von Juliane Beer
Mein Großonkel, der nie eine andere Frau als meine Urgroßmutter vergöttert hatte, heiratete im hohen Alter und auf Druck der Familie seine Sandkastenfreundin, ein glückloses Geschöpf mit grauem Haarknoten, das im Laufe der Ehe ein gewisses Alkoholproblem entwickelte und sich einmal, nach dem Genuss eines guten Weins, bei meiner Großmutter beklagte, ihr Mann habe in acht Ehejahren und 2880 Ehenächten nicht das geringste Interesse an ihrer Person gezeigt, ja, sei bereits in der Hochzeitsnacht unverrichteter Dinge aus dem gemeinsamen Schlafzimmer geflohen.
Zu Weihnachten 1985 unterlief der Frau meines Großonkels ein weiterer, folgenschwerer Irrtum.
Ich hatte soeben meine erste eigene Wohnung bezogen und stellte fest, dass ich keinen Wandspiegel besaß. Natürlich stellte ein solcher ein unverzichtbares Wohnaccessoire für eine 21-Jährige dar, also wünschte ich ihn mir von meinem Großonkel. Seine Frau besorgte das Geschenk, ihr gefielen Spiegel mit reich verzierten Goldrahmen, allerdings war sie der Meinung, für ein Mädchen in meinem Alter täte es auch ein Imitat.
Der Rest ist reine Spekulation.
Mit dem imitierten Goldrahmenspiegel zuhause angelangt, muss die Frau meines Großonkels sich ein Glas guten Wein eingeschenkt haben. Hiernach probierte sie aus, wie sich anstatt des echten barocken Goldrahmenspiegels das soeben gekaufte Imitat in ihrer Diele ausnehmen würde.
Nach mehrmaligem Auf- und Abhängen der Spiegel und einem weiteren Glas guten Weines kannte sie sich plötzlich nicht mehr aus, welcher nun der echte und welcher der imitierte Spiegel war, so originalgetreu hatte man das mir zugedachte Weihnachtsgeschenk gearbeitet.
Genauso oder ähnlich muss sich die Vorgeschichte des barocken Spiegels, der seit dem Weihnachtsfest 1985 mein Schlafzimmer ziert, zugetragen haben.
2012-12-16 Juliane Beer, Wirtschaftswetter
Text: ©Juliane Beer
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