von Angelika Petrich-Hornetz
Zitat: "Beurteile einen Menschen lieber nach seinen Handlungen als nach seinen Worten; denn viele handeln schlecht und sprechen vortrefflich."
Matthias Claudius
Am Strand war es nicht besonders voll, nur wenige Menschen verteilten sich über die Weite. Die Stimmung war geradezu sanft, angenehm freundlich und auffällig entspannt. Herrlichstes Wetter, Rimini an der Ostsee. Die Strandbesucher an diesem lauen Freitagnachmittag lächelten sich an oder träumten, mit geschlossenen Augen ins Sonnenlicht oder in die Ferne schauend, auf einen endlos blauen Horizont. Außer gedämpftes Plaudern, ab- und zu einen Jauchzer aus Kindermund und leisen Wellen kaum ein Geräusch. Das Wasser war klar, etwas kühl mit seinen vierzehn, fünfzehn Grad. Doch die Juni-Sonne brannte derart gnadenlos senkrecht auf uns nieder, dass es nicht lange dauerte, und wir alle saßen irgendwann in diesem erfrischend kühlen Element. Ein kleiner Junge am Ufer tauchte derweil seine Schaufel wieder und wieder ins seichte Uferwasser und warf begeistert eine Fuhre Wassertropfen nach der anderen hoch in die Luft, die durch das Sonnenlicht gebrochen, jedes Mal wie tausende kleine Diamanten glitzernd zu Boden rieselten. Ein paradiesischer Moment, ein zauberhafter Nachmittag.
Gleichzeitig ein paar Kilometer weiter in Deutschland: überschwemmte Dörfer und Städte, stinkender, öliger Schlamm, weinende Menschen, die alles verloren, eine nicht enden wollende kilometerlange Flutwelle und immer wieder: Regen, Regen, Regen. Nichts geht mehr. Straßen, Brücken, Bahngleise zerstört, kein Durchkommen, ratternde Rettungshubschrauber, Bundeswehrpanzer, Schulausfall bis auf Weiteres.
Die Norddeutschen hatten dieses Jahr ein für die kühleren Breitengrade eher seltenes Problem: Erstmals lachte ihnen Anfang Juni die Sonne so intensiv und tagelang ins Gesicht, wie schon lange nicht mehr, während besonders der Süden und Osten Deutschlands, aber auch bis in den südlichen Teil Norddeutschlands hinauf, die Menschen und ihre Häuser in den Wassermassen der Flüsse versanken.
Nach jedem sonnenverwöhnten Tag an Nord- und Ostsee boten die Medien dem mit Strandsand in den Schuhen heimkehrenden Küstenbewohner oder Reisenden vor allem eines: Bilder verzweifelter Menschen in Hochwassergebieten, die ihre Häuser verlassen mussten, die gemeinsam Sandsäcke stapeln oder nach dem Sinken der Pegel mit den zurückgelassenen Müll- und Schlammlawinen fertigwerden müssen. Kann man sich angesichts solcher Bilder über das "eigene" schöne Sommerwetter überhaupt noch freuen?
Man kann, allerdings nur deutlich eingeschränkt und gut dosiert. Vorbehaltlos freuen konnte sich im Juni in Deutschland nämlich niemand so recht, das Hochwasser war und ist allgegenwärtig, ein tägliches Gesprächsthema, das auf die Stimmung drückt. Voller Mitgefühl bangte man mit den Menschen an den Flüssen, vielleicht auch gerade, weil man hier an der Küste auch so nah am Wasser lebt.
Es war nur zweigeteilt zu ertragen: Vernünftig war es, das Draußen, das Hier und Jetzt temporär zu genießen und sich dennoch gleichzeitig angesichts des Leids in anderen Regionen in Bescheidenheit zu üben, wie wenig selbstverständlich die - man muss es so nennen - Gnade einer Schönwetterlage ist - und wie vergänglich. Für die älteren Schleswig-Holsteiner ist es auch eine Erinnerung an die eigenen Wetterkapriolen: die Flut von 1962 oder die Schneekatastrophe von 1978/79, als aus dem Norden Deutschlands über Nacht eine mit Bergen von Schnee gefüllte Eiswanne wurde.
Was tat man da? Genau das, was man jetzt tat: Man half sich gegenseitig. Es wurden keine Sandsäcke gestapelt, sondern tonnenweise Schnee geschaufelt, bis zum Umfallen, auch wenn hinter einem der eben frei gearbeitete Pfad gleich wieder zuwehte. Dorfbewohner zogen in Teams los, stapften durch den eisigen, permanenten Schneesturm, suchten die Bundesstraßen ab und holten dort festsitzende Lkw-Fahrer aus ihren Trucks und frierende Studenten aus ihren bis zum Dach eingeschneiten Enten und VW-Käfern heraus - und tauten sie zu Hause vor dem Kamin mit heißem Grog wieder auf. Der Strom war dank Überlandleitungen weg, also mussten Kerzen und Feuerholz herhalten. Man klopfte an die Türen bei jedem Bewohner. Ob sie etwas brauchen? Jeder gab, was man geben konnte, jeder tat, was er tun konnte und man nahm die Hilfe anderer dankbar an.
Nach diesem einschneidenden Ereignis legte sich eine tiefe Dankbarkeit und Bescheidenheit über diejenigen, die es erlebt hatten, und zwar dafür, dass man es überlebt hatte und vor allem dafür, dass die Nachbarn zusammenhielten, dass niemand allein gelassen wurde und man eine unglaubliche Hilfsbereitschaft erfahren durfte, mit der man vorher so sicher nicht gerechnet hatte. So etwas erfuhren nun auch die Betroffenen in den Hochwassergebieten, eine tragende, gegenseitige Hilfe, gepaart mit einem ungebrochenen, zielgerichteten Willen, es gemeinsam zu überstehen.
Da kommt es einem wie ein Film aus einer anderen Welt vor, dass noch Tage vor der Flut das Thema Cybermobbing dieselben Medien beherrschte, die jetzt über das große, gemeinsame Aufräumen in den Flutregionen berichteten.
Kann sich überhaupt noch jemand daran erinnern, dass vor der Flut, die Hauptbeschäftigung von einigen Menschen darin bestand, andere in und außerhalb von "sozialen Netzwerken" in die Pfanne zu hauen, üble Gerüchte zu verbreiten und sich auf Kosten seiner Mitmenschen zu profilieren? Auf einmal wurden diese Netze wirklich sozial, sind verwandelten sich plötzlich in tatkräftige Hilfsnetzwerke.
Aber leider ist es wahr, dass das gegenseitige Vertrauen, das viele Menschen in dieser Notsituation jetzt dankbar erleben, genauso Teil des Lebens ist, wie latentes Misstrauen bis hin zum gegenseitigen Niedermachen zum eigenen Vorteil, von dem ein "naturkatastrophenfreier" Alltag nur so gespickt ist. Historisch betrachtet, hat Deutschland schon zweimal die ekelhafteste Art alltäglichen Gegeneinanders erlebt, eine Gesellschaft, die aushorcht, denunziert und ungerührt zusieht, wenn Menschenn in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft vernichtet werden.
Brauchen wir etwa alle zehn Jahre eine klatschende Ohrfeige der Natur, um uns wieder darauf zu besinnen, wie nötig wir uns gegenseitig haben? Muss es immer gleich eine große Naturkatastrophe sein, die uns zeigt, was wirklich wichtig und was eigentlich unwichtig ist?
Tatsache ist, dass das Glück nicht jedem zu jeder Zeit lacht und auch nicht jedem der Erfolg in die Wiege gelegt wird. Fakt ist auch, dass günstigere oder ungünstigere Umstände eine Rolle spielen, wenn der eine Erfolg hat und der andere nicht - und genauso richtig ist, dass man Umstände und Rahmenbedingungen auch ändern kann. Es ist daher ignorant, eigenes Glück nur noch im negativen Vergleich spüren zu können, und sich einzubilden, das Pech von anderen sei etwa ein eigener Erfolg. Erst dann, wenn man sich vorbehaltlos freuen kann, wenn es auch dem anderen genauso gut geht wie einem selbst, wird das berühmte geteilte Glück zur doppelten Freude.
Wahr ist leider auch, dass noch viel mehr getan werden muss. Auf Wiederholungen der inzwischen schon zwei "Jahrhundertfluten" ist niemand erpicht. Der Hochwasserschutz nach 2002 war offensichtlich noch nicht ausreichend. Und zum Thema Glück, Leistung und Erfolg, über den sich alle hätten richtig freuen können: Wenn der Schutz so gut gewesen wäre, die Deiche und Dämme (vorhanden gewesen und) gehalten hätten und der Regen versickert wäre, ja dann hätte man sich überall in Deutschland sorglos freuen können. Aber das ist nicht passiert. Gründe gibt es viele, nur auf den eigenen Vorteil bedacht zu sei, war sicher auch einer davon.
Sollten eines Tages, nach Wochen und Monaten, alle Schäden weitestgehend beseitigt worden sein, sollte man hoffentlich auch nicht so schnell wieder vergessen, was tatkräftiger Zusammenhalt in Not und Elend bedeutet. Es ist in diesem Land schon zu oft passiert, dass viel zu schnell vergessen wurde.
In ganz Deutschland? Nein, ein kleines Dorf in Schleswig-Holstein feiert bis heute, jedes Jahr, und zwar ausgerechnet im Sommer ein großes Fest zum Gedenken an die tolle Nachbarschaftshilfe während der Schneekatastrophe im Winter 1978/79.
Wenn alles aufgeräumt ist, werden die Hochwasserregionen 2013 also mindestens bis etwa 2048 einmal im Jahr etwas genauso Großartiges zu feiern haben, nämlich sich selbst, ihre Nachbarn und alle anderen mutigen, professionellen und freiwilligen Fluthelfer, die diese anstrengende Leistung nur stemmen konnten, weil sie nicht allein waren.
Weitere Artikel zum Thema: Hochwasser - Rama Dama in Passau von Annegret Handel-Kempf
2013-07-01, Angelika Petrich-Hornetz, Wirtschaftswetter
Text: ©Angelika Petrich-Hornetz
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