von Angelika Petrich-Hornetz
Auf einer Sommerparty. Gegen Mitternacht lässt sich die sichtlich gut gelaunte Gastgeberin in ihre Garten-Schaukel fallen. Dabei wippen ihre Beine derart unnatürlich akkurat symmetrisch in die Höhe, als seien es zwei Holzbalken. Diese Bewegung gibt für einen einzigen, winzigen Augenblick ein Geheimnis preis, von dem so mancher Gast lieber verschont geblieben wäre. Fremdschämen macht die Runde - ein Geschehen, das die gleichen Hirnregionen wie beim Anblick körperlicher Schmerzen aktiviert.
Nun ließ sich die Zeit aber nicht mehr zurückdrehen - zum Wegsehen und Ausblenden war es längst zu spät. Dazu fielen mir nur ein paar verstaubte Gedanken-Fragmente fast vergessener Erzählungen sehr alter Damen ein, die, vor der fröhlichen Leichtlebigkeit ihrer Enkelinnen, Töchter und Nichten die dunklen Zwänge weiblichen Lebens vergangener Jahrhunderte heraufbeschworen, bis sich diese Mädchen stets lachend umdrehten, um sich wieder einer wesentlich entspannteren Gegenwart zuzuwenden. Aber es bestand kein Zweifel an einer düsteren Vergangenheit: Es ist noch nicht so lange her, als weibliche Körper aus Gründen gesellschaftlicher Konventionen in so etwas gezwungen wurden.
Unter dem Saum des mit Blumen gemusterten Minikleids der Gastgeberin blitzte nämlich für nur zwei endlos lange Sekunden ein zweiter Saum auf, und zwar hautfarben, eng anliegend und mindestens doppelt so dick wie der leichte Stoff des Sommerkleides darüber. Dieser zweite Saum fasste offenbar die Beine der so Bestückten derart eng zusammen, dass diese parallel hochgehen mussten, als die ganze Frau nach hinten in die Schaukel fiel. Und das gab ihren Beinen diesen unfreiwillig komischen Zug, so als wäre das Oberschenkel-Gelenk kein nach allen Seiten bewegliches Kugel-, sondern ein Scharniergelenk, das lediglich nach vorne zusammengeklappt werden konnte. Oder wie bei einer absichtlich ausgeführten Gymnastikübung, bei der die Beine bewusst möglichst parallel und gerade nach oben gebracht werden sollen, um irgendeinen Muskel zu trainieren.
Nur leider war das Ganze keine Übung, weder absichtlich gewollt, noch handelte es sich um eine Gelenkanomalie, sondern es war der Tribut der Gastgeberin an ein Stück Bekleidung, das offenbar seit einiger Zeit, weitestgehend unbemerkt wieder in Mode gekommen ist, und nur in diesem Fall unübersehbar: Hurra, hurra, das Hosenkorselett ist wieder da!
Zitat: *"Das Mieder bzw. Korsett formte die Silhouette der Frau in Europa bis ins frühe 20. Jahrhundert." Zitatende, verortet Wikipedia dieses Ding als Relikt vergangener, unbekannter Zeiten als veraltetes Mittel zur Figurbetonung. Kein Wunder also, dass nicht alle gegenwärtig volljährigen Frauen überhaupt je etwas davon mitbekommen haben, die Zeit scheint an einigen von ihnen glücklicherweise komplett vorbei gegangen zu sein. Doch, nein, ein paar Sätze weiter heißt es, Zitat: "Bedingt durch Filme und indem Modemacher die Idee aufgriffen, erlebt das Korsett seit Ende des 20. Jahrhunderts eine Renaissance als Partykleidung." Zitatende.
Die Befreiung von Zwangstextilien, die laut diversen Autoren angeblich nur dazu da waren, Frauen irgendwie in eine gewünschte Form zu pressen, damit es, ebenfalls angeblich, ansehnlicher wirke, dauerte also gerade einmal ein knappes Jahrhundert und ist damit schon längst wieder vorbei?
Jedenfalls war es offensichtlich einmal immerhin ein paar Jahrzehnte lang so, dass das Eingequetschtsein in Textilien kein Thema mehr war, obwohl die regelrechte Anbetung von leichter, weiter oder dehnbarer und damit bequemer Bekleidung "aus natürlicheren Fasern" zu Recht auch längst ihre Kritiker gefunden hat, inklusive berechtigter Kritik an mindestens genauso zweifelhaften Herstellungsverfahren und Arbeitsbedingungen, die mit Natur gar nichts mehr gemein haben. Doch jahrzehntelang hat man in der Tat kein oder kaum ein Korsett mehr gesehen. Erst als Nicole Kidman 2001 im Film durchs Moulin Rouge schaukelte, fiel so mancher Kinogängerin wieder ein, dass es so etwas überhaupt jemals gegeben hat, wobei Frau Kidman auch nicht viel wegzuquetschen hatte. Ergo nahm es auch niemand ernst.
"So etwas", nämlich "kaschierende Unterwäsche" für eine "schlanke Silhouette" im ernstgemeinten Sinn, das war - Pardon, ist - zum Beispiel das Korselett, das bis zur Hüfte reicht. Oder es gab - Pardon, es gibt - das Hosenkorselett, mit Bein, das sogar bis zum Knie (... und sogar bis zu den Knöcheln ...) reichen kann. Das ganze Ding ist dabei im Schritt geschlossen und mit "Baumwollzwickel" versehen. Das Hosenkorselett ist sozusagen ein Ganzkörper-Mieder und das Material, aus dem diese Teile hergestellt werden, ist dabei so unnatürlich wie die Form, die aus der Frau wird, die dort drin steckt, nämlich (ein größerer Anteil) Polyamid und (ein kleinerer Anteil) Elasthan. Als ob das nicht schon genug wäre, kaschieren oder "formen" doppelte und dickere Stofflagen die so genannten "Problemzonen", zum Beispiel einen Rubens-Bauch, einen weiblichen Po, ebensolche Oberschenkel und Hüften - weg. Das bedeutet, hier wird - aus Sicht der Trägerinnen oder der Betrachter, je nachdem - "Unerwünschtes" wortwörtlich zusammen- oder abquetscht und/oder dorthin gedrückt und geschoben, wo es etwas mehr sein darf.
Durch das synthetische Material liegt das Zeug, das sich früher Korselett und Mieder nannte, heute jedoch verkaufsfördernder als "Shapewear", "Shaping Wear", "Slim-Fit", "Shape-Up", "Body Shape" und ähnlich bezeichnet wird, eng am Körper und damit direkt auf der Haut. Das Material als solches im direkten Hautkontakt dürfte grundsätzlich die eine Trägerin besser vertragen als die andere, so wie es auch bei anderen Materialien der Fall ist. Aber jetzt einmal im Ernst: Unterwäsche, gerade die Teile, die unterhalb der Gürtellinie liegen, nicht bei 90 Grad waschen? Das schlagen zwar immer mal wieder ein paar ehrgeizige Waschmaschinen- und Wachmittelhersteller vor, um die sagenhafte Leistung der eigenen Produkte herauszustellen, auch bei niedrigen Temperaturen gründlich zu reinigen, aber, ob das auch so stimmt, dazu müsste man wohl erst die Hygieniker fragen. Die würden, hätten sie die Wahl, dann wahrscheinlich eher dem klassischen Hüfthalter den Vorzug geben, weil der nämlich über der Unterwäsche getragen wird - und nicht stattdessen.
Glücklicherweise kann man in diesem Land tragen, was man will. Wer also bei sommerlichen Temperaturen keine Angst vor Schweiß, Bakterien, Pilzen, heftigem Juckreiz bis hin zu Sauerstoffmangel der Haut hat, darf sich hineinquetschen, wo hinein er bzw. sie will. Es entspricht auch dem Zeitgeist, dass momentan wieder mal weitaus mehr Schein als Sein gefragt ist. Kein Wunder also, dass das Comeback des Korseletts mit dem Dahinsiechen der US-TV-Serie "Sex and the City" zeitlich in etwa zusammenfiel. Es geht wieder deutlich zugeknöpfter zu und das nicht nur rein äußerlich: Heute wird auf Partys höchstens harmlos geflirtet. Das ist auch sicherer, schließlich quellen die wahren Formen des Bauches und der Hüften pünktlich nach dem Ablegen des Korseletts wieder in ihre ursprüngliche Fasson zurück. Aus der bezaubernden Miss Monroe einer rauschenden Nacht könnte so am nächsten Morgen plötzlich eine gleich um zwei Kleidergrößen breitere Mutter Flodder geworden sein. Wer wollte sich denn diese Blöße geben? Aber bis zu solchen unbequemen Momenten der Wahrheit kann man sich getrost sogar an kühleren Sommerabenden immerhin den Schulterschal oder auch gleich den fürsorglichen Begleiter sparen, da die zweite Haut aus Nylon nicht nur unnatürlich sitzt, sondern auch genauso wärmt.
Immerhin trägt der haut- oder anders-farbene Plastikschlauch, in dem so manche Partygängerin heute wieder steckt, auch etwas zur Emanzipation der genetisch weniger Begünstigten bei, wenn auch nur für einen Moment bzw. für ein paar Stunden. Und es hilft der demografischen Entwicklung der Einzelnen gegenüber a) denen, die sich Schönheits-Operationen leisten können und b) den scheinbar unsäglich vielen, viel sportlicheren Geschlechtsgenossinnen, die, weil sie nie oder nur stundenweise berufstätig oder mangels anderer zeitraubender Aufgaben, den lieben langen Tag auf Gymnastikmatten, Laufstrecken, Fahrrädern und in Fitness-Studios verbringen, um ihrem Körperkult ganzjährig zu huldigen. Vom Preis her dürften die Shape-Teile mit den Studios dabei bald fast schon auf Augenhöhe konkurrieren. Das hat etwas von ausgleichender Gerechtigkeit der Hilfsmittel: Warum nur für ein paar Stunden vorgetäuschter Sexyness wochen- und monatelang an monströsen Geräten schwitzen? Warum sich schinden, trainieren und hungern, wenn sich die glanzvollen Momente des Lebens lediglich auf ein paar Abende des Jahres beschränken? Hinein, in den Form-Schlauch. Kleid drüber. Rauf, in die High-Heels. Ab, in die Maske, und fertig, los! Ihnen eine gelungene Sommerpartysaison (ohne allzu große Peinlichkeiten).
2012-07-01 Angelika Petrich-Hornetz, Wirtschaftswetter
Text: ©Angelika Petrich-Hornetz
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