von Angelika Petrich-Hornetz
Es gibt Überraschungen, die bei näherer Betrachtung keine sind, sondern lediglich eine logische Konsequenz einer langfristigen, unangenehmen Entwicklung. Überraschend war an dem Ausbruch der EHEC-Epidemie in Deutschland höchstens der Zeitpunkt: Gerade, als sich die Medienöffentlichkeit an das offizielle Ende der H1N1-Pandemie im vergangenen Sommer erinnerte, insbesondere wie viel Geld für die Schweinegrippe in Form von Impfdosen seinerzeit ausgegeben worden war, trat der nächste tödliche Keim auf den Plan.
Wie war das möglich? Bis zum Erscheinen dieses mutierten Magen-Darm-Hybrids war man sich außerhalb von unmittelbar Betroffenen-, Hinterbliebenen- und Medizinerkreisen über die jüngsten Ausbrüche einig: Es sei vor allem Panik verbreitet worden, die Warnungen vor Schweinegrippe und anderen Viren grenzten an Hysterie. Die Impfaufrufe von 2009/2010 interpretierten einige als vollkommen überflüssig. In dieser Stimmung wurden auch die ersten Fälle von EHEC-Erkrankungen kommentiert: bedauerliche Einzelfälle - und so schlimm werde es schon nicht werden.
Fakt ist, dass diese neue Seuche bis heute nicht unter Kontrolle ist und dass die Suche nach Quellen und Übertragungswegen der berühmten Suche nach der Nadel im Heuhaufen gleichkommt - aber auch, dass diese, so teuer es auch werden mag, weitergeführt werden muss. Denn diese Epidemie breitet sich nicht nur von Mensch zu Mensch sondern auch über die internationalen Export- und Import-Wege der Agrar- und Lebensmittelindustrie aus. Einige Experten sagen, dass es sich dieser Keim, wie viele andere zuvor, auch langfristig überall in der Umgebung gemütlich machen könnte.
Der Kampf gegen EHEC wird damit an allen Fronten geführt und Kampf ist hier durchaus das richtige Wort: Einerseits geht es um die Übertragung zwischen Menschen, die sämtliche in seliger Antibiose-Wirksamkeit in Vergessenheit geratenen Hygieneregeln wieder aktuell werden lässt. Andererseits hat diese Seuche auch etwas mit den Gammelfleischskandalen der jüngsten Vergangenheit zu tun und rollte damit ein neues Handlungsfeld auf. Bei Gammelfleisch gab es zumindest den Vorteil, dass Fleisch in der Regel nicht roh verzehrt wird und mögliche Keime durch Erhitzen zerstört werden, so dass die Folgen des Verzehrs in Grenzen blieben. Dass der "erfolgreiche" Vertrieb ungenießbarer Ware jedoch nur auf die Fleischwirtschaft beschränkt bleiben würde, erwies sich als eklatanter Denkfehler. Es war daher nur eine Frage der Zeit, bis eines Tages ein Keim auftauchen würde, der sich auch auf nicht zu erhitzenden Lebensmitteln wohl fühlt - und damit viel besser und schneller ans Ziel kommt, als sich über Fleisch zu verbreiten.
Mit solchen Protagonisten wachsen die Gefahren für die Lebensmittelindustrie. Britische Forscher veröffentlichten Anfang Juni im Fachmagazin "The Lancet Infectious Diseases" ihre Entdeckung einer neuen MRSA-Variante, und zwar zunächst in britischer Kuhmilch. Später wurde dieser genetisch veränderte Stamm, der nicht auf die üblichen MRSA-Tests anschlug, sowohl in Kühen als auch in Menschen in England, Schottland, Dänemark, Irland und Deutschland nachgewiesen. Schon länger bekannt ist der gefürchtete resistente Keim in Schweinemastbetrieben - die Viehwirtschaft etabliert sich langsam aber sicher zum MRSA-Reservoir. Das ist für einen ehemaligen Krankenhauskeim eine erstaunliche Karriere, die aber beispielhaft dafür ist, mit was wir es bis auf Weiteres zu tun haben werden.
Ähnlich wie bei möglichen Keimen in Gammelfleisch entgeht der Mensch auch hier lediglich der Gefahr (durch Milchtrinken kontaminiert zu werden), weil die Keime durch Erhitzen vor dem Verzehr abgetötet werden. Die Übertragung vom Rind auf den Menschen über Farmmitarbeiter hält man allerdings für möglich sowie auch der umgekehrte Weg grundsätzlich möglich ist. Die so genannten Zoonosen - Übertragungen von krank machenden Erregern zwischen Tier und Mensch - nehmen zu und verursachen weltweit immer mehr Probleme. Mit der EHEC-Epidemie wird nun immer deutlicher, wie entwicklungsfähig Keime sind und dass nicht nur Übertragungen zwischen Menschen oder Tier und Mensch, sondern auch zwischen (Nutz-)Pflanze und Mensch, zwischen Wasser und Pflanze und andere lebensgefährlich werden können.
Die globale Lebensmittelindustrie steht damit vor immensen Problemen. Dabei gab es es genug Vorboten. Wie war das noch mit einer ehemaligen Schafskrankheit, die erst zur Rinderkrankheit wurde, bevor sie auch den Menschen überging? Mit einer an Hybris grenzender Methode wurden Rindern - reinen Pflanzenfressern - geschredderte Schafsköpfe verfüttert. Hat man daraus gelernt?
Als Reaktion auf die Rinderseuche BSE wurde von den damaligen EU-Agrarministerin ab Januar 2001 ein Verfütterungsverbot für so genanntes "Tiermehl" in der ganzen EU (im Dezember 2000 in Deutschland) erlassen. 2008 wurde das Verbot wieder gelockert - wegen steigender Futterpreise. Seite Mitte Oktober darf Fischmehl wieder an junge Wiederkäuer - Lämmer und Kälber - verfüttert werden. 2011 hat sich der Umweltausschuss des EU-Parlaments schließlich dafür ausgesprochen, tierische Proteine in Form von Tiermehl zumindest wieder an die Allesfresser Geflügel und Schweine zu verfüttern, allerdings kein Tiermehl aus Wiederkäuern. Im Juli 2011 soll diese Lockerung umgesetzt werden.
Mit ein paar Lebensmittelkontrollen mehr, wird es nicht mehr getan sein. Die Techniken einer ganzen - und Dank des immensen Bevölkerungswachstums immer wichtigeren - Branche müssen auf den Prüfstand: Wo wird mit welchen Techniken und Methoden neuen Zoonosen und Übertragungswegen möglicherweise Vorschub geleistet? Wo wird aus Kostenersparnis auf unverzichtbare Hygienemaßnahmen wider besseren Wissens verzichtet? Wie wirkt sich die steigende Weltbevölkerung und wie die globale Mobilität auf die Beschleunigung von Epidemien und Pandemien aus?
Ist es noch sinnvoll, dass es in Deutschland seit 2001 kein Gesundheitsuntersuchungen mehr für Mitarbeiter vorgesehen sind, die Lebensmittel zubereiten und ausgeben, sondern nach geltendem Infektionsschutzgesetz nur noch eine "Gesundheitsbelehrung"? Wo, wie oft und wie sorgfältig finden diese Belehrungen statt? Wer kann beantworten, ob das seit 2006 gültige so genannte EU-Lebensmittelhygienepaket auch für mutierte, resistente und/oder überspringende Keime ausreichen wird? Und wen wollen spanische Gurkenhersteller verklagen, wenn auf einigen Gurken lediglich der "normale EHEC-Erreger" gefunden wird? Etwa den Restaurant-Besucher, der schon "normalen" Durchfall ohne Nierenwäsche nach dem Genuss eines Gurkensalats partout nicht akzeptieren will?
Erst wenn diese Fragen beantwortet sind, kann über Entschädigungszahlungen für Agrarwirtschaft und Einzelhandel nachgedacht werden, wenn man nicht Gefahr laufen will, möglicherweise massiv öffentliche Gelder in längst überholte Agrar-Techniken oder Hygienemaßnahmen zu stecken, die den Anforderungen der Gegenwart nicht mehr entsprechen und die am Ende der Nahrungskette nichts anderes als krank machen.
Schließlich sind es zuerst die Opfer und Hinterbliebenen der an Seuchen Verstorbenen und Erkrankten, die massiv geschädigt wurden und werden, und zwar weitaus übler als lediglich durch Umsatzeinbußen. Nicht zuletzt auch das Gesundheitssystem, das in der Absurdität gefangen ist, ausgerechnet Seuchen nach ökonomischen Prinzipien behandeln zu müssen. Resistente oder mutierte Keime, die über viele Wege und manche sogar weltweit, sowohl über die Nahrung als auch von Mensch zu Mensch, Mensch zu Tier und umgekehrt sowie über weitere Wege übertragbar sind, stellen eine große nationale und globale Herausforderung dar, für die es keine einfachen und oberflächlichen Antworten gibt.
2011-07-01 Angelika Petrich-Hornetz, Wirtschaftswetter
Text: ©Angelika Petrich-Hornetz
Illustrationen: ©Angelika Petrich-Hornetz
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