von Angelika Petrich-Hornetz
Klug kommentierte die Mitteldeutsche Zeitung am zweiten Weihnachtsfeiertag das, wie sie aufzählte, Zitat: "Winterchaos, Wetterchaos, Schneechaos, Eischaos". Neben dem Lehrstück des Winters für jeden Bürger, persönlich eine gelassene Haltung einnehmen zu müssen, so das Blatt weiter, werde von der Allgemeinheit inzwischen die Fehleranalyse vermisst, um die allzu offensichtlichen Schwachstellen im Winterdienst aufzudecken, und wenigstens den nächsten Winter besser zu organisieren.
Doch davon sind wir noch weit entfernt. Die Schwachstellen sind zwar bundesweit bis in die letzte, kleine Wohnstraße nur allzu offensichtlich. Doch von der Notwendigkeit einer Fehleranalyse hört man von offiziellen Stellen wenig. Es scheint eher, als hofften die Zuständigen in der Politik, aber auch in der Wirtschaft wider besseren Wissens, der weiße Logistik-Alptraum möge möglichst von allein und bald verschwinden. Ganz so, als wäre der inzwischen zweite, schneereiche Winter in Deutschland lediglich eine Fata Morgana, die nie wirklich stattgefunden hätte. Mit dieser Einstellung fühlt sich dann wohl auch niemand für den nächsten Winter zuständig oder trifft irgendwelche ernstzunehmenden Vorbereitungen. Dabei hatten exakt kurz vor dem Einsetzen des Winterwetters im November 2010 Städte und Gemeinden flächendeckend auf die misstrauischen Fragen ihrer regionalen Zetungen (wie kamen die nur darauf?) noch großspurig geantwortet, sie wären bestens vorbereitet, hätten genug Salz gekauft und gelagert, wären personell und materiell gut vorbereitet. In Wahrheit hofften wohl alle unmittelbar Beteiligten lediglich darauf, es würde schon nicht so schlimm wie im letzten Winter werden.
Ein paar Stunden später, haperte es gleich überall, und das schon ab den ersten paar Zentimeter Schnee: Angefanngen mit geschlossenen Luftfahrtdrehkreuzen inklusive hungernden Flugreisenden, die auf dem kalten Fußboden nächtigten, über vereiste Schienen sowie Mangel an Streusalz bis hin, ins letzte Glied privater Hauseigentümer und Mieter - denen lapidar beschieden wurde, sie hätten gefälligst die Wege zu räumen. Doch nach vier Wochen Dauerfrost und -schnee haben langsam alle Schneeschaufler ihre persönlichen, körperlichen und logistischen Grenzen erreicht. An der Regel der übertragen Schneeräumpflicht für Zivilisten scheint die Wirklichkeit der letzten Jahre vollkommen vorbei gegangen zu sein: Die Bewöhner von Städten und Gemeinden im alternden Deutschland können immer weniger selbst schaufeln und ihre körperlich kräfigen Kinder wohnen nicht mehr, wie früher, gleich nebenan.
Über die demografische Entwicklung wurde in den letzten Jahren zwar viel geredet, doch mit den praktischen Auswirkungen ist man offenbar überfordert. Städte und Gemeinden, die sich damit in der Praxis auseinandersetzen müssten, scheitern bereits im zweiten Winter unsalbungsvoll an den Problemen dieser weißen Pracht. Und trotz dem öffentlichen Druck wird wieder nicht analysiert, was schief läuft und was notwendig wäre, sondern nach Milchmädchen-Art von bereits dauerschaufelnden Professionellen sowie privaten Bürgern ledglich noch mehr Einsatz abverlangt.
In einem Dorf in Schleswig-Holsein schickte die Gemeinde - immerhin zu eigenen Gunsten rechtzeitig im Herbst - Info-Briefe an ihre Untertanen heraus, in der die Anwohner jeder Straße dazu augefordert wurden, neben dem Bürgersteig zusätzlich je eine halbe Straße in ihre allgemeine Winterräumpflicht einzubeziehen. Damit sollen die Dorfbewohner nun tatsächlich täglich die Straße schippen. Abgesehen vom dem Volumen der Schneemassen, das einfach keiner dieser mit Holzschippen ausgerüsteten Rentner wirklich sinnvoll unterbringen kann, hat auch diese Gemeinde Von der demographischen Entwicklung in ihren eigenen Ortschaften offenbar noch nie etwas gehört, oder man dachte, diese sei mit der Gratulation zum 90. Geburtstag abgearbeitet.
Was Mitarbeiter im öffentlichen Dienst, zum Teil kräftige Männer im besten Alter, körperlich nicht mehr bewältigen können, sollen nun zum teil betagte Damen und Herren im Alter zwischen 75 und 90 Jahren wegschaufeln, die längst selbst auf fremde Hilfe, wahlweise auf Gehstöcke und Rollatoren angewiesen sind? Das Ergebnis: Der Schnee bleibt liegen. Und zwar nicht nur dort, wo er richtig stört, sondern überall. Freie Flächen zur Lagerung weiteren Schnees sind nicht mehr vorhanden. Es gibt keine Parkplätze mehr. Inzwischen ist der Schnee sogar vereist. Folge: Nicht nur diese Straße ist inzwischen unpassierbar und die Bewohner gelten damit inoffiziell als von der Außenwelt abgeschnitten, was gerade die Lage der älteren Menschen in der Straße noch einmal mehr erschwert. Wer in dem Alter zu Fuß einkaufen gehen muss, der freut sich schließlich über jeden Trampfelpfad, der dies überhaupt noch ermöglicht.
Dabei hatte schon der vergangene Winter mit dreißig Zentimeter Packeis auf den Gehwegen dafür gesorgt, dass sich selbst in den Städten zahllose ältere Menschen nicht mehr auf die Straße trauten. Alterbedingt oder krankheitsbedingt bewegungseingeschränkte Mitbürger konnten die Gehwege schlicht nicht mehr gefahrlos betreten. Auch die Jüngeren fielen scharenweise dem Glatteis zum Opfer - und anschließend in Rudeln in die Notfallaufnahmen der Krankenhäuser ein. Die Zahlen der Knochenbrüche 2010 sprachen Bände davon, dass Prävention wahrscheinlich billiger für die öffentlichen Kassen gewesen wäre, wenn sich nur nicht die Unsitte des Kostenverschiebebahnhofs aus den Töpfen der Straßenreinigung heraus in die Töpfe der Krankenversicherungen hinein längst durchgesetzt hätte.
Allein diese Beispiele die in der Summe überall ähnlich stattfinden, zeigen, wie flächendeckend unvorbereitet Deutschland in den aktuellen Schneewinter schlitterte, ohne, dass sich die gewählten Volksvertreter abseits einiger positiver Ausnahmen, Gedanken darüber gemacht hätten, ob die Folgen solcher Wetterkapriolen nicht besser organisiert und geplant werden könnten, damit zum Beispiel Versorgungsengpässe abgewendet oder wenigsens abgemildertw werden können, die bei Andauern des eisigen Wetters in diesem Winter durchaus noch aktuell werden könnten. Deshalb ist die Forderung nach einer Fehleranalyse längst überfällig zumal Pläne der Städten und Gemeinde für extremes Wetter auch auf andere Wetterlagen angepasst, einmal nützlich werden könnten.
Es muss auch nicht gleich der Notstand ausgerufen und der Katastrophenschutz zum Einsatz kommen, nur weil es ein paar Zentimeter schneit. Aber man könnte sich abseits von echten Schnee-Katatstrophen für länger andauernde Schlecht-Wetterperioden durchaus besser organisieren. Finnland und andere nordeuropäische Staaten können schon seit Wochen über die Deutschen im Winterchaos nur grinsen, was eines aufschlussreichen Informationsaustausches sicher nicht abträglich wäre. Lieber auslachen lassen und für den nächsten Winter rüsten, wäre zumindest eine echte Alternative zur Methode "Kopf-In-Den-Schnee-Stecken" und abwarten, bis Eis und Schnee ohnehin von allein schmelzen.
Eine Analyse der Winterprobleme würde sicher auch einige weitere unangenehme Wahrheiten zu Tage fördern, als nur die, weder im Allgemeinen noch im Detail vorbereitet gewesen zu sein. Zum Beispiel dürfte die Erkenntnis, dass der Vorsprung der industralisierten Länder, in ihren eher kalten Regionen stets Vorsorge für die mehr oder weniger nahe Zukunft treffen zu müssen, längst aufgebraucht ist - und so lange auf taube Ohren in der Wirtschaft treffen wird, bis wichtige Mitarbeiter Dank Schneemassen nicht mehr an den Arbeitsplatz anreisen können. Grundsätzlich warten stets weitere aktuelle und neue Probleme nicht erst bis sie dran sind. Doch Verdrängen und Wegsehen hilft nicht: Die mobile Just-In-Time-Gesellschaft hat es verlernt, mit schwierigem Wetter umzugehen. Dagegen hilft nur die Einsicht, wie ebenfalls die Mitteldeutsche Zeitung formulierte, dass wir "vom Winter lernen" können.
Das jeder nur weiter für sich schaufelt und leidet, dürfte bei der rasanten Alterung jedenfalls nicht mehr lange funktioneren. Man muss beim Winterdienst anfangen, aber darf auch nicht bei der Schulbildung aufhören. Frankreich sendet bei extremen Wetter seine Schulprogramme übers heimische Fernsehgerät und übers Radio in die Schüler-Haushalte. Außerdem ist das Unterrichtsprogramm im Internet abrufbar. Das wurde im Sommer 2009 im Rahmen zur Vorbereitung auf die Schweinegrippe umgesetzt - eignet sich also genauso gut bei Epidemien und Pandemien. Statt komplettem Unterrichtsaufall, erscheint der Lehrer per Webcam pünktlich um 8:00 Uhr als Repräsentant eines krisenfesten Bildungssystems? Warum denn nicht? In Kanada, einem Land, das weitaus extremeres Winterwetter als das milde Deutschland kennt, ist Unterricht übers Internet schon seit Ewigkeiten bewährte Praxis.
Vielleicht brauchen die Deutschen noch ein, zwei solche Winter, bis sie sich grummelnd aber schließlich doch anpassen und an die notwendige Organisation ihrer Winter begeben - sowie sich endlich von dem Gedanken verabschieden können, bei jedem Wetter unbeschwert wie im Frühling über Autobahnen, Schienen und Gewässer oder durch die Luft zu gleiten. Es wird Zeit, für wetterfeste Lösungen.
Wo bleibt eigentlich der städtische Verleih von mechanisch angetriebenen Ein-Personen-Schneepflügen, wie sie ältere Hausmeister noch nutzen (wahrscheinlich hüten sie diese Teile seit Jahrzehnten wie einen Schatz)? Mit so einem Ding hätte ich in der Woche vor Weihnachten im wörtlich gemeinten Alleingang die Hälfte aller Bürgersteige in der Innenstadt zumindest stundenweise schneefrei halten können.
2011-01-01 Angelika Petrich-Hornetz, Wirtschaftswetter
Text: ©Angelika Petrich-Hornetz
Fotos: ©aph
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