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Stop Stop Loss

von Angelika Petrich-Hornetz

„50 Prozent der Wirtschaft sind Psychologie. Wirtschaft ist eine Veranstaltung von Menschen, nicht von Computern.“
Alfred Herrhausen

Der legendäre Börsianer André Kostolany hat alles richtig gemacht. Gutes Timing ware ihm, der sich zu Lebzeiten in für heutige Gepflogenheiten geradezu schmerzhafter Ehrlichkeit als Spekulant bezeichnete, eine der wichtigen Voraussetzungen für Erfolg an der Börse. Das betrifft auch seinen Tod, weil er sich gegenwärtig wahrscheinlich im Grabe umdrehen würde, wenn er mitbekommen müsste, was auf dem Börsenparket mittlerweile alles zur Gewohnheit geworden ist. Die inzwischen regelmäßige Hysterie schien diesem erfolgreichen Händler auf dem Parkett so fehl am Platze, wie heutigen Händlern der Gedanke, dass die Finanzwirtschaft tatsächlich auch schon vor dem Computerzeitalter existieren konnte.

Neben gutem Timing ist für jeden Spekulanten die permanente Beobachtung und das Verstehen des Marktes unveräußerbare Basis des Erfolgs, weder auf das eine noch das andere kann ohne Verluste verzichtet werden. Das sieht man heute jedoch anders. Computerprogramme ersetzen nicht erst seit gestern menschliche Mitarbeiter - und so auch auf dem Börsenparkett, wobei nicht die intelligente Nutzung derselben, sondern die Bequemlichkeit nur allzuoft altertümliche menschliche Schwächen offenbart. Für alle gilt, dass Programme nur so gut sind, wie diese geschrieben worden sind und wie gut sie eingesetzt werden. Doch die Bequemlichkeit, außerdem der Zwang von Sparmaßnahmen und viele andere Faktoren mehr sind nicht zu unterschätzende Fehlerquellen.

Stop Loss, eine Order, die helfen soll, Kursverluste zu vermeiden bzw. zu vermindern, woran grundsätzlich erst einmal nichts auszusetzen ist, scheint ein Paradebeispiel für den Schlendrian zu werden, der entstehen kann, wenn ein an und für sich neutrales Programm plötzlich zum Massenphänomen wird, auf das sich zu viele blind verlassen. Es täuscht Einfachheit und Sicherhheit vor, impliziert aber Unachtsamkeit und Mittelmäßigkeit - eine gefährliche Mischung auf globalen Märkten, in der doch gerade die steigende Quantität von - durch Computer generierte - Daten Entscheidungen immer schwieriger machen. Stop Loss ist eine Handelsoption, die gerade deshalb für ängstliche Vertreter am Markt verlockend wirkt, die im Sog von Verlusten vor ebendiesen sowie vor der wachsendenen Daten-Komplexität davon zu kommen meinen. Doch eine Order oder ein Programm, das automatisch dafür sorgt, garantiert unbeschadet aus dem Markt auszusteigen, gibt es nicht.

Die Stop-Loss-Order soll dafür sorgen, dass möglichst noch mit Gewinn verkauft wird, auch wenn dieser wenig bis moderat über dem Kaufpreis liegt, sobald sich die Aktienkurse auf Talfahrt befinden. Wenn mit einer zusätzlichen Grenze "Limit" - Stop-Loss-Limit - gehandelt wird, wird nur dann verkauft, wenn das gesetzte Limit (Preis) nicht unterschritten wird. Ohne Limit kann auch Stop Loss zu Verlustverkäufen führen, mit Limit kann der Verkauf bei Kurseinbrüchen allerdings auch schlicht verhindert werden, weil das Limit am Markt nicht mehr erreicht werden kann.

Fünfzig Prozent der Wirtschaft sind Psychologie, sagte Herrhausen. Stop Loss soll den Anleger vor großen Verlusten bewahren und zwar definiert, wenn die Kurse fallen. Psychologisch betrachtet werden damit Untergrenzen bei fallenden Kurse gesetzt, aber keine Obergrenzen - so rückt der Gewinn, das eigentliche Ziel, unvermeidlichi in den Hintergrund. Was richtet die Fokussierung auf die Angst vor fallenden Kursen in den Köpfen von Anlegern an und wie wirkt sich diese aus? Um Letzteres zu beantworten, brauchen wir uns nur den Zickzackkurs an den Börsen anzusehen: Der regelmäßige Absturz liegt im System, weil Stop Loss inzwischen zur Massen-Order, zur Selbstverständlichkeit der Marktteilnehmer geworden ist. Zusammen mit der trügerischen Sicherheit von Computerprogrammen, die von allein keineswegs den Befehl herausgaben, die Märkte unbeobachtet zu lassen, verstärkt diese "Verlustangst-Order" inzwischen die regelmäßigen Aktientalfahrten, weil massenhaft Anleger gleichzeitig verkaufen, so dass alle gemeinsam auf Talfahrt gehen.

Das ist psychologisch gesehen, höchst seltsam, denn der Sinn im Erwerb von Wertpapieren lag ursprünglich bzw. liegt darin, Gewinne zu erzielen. Die Reduzierung von maximalen Verlusten ist zwar - nicht nur an der Börse - grundsätzlich sinnvoll, aber ein Wertpapierhandel, der vorwiegend die Vermeidung (von Verlusten) zu seinem Ziel erklärt, verliert seinen eigentlichen Zweck, den Gewinn des Anlegers zu steigern, aus den Augen.

Auch die Limit-Order setzt Grenzen vor Verlust, ohne den negativen Touch des "Loss" also den Verlust ständig vor Augen zu haben, obwohl es sich fast um dasselbe handelt. Um Verluste zu vermeiden, setzen Käufer und Verkäufer genauso (Ober- und Unter-) Grenzen, zu welchen Preisen sie bereit sind, zu kaufen oder zu verkaufen. Doch das neutrale "Limit" erinnert vielmehr an das echte Marktgeschehen der Realwirtschaft, in der sich, nicht nur an der Börse, Angebot und Nachfrage treffen und Gewinne und Verluste an der schlichten Tagesordnung sind. Die Limit-Order suggeriert immerhin nicht wie Stop Loss, man könne sich etwa bequem zurücklehnen und die Aufmerksamkeit dem Markt gegenüber vernachlässigen, im Gegenteil. Dass der Markt ständig beobachtet werden muss, daran hat sich in den letzten hundert Jahren überhaupt nichts geändert.

Wer ein Verkaufs-Limit setzt und sieht, dass er zu diesem Preis nicht verkaufen kann, muss gegebenenfalls aktiv eingreifen, um doch darunter zu verkaufen und einen Maximalverlust zu vermeiden. Das ist ärgerlich, wäre vielleicht vermeidbar gewesen, aber dürfte bei genauer Marktbeobachtung i.d.R. auch nicht allzu verlustreich ausfallen, wenn der Verkaufspreise immer noch über dem Einkaufspreis liegt. Ärgerlich ist dagegen, dass manche meinen, mit Stop Loss, müssten sie gar nichts mehr tun und alles liefe wie geschmiert zu ihren eigenen Gunsten. So viel suggerierte, aber faktisch gar nicht vorhandene Sicherheit, sondern lediglich mangelnder Einsatz plus Bequemlichkeit wird aber am Markt gnadenlos bestraft - immer öfter, wie erst jüngst geschehen, mit drastischen Kursabstürzen. Und von denen hat schließlich keiner etwas.

Können Sie sich noch an die Volksaktie in den 90er Jahren erinnern? Sie hatte mit anderen Debakeln eins gemeinsam: falsche Vorstellungen. Auch bei der Volksaktie, für die massenhaft geworben wurde, wurde suggeriert, dass die Rendite sicher sei. Es kam, was kommen musste, irgendwann ging der Kurs doch in den Keller. Während die einen von ihrem Banker sorgfältig betreut, rechtzeitig gefragt wurden, ob sie zu hohen Preisen mit großen Kursgewinnen verkaufen wollten, stiegen die anderen erst zu horrenden Preisen ein oder setzten aus unerfindlichen Gründen auf einen weiteren Anstieg und damit exorbitante Gewinne. Viele deutsche Kleinanleger verloren damit ihr Erspartes und klagten später vor Gericht. Erst danach fing wiederrum nur einige Betroffene an, sich endlich mit dem Auf- und Ab der Kurse ernsthaft zu beschäftigen. Für viele kam die Auseinandersetzung mit dem Börsengeschehen, damals wie heute viel zu spät. Seitdem gibt es Millionen weniger Anleger in Deutschland, inklusive aller daraus folgenden negativer Auswirkungen, zum Beispiel, reinen Zockern noch etwas entgegenzusetzen.

Herbe Verluste an der Börse, auch wenn einige das immer noch nicht glauben wollen, sind auch mit Stop Loss nicht vermeidbar - siehe oben, wenn alle Kurse in den Keller rauschen, das Gegenteil ist der Fall. Die Order verstärkt lediglich den Abwärtstrend, wenn viele Stop-Order, in Marktorders umgewandelt, Priorität haben, während Limit-Orders warten müssen bzw. gar nicht mehr zum Zug kommen. Die Limit-Order kommt zuletzt dran, wenn alle Markt-Orders, damit auch die Ex-Stop-Orders, verarbeitet sind. Abgesehen von der Technik, psychologisch betrachtet wird damit hektischen Angsthasen und ausgemachten Faulenzern an der Börse möglicherweise das weitaus größere Feld überlassen. Schon fast bedauerlicherweise nützt es in Zeiten großer Kursschwankungen dann auch ihnen nichts mehr.

Die Börse lebt von individuellen und widersprüchlichen Entscheidungen. Das Risiko, die das Auf- und Ab der Kurse, die Schnelligkeit der Märkte und die Veränderlichkeit gehört zu ihrem Wesen. Wer schon zitternd an die Börse geht oder wer lieber in den Urlaub fährt, wer nicht weiß, dass seine Papiere auch massiv an Wert verlieren können, wer Verluste finanziell und seelisch nicht verkraftet, wer sich nicht eingestehen kann, auch mal aufs falsche Pferd gesetzt zu haben oder wer kein Polster hat, Verluste aufzufangen, und wer aus all diesen Gründen blind Computerprogrammen vertraut, die er so wenig versteht, wie die Märkte - was hat der eigentlich an der Börse verloren?

Ein Ausdruck dieser Ängstlichkeit und Labilität von Anlegern ist auch der ständig steigende Goldpreis. Wer in ständiger Angst vor Verlusten lebt, fährt persönlich damit wahrscheinlich auch besser, toter Mann zu spielen, jedenfalls besser, als sich einzubilden, mit Stop-Orders auf irgendeiner sicheren Seite zu sein. Gold nützt aber dem Markt nichts. Also: Stop Stop Loss - zumindest eine Modernisierung dieser Standard-Order wäre angebracht - oder man gewöhne sich bitte an immer wiederkehrende Massen-Kursrutsche.

Schade nur, dass auch die Realwirtschaft daran hängt, die solche Methoden gar nicht kennt. Zumal im Wesen von Stop-Loss keine Begrenzung nach oben liegt, das heißt Stop Los gaukelt gerade dem unerfahrenem und bequemen Anleger vor, es ginge angeblich immer aufwärts, aber niemals abwärts - reine Illusion. Stop-Loss müsste mit einer Kursobergrenze kombiniert zu werden. Dies hätte immerhin den Vorteil, dass jedem bewusst werden müsste, dass es eben nicht unbegrenzt nach oben geht. Alles andere wirkt eher wie ein Lottospiel mit großzügigen Geschäftsbedinungen: Noch während der Auslosung darf der Spieler seinen Einsatz abziehen, so bald er feststellt, dass er nicht gewinnt. Ohne Maßnahmen bleibt eine "Furcht-Order" marktbestimmend, die eine Grenze nach oben nicht kennt, aber jedesmal weltweite Angstzustände auslöst, wenn DAX, Nikkei und Dow Jones auch nur husten und deren Folgen dann auch noch alle anderen ertragen müssen. So rauschen wir gemeinsam auch weiterhin in schönster Regelmäßigkeit munter mit ab. Darauf an dieser Stelle ein dreifaches: Stop Stop Loss! Und ein Kostolany-Zitat:
„EDV-Systeme verarbeiten, womit sie gefüttert werden. Gibt man Mist ein, kommt Mist raus.“


2011-08-10 Angelika Petrich-Hornetz, Wirtschaftswetter
Text: ©Angelika Petrich-Hornetz
Illustrationen: ©ap
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