber ohne Probleme zu schaffen.
2500 Menschen könnten allein in Deutschland pro Jahr mithilfe des eCalls gerettet werden. Volkswirtschaftlich ausgedrückt, würde ein flächendeckender Einsatz in Europa und in drei mit Europa verbundenen Staaten jährlich 25 bis 26 Milliarden Euro sparen, beziehungsweise einbringen, da diese Menschen überleben, so die Angaben der Telematic-Spezialisten von NXP Semiconductors. Russland will den EU-eCall 2013 übernehmen, was den Druck auf dessen umfassende Einführung derzeit erhöht.
Die notwendige Technik gibt es längst, die zugehörigen Geschäftsmodelle mittlerweile auch. Seit 2003 will auch die Europäische Union den Krankenwagen sofort an die richtige Stelle lotsen. Dennoch: Die Beteiligten finden das Gaspedal für das europäische Sicherheitssystem nicht, das auch im Urlaub – ohne Sprachbarrieren – umgehende Rettung liefern soll, da Übersetzer zwischengeschaltet werden.
Das Problem: Der europäischen Absichtserklärung fehlt der Zeitplan, der Umsetzung dadurch der Druck zur Lösung des Henne-Ei-Problems. Das System nützt länderübergreifend nur, wenn die Mitgliedstaaten sich auf einen Standard einigen, was lange Zeit nicht gelang. Die Automobilhersteller wollen erst dann die vorhandene Technik in mehr als nur Insellösungen einbauen. Die Rettungsleitstellen rüsten zuvor ihre Infrastruktur nicht auf. Einer wartet die ersten Schritte des anderen ab. Die EU sitzt freiwillige Lösungen der Beteiligten aus: Die Normierungsgremien in Brüssel fechten im stillen Kämmerlein mit den unterschiedlichen Interessen der an der Umsetzung beteiligten Gruppen und Bedenkenträger, die vor allem Angst vor Monopolen haben. Schließlich geht es um viel Geld, das ausgegeben werden muss und verdient werden kann: Selbst wenn eine Massenproduktion der Notfall-Boxen diese mit einem Preis von möglicherweise rund 100 Euro erschwinglich macht.
Derweil sterben täglich Menschen, weil ihr Handy bei einem Unfall weit von ihnen weggeschleudert wird, ihnen die Notrufnummer 112 nicht einfällt, weil sie verletzt und unter Schock die W-Fragen nach den Unfalldetails nicht beantworten können: Wer weiß schon, an welchem Kilometerstein er auf der Autobahn gerade vorbeigefahren ist, oder wie er die Böschung beschreiben soll, die er auf einer einsamen Bergstraße heruntergestürzt ist?
eCall beantwortet die ersten relevanten Fragen zum Unglück mit seiner automatischen Meldung selbst. Es gibt Navi-Daten durch, ebenso die Fahrzeuggestellnummer, damit die Feuerwehr beim Befreien eingeschlossener Menschen sofort richtig ansetzt und brandgefährliche Batterien schnell entfernt werden. Das elektronische Rettungssystem weiß die Fahrtrichtung, hält möglicherweise medizinisch wichtige Angaben über den Fahrer parat, berichtet, ob das Fahrzeug auf dem Kopf liegt und wie viele Menschen im Auto sind. Es stellt eine Sprechverbindung zu den Unfallopfern her und klärt damit auch, ob die Verunglückten bewusstlos sind, oder ob jemand versehentlich die Airbag-Sensoren aktiviert oder den SOS-Knopf gedrückt hat.
Natasha Gifford, die einen BMW X5 fährt und auf dem Nachhauseweg in der Nähe von London einen Unfall hatte, erzählt von ihren Erfahrungen mit einem automatischen Notrufsystem: „Ich lebe irgendwo im Nirgendwo. … Bei einem Crash verlor ich das Bewusstsein und die Airbag-Sensoren wurden aktiviert. Als ich zu mir kam, hörte ich eine Stimme: 'Der Rettungswagen ist alarmiert. Das Satellitensystem in Ihrem Wagen hat sich darum gekümmert.' Sie wussten ganz genau, wo ich war. Freunde sagen, Fahren mit Connected Drive sei, wie seinen eigenen Schutzengel zu haben.“
Quelle: BMW-Video
Die Aussichten, dass die Notrufe der eCall-Demo-Fahrzeuge auf ihrem Weg nach Brüssel gehört werden, sind theoretisch gut: Endlich gibt es nicht nur die Technik, sondern allmählich auch einen gemeinsamen europäischen Standard für das System. Die Standardisierung ist weitgehend abgeschlossen. In Deutschland wird man 2011 damit durch sein. Schließlich kann man nicht bei jeder Grenzüberschreitung eine andere Tracking Box, quasi eine elektronische Notfall-Auskunfts-Schachtel, ins Auto holen und sich auf unterschiedliche Rettungsleitstellen einstellen.
Mobile Nachrüstlösungen, die man für den Urlaub auch ins Zweitauto mitnehmen könnte, wären sofort einsetzbar und könnten sogar bei einem Diebstahl helfen, den Dieben auf die Spur zu kommen. Die ausgesendeten eCall-Signale werden beispielweise in den Datacentern von IBM transferiert und so zu verständlichen Internet-Nachrichten.
Hört man die Berichte von Menschen, die dank der eCall-Systeme einzelner Autohersteller überlebt haben, spürt man, wie wichtig es ist, ohne Verzögerung die bestmögliche Hilfe zu organisieren. Erfährt man andererseits von Opfern, die überlebt hätten, wären sie nicht stundenlang allein im Dunkeln ohne Hilfe gewesen, will man noch schneller eine drei mal 33 Millimeter kleine Trackingbox am Autodach über dem Fahrersitz oder im Rückspiegel installiert wissen.
Einige Fahrzeughersteller haben seit Jahren eigene eCall-Systeme in ihren Autos verbaut, die mit einem Callcenter als Mediator zur Rettungsleitstelle gekoppelt sind. BMW ist für dieses Sicherheitsplus gerade auf dem Pariser Autosalon ausgezeichnet worden. Gefunden werden andere Unfallopfer derweil manchmal via Handy: Über die Ortungsplattform LifeService112 des Allianz-OrtungsService AOS kann die Rettungsleitstelle jedes Mobilfunkgerät mit Hilfe der LBS- und GPS-Ortung lokalisieren, allerdings nicht immer ganz genau. Der Automobilclub AvD bietet ebenfalls Ortungshilfe nach vorheriger Registrierung an.
2010-10-11 Annegret Handel-Kempf, Wirtschaftswetter
Text: ©Annegret Handel-Kempf
Infos zu Datenschutz + Cookies
zurück zu: Themen
zurück zu: Startseite
wirtschaftswetter.de
© 2003-2021 Wirtschaftswetter® Online-Zeitschrift