Das Internet der Dinge sorgt für Gründerstimmung und fordert Kühen in der 4. industriellen Revolution noch das letzte Kälbchen ab
von Annegret Handel-Kempf
Die Technikwelt wird von der 4. Industriellen Revolution, von der Machine-to-Machine (M2M)-Kommunikation und vom Paradigmenwechsel in Fertigung und Arbeitsorganisation, umgewälzt: Doch die Erfindernation Deutschland verschläft die Chancen der Industrie 4.0, die der Hightech-Initiative der Bundesregierung gemäß daraus entstehen soll, wenn sie sich weiter vom globalen Hochgeschwindigkeitsnetz abhängen lässt. Deshalb fordert Volker Smid, Deutschland-Chef beim Technologieriesen HP, einen unverzüglichen, 100-prozentigen Ausbau glasfaserbasierter Breitbandnetze. Smid drängt zudem auf einheitliche Standards und zielstrebige Zusammenarbeit: „Wir müssen weg von Insellösungen. Es fehlt die Geschwindigkeit. Viel Zeit darf nicht vergehen, wenn wir mit dem Innovationsstandort Deutschland entscheidend vorankommen wollen.“
Einheitliche Standards bedeuten, dass nicht nur Entwickler, sondern auch Geräte systemübergreifend und störungsfrei miteinander arbeiten können. Smid, der Vizepräsident des Informations- und Telekommunikation (ITK)- Branchenverbands BITKOM ist, führt als Beispiel den Ärger über unterschiedliche Ladegeräte an: Verbraucher und Umwelt dürften sich nun freuen, dass durch die endlich erreichte Vereinheitlichung der Handyschnittstellen pro Jahr mehr als 51.000 Tonnen Elektroschrott an Handykabeln wegfallen.
Besonders Heimarbeit bekommt mit dem Internet der Dinge eine neue Dimension, zum Greifen nah in der Flottenüberwachung und der Fernwartung von Anlagen. Maschinenbauer könnten die laufende Produktion am Wochenende von zu Hause überprüfen, statt ins Werk fahren zu müssen: Kontrollbefunde und Warnungen würden sich automatisch auf ihr Tablet oder andere mit der Fertigungsanlage übers Internet verbundene Tools spielen. Sind die Datennetze erst entsprechend ausgebaut und die Standards ausreichend kommunikativ, weiß ein Zugriffsberechtigter genau, was eine bestimmte Maschine macht, die irgendwo auf der Welt steht. Gerade in der Fertigung entstehen mit dem Internet 4.0 und seinem Vernetzen der Dinge ganz neue Geschäftsmodelle.
Doch führen Standardisierungen und der damit einhergehende Wegfall von Alleinstellungsmerkmalen nicht auch zum Verzicht auf umbrechende Erfindungen? Bremst Vereinheitlichung gar den Markt, weil der Käufer keine Anreize mehr sieht, sich etwas Begehrenswertes zu leisten, das so nicht jeder hat? Stichwort: iPad.
Nicht nur Flugzeuge, sondern auch Fahrzeuge, werden künftig miteinander reden. Thomas Form von der VW-Konzernforschung wünscht sich „einfache, beherrschbare Schnittstellen“. Sein Argument: „Wir haben keine Piloten am Steuer. Wir produzieren Produkte für den normalen Bürger, der damit klarkommen muss.“
Zumindest ein Teil der 1,2 Millionen Unfalltoten weltweit pro Jahre wäre vermeidbar, wenn man frühzeitig um die Kurve sehen könnte. Fahrzeuge mit M2M-Kommunikation melden sich beieinander, bevor sie in Sichtweite sind. Der Mobilitätsforscher: „Autos, wenn sie miteinander reden, sagen: Hallo hier bin ich.“
Miteinander sprechende Fahrzeuge können deshalb rechtzeitig auch die Situation um die Ecke beachten und entsprechend reagieren. Solche M2M-Kommunikation auf Rädern lässt sich ausbauen: Für einen effizienten Verkehrsfluss. Zur Unfallvermeidung. Und wenn es doch zu Unfällen kommt, um eine Rettungsgasse auf der Autobahn freizumachen.
M2M kann also viel Sinn machen, über Gewinnoptimierung hinaus. Mit der Industrie 4.0 soll das Internet sogar einen nachhaltigen Wettbewerbsvorsprung Deutschlands vorantreiben, indem es die Intelligenz, die in den Fertigungsprodukten „embedded“ ist, vernetzt. Doch wo ist die Nachhaltigkeit, wenn Tiere damit immer mehr zu gefühllosen Waren abgechipt werden?
Sehr gerne erzählt Jürgen Hase, Telekom-Vizepräsident M2M Competence Center, vom wirtschaftlichen Erfolg eines Projekts, bei dem M2M-Kommunikation den Lebensertrag einer Kuh, also die Zahl ihrer Kälbchen, via meldungsbereiter Chipüberwachung bei Eisprung und Geburt steigert. Bio-Babykostproduzent Claus Hipp hingegen sinnierte kürzlich beim Innovationsgipfel in München, mit Blick auf die Möglichkeiten des Internets der Dinge, über den Schweinehirten in der Odyssee und forderte ein Umdenken: „Ein Kilo Rindfleisch braucht 17.000 Liter Wasser, um erzeugt zu werden.“
So wie es heute schon für fast jede denkbare Anwendung eine App fürs Smartphone gibt, entstehen im Internet der Dinge für beinahe jedes Problem M2M-basierte Lösungen. Die Telekom sammelt als Mittler vor allem für mittelständische Unternehmen Ideen, wie die direkte Verständigung zwischen Maschinen effektiv genutzt werden kann. Sie sieht sich als „E2E“-, also „End-to-End“-Dienstleiter, der die Kundenanfrage bis zur ihrer Umsetzung orchestriert und den technischen Kommunikationsrahmen liefert. „Wir werden überschüttet. Die Anzahl der Projekte verhundertfacht sich pro Jahr“, sagt Hase, der auch den größten Maschine-zu-Maschine-Verband, die M2M-Alliance, leitet. Dieser will „bessere Rahmenbedingungen für attraktive und lukrative M2M-Lösungen“ schaffen. „Wir bewegen uns in einem sehr gesunden dreistelligen Millionenbereich. Jetzt schon.“ Hases Prognose: „Wir werden mit M2M bis 2015/2016 in einen Milliardenmarkt hineingehen. Irgendwann werden mehr Maschinen miteinander reden, als Smartphones.“
Könnte der Dienstleister selbst die neue M2M-Technologie zur schnellen Erledigung des Ersatzes für kaputte Telekom-Hardware nutzen? - Hase auf die Frage unserer Reporterin, ob defekte Router oder Receiver Probleme ohne menschliche Vermittlung an eine Telekom-Vertriebssoftware melden könnten, die dann sofort ein Ersatzgerät herausschicken und so lästige Wartezeiten vermeiden würde: „Wer soll das bezahlen? Wir müssen immer jemanden finden, der bereit ist, für den Nutzen zu zahlen. Will das der Kunde - zahlen? Wir wollen es nicht.“ Für Serviceverträge bei Kaffeeautomaten, die ihre zur Neige gehenden Kapseln gleich selbst nachbestellen, sieht der M2M-Mann hingegen durchaus Abnehmer.
Smid wiederum ist einer, dem es lieber wäre, gleich zu handeln und weniger ans kurzfristige Einfahren von Gewinnen, sondern mehr an langfristige Folgen, wie knappe Ressourcen und Energien, zu denken. Für ihn ergänzen sich Nachhaltigkeitsdenken und Vorwärtsstreben im globalen Technologierennen.
Die jüngere deutsche Wirtschafts- und Technologiegeschichte zeigt, dass es schneller gehen könnte und müsste mit einem nachhaltigen Innovationsstandort Deutschland. Der HP-Chef: „In den 1960er- und -70er-Jahren sind die Voraussetzungen fürs Internet geschaffen worden. Wir haben zu lange versucht, proprietäre Insellösungen zu suchen. Die nicht konsequente Anwendung von Internet ist Verschwendung. Beispielsweise, wenn wir für Besprechungen reisen und herumfahren, statt über Video zu konferieren, nur weil uns die verzögerte und schlechte Übertragung nervt.“
Der BITKOM-Vizepräsident sieht eine zweite Chance für Informations- und Telekommunikationstechnologie (ITK) aus Deutschland in der Welt gekommen, und damit für die erfindungsfreudige und exportorientierte heimische Wirtschaft, deren Bruttoinlandsprodukt bereits zu einem Viertel durch den Einsatz von ITK wächst: „Durch unser Know How in Maschinenbau und Gesundheitswesen können wir das Versäumnis wieder nachholen.“ VW-Forscher Form sieht Prozessoptimierung und Effizienz, die verbunden mit allen notwendigen Sicherheitsparametern aus dem Anlagen- und Maschinenbauland Deutschland in die Welt gehen, sogar als Notwendigkeit: „Sonst sind wir irgendwann weg vom Fenster.“ Auch Hase denkt letztlich weiter: „Wir komme ich aus einem reaktiven Modus in einen aktiven Modus und gestalte die Welt? Was braucht man?“
2013-04-19, Annegret Handel-Kempf, Wirtschaftswetter
Text: ©Annegret Handel-Kempf
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