Buchbesprechung
von Angelika Petrich-Hornetz
Das im Sommer 2013 von dem Richter und Sozialexperten Jürgen Borchert erschienene Buch "Sozialstaatsdämmerung" hat es in sich und wurde dennoch oder gerade deshalb, auch anlässlich seines Erscheinungsjahres, offenbar als Wahlkampfhilfe missverstanden. Die Frage lautet nur: Für welche Partei?
Schließlich greift das kompakte, kleine Buch, dass eine konzentrierte, sorgfältig mit zahlreichen Fußnoten und Quellenhinweise bestückte Zusammenfassung Bocherts früherer Schriften darstellt, um aktuelle Ereignisse und Entwicklungen ergänzt, die Sozialpolitik sämtlicher im Bundestag vorhandener Parteien an. Es bietet nicht nur eine kluge Kritik einer verfehlten Sozialpolitik, sondern auch die einer mindestens ebenso verfehlten Wirtschaftspolitik, die lediglich den oberen Zehntausend zuwirtschaftet, deren ins astronomische wachsende Vermögenskonzentrationen lediglich für einen verlangsamten, impotenten Umsatz sowie für zu wenige Investitionen sorgen und damit der Wirtschaft des ganzen Landes tatsächlich mehr schaden als nutzen.
Der Autor vergleicht Deutschland mit einem Schiff, dessen Ladung verrutscht ist und das folglich bald zu sinken droht. Er übertreibt nicht, sondern deckt auf, dass es sich insbesondere bei den angeblichen "Gaben" in der Sozial- und Familienpolitik sämtlicher bisheriger Regierungen in Wahrheit um eine Almosenverteilung handelt, die von den Familien mit Kindern im Land auch noch größten Teils selbst bezahlt wird, nämlich von dem, was ihnen der Staat von ihrem Einkommen wegnimmt
Die ebenfalls im vergangenen Jahr 2013 durch das Medienbundesdorf getriebene "200-Milliarden-Euro-Sozialwohltaten-Sau" für Familien entlarvt Borchert treffend als ein schlichtes "Sortiment gemeingefährlicher Rohrkrepierer" und weist dem Sozial- und Steuersystem der Bundesrepublik Deutschland das Gegenteil vom verfassungsgemäßen Schutz der Familie mit Kindern nach, nämlich deren aktive, beschämende Ausbeutung.
Die gesetzliche Rentenversicherung, also das Rentenumlagesystem ist laut Borchert lediglich noch für die Empfängergeneration als eine Versicherung zu verstehen, als dass diese "Versicherung" der älteren Generation die Garantie gibt, auf das Einkommen und damit die Leistungsfähigkeit der jüngeren Generation einen unbeschränkten Zugriff zu erhalten. Die Kosten für das Alter sind mit diesem System vergemeinschaftet - die Kosten für Kinder dagegen bis auf Weiteres als rein private Ausgaben zementiert worden.
Dabei hatte das zum Beispiel mit seinem "Beitragskinderurteil" zur Pflegeversicherung einst eben nicht nur gesagt, Familien mit Kindern sollten ab 2005 lediglich durch einen, ein paar Prozentpunkte (0,25) niedrigeren Beitrag entlastet werden, sondern mit diesem Urteil erstens die Gleichwertigkeit von Kindererziehung und Geldbeiträgen anerkannt und damit zweitens angemahnt, einen Lastenausgleich in der Sozialversicherung für kindererziehende Familien herzustellen, die schließlich den größten und teuersten Faktor aus ihrer Privatschatulle zu den Sozialversicherungen beitragen - und zwar in alle Verträge, die zwischen den Generationen bestehen und damit auch in der Kranken- und und in der Rentenversicherung. Momentan sind die größten Beitragszahler in die Krankenkassen die große Mehrheit der Familien mit bis zu drei Kindern - genau das wissen aber leider nur die wenigsten, beklagt der Autor wohl leider zu Recht.
Das ist nur eines von vielen Details aus dem reichhaltigen Wissensschatz des Autors, der den Lesern in seinem Buch außerdem mit den dazu gehörenden, reichlich vorhandenen Zahlen, Daten und Fakten sowie den Namen von Ross und Reiter versorgt. Borchert zeichnet die Entwicklung, dieses dramatischen Scheiterns deutscher Sozial-, Familien- und auch Steuerpolitik bis zur aktuellen Schieflage detail- und kenntnisreich nach, inklusive wichtiger, historischer Daten der größten politischen und gesetzgeberischen Fehlentscheidungen, im Rentensystem u.a. die Rentenreform von 1957 unter Missachtung des "Schreiber"-Plans, der einstmals auch die Vergemeinschaftung der Kinderkosten vorgesehen hatte, die bedauerlicherweise, u.a. wegen der Erkenntnis Adenauers, unter den Tisch fiel, dass Kinder keine Wähler seien.
Das lausige Ergebnis dieser verfehlten Politik, Zitat (S.60): "Obwohl die Geburtenzahl in Gesamtdeutschland seit 1965 von über 1,3 Millionen auf 650.000 im Jahr 2012 glatt halbiert wurde, stieg der Anteil der Kinder im Sozialhilfe- bzw. im Harz-IV-Bezug auf das 16-Fache; stand 1965 nur jedes 75. Kind unter sieben Jahren zeitweise oder auf Dauer im Leistungsbezug, trifft dies heute auf jedes 5. Kind insgesamt zu." Zitatende
Sowie (Seite 86) zur Zukunft: "Die noch lebenden, rund 1,25 Millionen Geborenen des Jahrgangs 1965 gehen in den Ruhestand, gleichzeitig kommen die etwa 650.000 Geborenen des Jahrgangs 2010 in das Erwerbsalter. Von ihnen wandern die Besten, circa 100.000 "High-Potentials", aber aus und ein Viertel der Kinder - circa 170.000 - beherrscht die für die Teilnahme am Arbeitsleben notwendigen Kulturtechniken nicht ausreichend, sie müssen also mitversorgt werden. Dann stehen somit rund 1,4 Millionen neue Versorgungsempfänger kümmerlichen 380.000 Arbeitsmarkteinsteigern gegenüber. Bei diesem Spiel, so viel ist sicher, wird es keinen Gewinner, sondern nur Verlierer geben." Zitatende.
Borchert nennt den Zustand an anderer Stelle auch: "Zukunftsvernichtung", und rechnet vor, dass in Deutschland die öffenlichen Lasten zu weit über 60 Prozent aus, damit insbesondere Arbeiternehmer, untere Einkommensklassen und Familien teuer zu stehende kommende, Verbrauchssteuern und Sozialbeiträgen bezahlt werden. Der Sozialstaat Deutschland war - und ist damit offenbar auch bis auf Weiteres - nicht in der Lage, endlich seine kapitalen Rechen- und Verteilungsfehler zu korrigieren, im Gegenteil, die Belastungen für die unteren Einkommensklassen und für Familien nahmen in den vergangenen Jahren stetig zu, so dass der Sozialstaat seinem eigenen Anspruch nicht gerecht wird, nämlich den natürlichen gegebenen Vorteil des Einzelnen im (inzwischen globalen) Marktgeschehen, der nur seinen eigenes und keine weiteren Mäuler zu stopfen hat, gegenüber Familien auszugleichen, doch genau das ist das, was die soziale Marktwirtschaft charakterisiert.
Das Buch ist eine Fundgrube und ein Schlüssel für alle, die ernsthaft daran interessiert sind, verstehen zu wollen, woher Kinderarmut, Geburtenschwund auf der einen und verarmte, dauergestresste Kinder sowie deren ebenso dauergestresstes Umfeld in Form von Eltern, Schulen und Kitas auf der anderen Seite in Deutschland wirklich herkommen. Es sind die ganz schlichten sowie logischen Konsequenzen einer komplett verfehlten Politik und damit Auswirkungen, die auffallend unangenehm gut mit den von Borchert vorgetragenen Fakten und Hintergründen korrespondieren.
Schließlich gibt es auch Hinweise und Antworten darauf, was zu tun wäre, würde man endlich damit aufhören, sich ständig etwas vorzumachen, wobei die Hoffnung des Autors allerdings nicht allzu groß zu sein scheint, auch das belegt durch die Nennung der zahlreichen familienfreundlichen Gerichtsurteile u.a. des Bundesverfassungsgerichts, die bis heute nicht umgesetzt worden sind. Das so genannte "bedingungslose Grundeinkommen" gehört übrigens nicht zu den Antworten auf die derzeitige Misere, denn das würde die gegenwärtige Ausbeutung von Familien mit Kindern sogar noch verschärfen, so Borchert, der für die Gegenwart nichts weniger fordert, als den Sozialstaat von Grund auf zu rekonstruieren.
Fazit: Eine fundierte Analyse des gescheiterten Famlienlastenausgleichs, der inwzwischen gefährlich für das ganze Land wird, in einem kleinen, kompakten Buch konzentriert, gut lesbar, voller Fakten, die Argumentierenden sowie (Nach-) Fragenden helfen werden können, konkret zu werden. Und das dürfte in der aktuellen Entwicklung von großem öffentlichen Interesse sein. Eine aufschlussreiche Lektüre, auch für Wirtschafts- und Sozialpolitiker auf allen Ebenen und nicht zuletzt für alle bestehenden und künftigen Familien, die wissen wollen und wissen müssen, was in den nächsten zwanzig, dreißig Jahren auf sie zukommt.
Buch-Werbung+ weitere Infos zum Buch:
Sozialstaatsdämmerung
von Jürgen Borchert
August 2013, im Riemann-Verlag, Verlagsgruppe Random House
ISBN: 978-3-570-50160-3
2014-01-01, Angelika Petrich-Hornetz, Wirtschaftswetter
Text: ©Angelika Petrich-Hornetz
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