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Gemeinsame Sache mit den Wettbewerbern machen: „Interoperabilität“ als Weg der Weisen für ein neues Wirtschaftswunder

Treffpunkt Innovationsgipfel

von Annegret Handel-Kempf

Was bringt Erfinder zum Erfinden, wie setzen Innovationen „Made in Germany“ zum globalen Höhenflug in der Industrie 4.0 an? Darüber tauschten sich Entscheider aus Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung auf dem 7. Deutschen Innovationsgipfel in München aus. Passend zum Frühlingsstart extrem angeregt. Denn sie können nur noch miteinander: „Interoperabilität“ ist das Zauberwort im Umfeld der „Smart Factory“, in der sich selbst die Maschinen unterhalten. Sogar die Scheu vor dem Mitbewerber soll überwunden und durch Partnerschaften ersetzt werden, wenn es darum geht, Leitmarkt fürs „Internet der Dinge“ zu werden.

Die Schraube als Vorbild für eine virtuelle Welt, in der eigentlich voneinander unabhängige Systeme möglichst effizient zusammenarbeiten: Sie sollen „Interoperabilität“ praktizieren, das heißt ohne gesonderte Absprachen zur Zusammenarbeit vereinbar sein. Das ist besonders wichtig in der voll vernetzten Produktion der beginnenden 4. Industriellen Revolution, die über die klassische Automatisierungstechnik weit hinausgeht: Die mechanischen, elektronischen und informationstechnischen Welten verschmelzen, wenn Maschinen, Anlagen, Produkte und Menschen miteinander vernetzt kommunizieren.

„Das Thema Interoperabilität ist entscheidend. Das war es in der physischen und ist so in der virtuellen Welt, siehe Schraube“. So fasste Dr.-Ing. Carlos Härtel, Managing Director Global Research Europe bei GE, während der Abschlussdiskussion zusammen, wie sich Deutschland mit Smart-Factory-Technologie an die Spitze der Weltwirtschaft katapultieren könnte – quasi als zweites deutsches Wirtschaftswunder. „Wollen wir die Industrie 4.0 wirklich erfolgreich umsetzen, ist interdisziplinäres Wissen und Denken gefragt“, postulierte der erfahrene Erfinder und Manager.

Von einer kompletten Verschmelzung und Standardisierung konkurrierender Unternehmen und ihrer Produkte ist dabei nicht die Rede. Dies zeigten Vorträge, Workshops und Einzel-Gespräche am Rande des Spitzentreffens. Denn auch eine mit einer Schraube hergestellte Verbindung ist in der Regel nicht nur kraft- und formschlüssig, sondern auch wieder lösbar. Nur muss sie eben ins Gegengewinde passen. Sonst passt nichts.

Keine Kontrahenten: Offenheit und Sicherheit

Offenheit im Denken sei in Deutschland gegeben und werde auch von außen so gesehen, waren sich die Diskutanten einig. Offene Schnittstellen sind jedoch Mangelware. Besonders Start-ups hätten hierzulande – anders als in den USA - mit derartigen Bremsen im Netzwerk-Verkehr zu kämpfen. Deutsche Sicherheits- und Schutz-Ansprüche seien daran schuld, die teils berechtigt, teils zu überdenken wären.

Etwa, wenn vor lauter Virenscannern und Filtern nicht mehr richtig im Internet recherchiert werden kann. Wenn ein extrem aktives Sicherheitssystem mit häufigen Fehlalarmen wieder und wieder ganze Produktionsstraßen lahmlegt. Andererseits führen echte Störungen zu massiven Problemen in der Produktion und sind im Bereich kritischer Infrastrukturen, wie Energie und Verkehr, sogar lebensbedrohlich.

Passive Systeme, wie die beim Innovationsgipfel vorgestellte honeyBox von secXTREME, beeinträchtigen das industrielle Netzwerk nicht, sondern legen einen Köder aus. Angreifer und infizierte Systeme sollen bei der Überwachung von Netzwerken in der Fläche auf diese Weise schnell genug erkannt werden, um die Ausbreitung von Schadsoftware zu verhindern. Dabei emuliert das System eine größere Anzahl von angreifbaren Systemen (low interaction honeypots) in verschiedenen Netzsegmenten.

Eine Kombination aus Firewall, Angrifferkennungssystem (IDS) und honeyBox wird vom Hersteller empfohlen, um reibungslose Abläufe, Sicherheit und Offenheit in Einklang zu bringen.

Dr. Andreas König, CIO bei Pro7Sat.1: „Offene IP-Schnittstellen, wie in Silicon Valley, habe ich hier noch nicht erlebt.“ M2M gibt es trotzdem. Der Fernsehmacher: „Einzelne Werkzeuge beginnen, sich auszutauschen.“

Bereits seit zehn Jahren ist die Medienfabrik von Pro7Sat.1 komplett digitalisiert, hat Industrie 4.0-Technologien voll integriert und kann in Losgröße eins produzieren. Das Unternehmen hat jüngst mehr Fernsehsender, auch online und individualisierbar, gestartet. Ein Spielfeld für die Smart Factory in den neuen Medien, durch die sich der Prozess-Output prinzipiell erhöhen lässt. Königs Fazit aus diesen Erfahrungen: „Interoperabilität ist der wichtigste Faktor bei der Einführung und Umsetzung von Industrie 4.0.“ Dennoch seien im Medienbetrieb nur Teilprozesse zu automatisieren: „Menschen können wir nicht skalieren, sie sind im Produktionsprozess immer noch notwendig.“ Der Kreativbereich sei nach wie vor das Herz des Unternehmens, „und das ist auch gut so“.

Gefordert: Verlässliche Infrastrukturen, die global funktionieren und die Welt verändern

Dieter Donis, Bereichsleiter Entwicklung bei Bosch Connected Devices & Solutions, plädiert dafür, die „eigene Scheu vor dem Wettbewerber zu verlieren“. Die 4. Industrielle Revolution gelinge nur partnerschaftlich. In Inseln und Silos zu denken, mache keinen Sinn. Der Entwicklungschef der jungen Bosch-Tochterfirma: „Wir müssen offen sein für neue Partnerschaften, neue Geschäftsmodelle und Standardisierungen. Wir brauchen verlässliche Infrastrukturen, die weltweit funktionieren.“

„Neue Lösungen und neue, erfolgreiche Geschäftsmodelle lassen sich in der komplexen Welt von Big Data oder Industrie 4.0 nur noch auf einer vertrauensvollen Basis gemeinsam mit Partnern realisieren“, fordert auch Kai Brasche, Vice President Digital M2M bei der Telefónica. Sein Beispiel, wie das Internet der Dinge für Nachhaltigkeit im Business sorgt, ist eine automatische Datenübertragung zwischen technischen Geräten (M2M), bei der das Smartphone selbst mit anderen technischen Einrichtungen spricht. Ein solches Szenario: Dem Elektroauto geht allmählich die Energie aus. Das Smartphone zeigt automatisch an, wo es in der Nähe problemlos geladen und die Ladezeit vielleicht auch noch mit einem Einkauf verbunden werden kann.

M2M stelle mit derartigen Möglichkeiten einen ungeheuren Wachstumsmarkt dar. Auch in der Logistik ließen sich die Prozesse in der Industrie 4.0 ganz neu strukturieren, über die ganze Wertschöpfungskette, von der Herstellung bis zur Lieferung, beziehungsweise Erbringung einer Dienstleistung.

Die Innovationszyklen würden immer kürzer: „Wir verändern mit diesen Dingen die Welt, nicht nur im Bereich der Maschinen, sondern gesellschaftlich. Ich stehe manchmal auf und habe eine Gänsehaut deshalb“, so der M2M-Macher der Telefónica.

Siehe digitalSTROM: Klein, bunt, aber oho sind die legosteinähnlichen, intelligenten Lüsterklemmen, die älteren Menschen ihr Zuhause erhalten helfen. Ihre Installation durch einen Elektriker kostet nicht mehr, als ein bis zwei Monate im Heim. Wurden die individuellen Bedürfnisse oder Wünsche dann noch über eine einfach auszufüllende App via PC oder Smartphone erfasst, unterhält sich das Haus sogar mit seinen Bewohnern – und warnt sie, wenn sie etwas vergessen haben oder es gar gefährlich werden könnte. Wenn die Haustechnik so viel registriert, hat das noch andere Folgen, beispielsweise bei Schadensfällen. Martin Vesper, CEO des Schweizer Unternehmens zur intelligenten Vernetzung der Haustechnik, die über das reguläre Stromnetz kommuniziert: „Der Sachbearbeiter-Bereich wird weitgehend wegfallen und die Kreativen-Kognitiven die Wirtschaft anfeuern“.

Frank Pörschmann, I4.0 Business Angel und ehemaliger CeBIT-Vorstand, verwies als Moderator der Abschlussdiskussion darauf, dass laut neuem Koalitionsvertrag die Industrie 4.0 als Standortfaktor „aktiv besetzt“ und dabei auch die Nachhaltigkeit eingebunden werden soll. Die Wertschöpfungskette fange in der Smart Factory früher an, als in der klassischen Produktion. Jetzt würden alle Abläufe in den Herstellungs- und Betriebsstätten über vernetzte IT-System koordiniert und gesteuert.

Für den Kreativ-Chef der Ideenschmiede „frog design“, Holger Hampf, ist zukunftsfähiges Wirtschaften, das ökologisch, ökonomisch und soziologisch zugleich ausgerichtet ist, selbstverständlich: „Es wird grundsätzlich erwartet, dass ein neues Produkt den Ansprüchen der Nachhaltigkeit entspricht.“

Wie Nachhaltigkeitsmanagement in der Praxis funktioniert, erläuterte Louis Lang von der Recarbon Deutschland GmbH anhand der Methode Bilan Carbone. Die aus Frankreich stammende Berechnungsmethode zur Messung von Treibhausgasemissionen wird derzeit zum am häufigsten genutzten Instrument fürs Bilanzieren und Managen von CO2-Emissionen. Sobald die strategischen, energiebezogenen Risiken eines Unternehmens konkret berechnet sind, wird ein individueller Reduzierungsplan für alle direkten und indirekten Treibhausgasemissionen erstellt. Die Unabhängigkeit von fossilen Energieträgern soll ebenso steigen, wie die Sensibilisierung für die Konsequenzen des eigenen Wirtschaftens – auch mit Blick auf neue Geschäftsideen, Interoperationen und Innovationen.

„Revolutions-Management“: Wissen abholen, Verschwendung streichen

Die Unternehmen müssten in der Industrie 4.0 nicht nur interoperieren, sondern sich auch intern neu orientieren, war man sich auf dem Spitzentreffen einig.

Für Brasche ist klar, dass nicht nur gefragt werden muss, mit welchen Mitarbeitern der Weg gegangen wird: „Auch im Management muss sich einiges ändern. Die Anforderungen an uns steigen ganz gewaltig.“

Frog-Designer Hampf, der Firmen bei der kreativen Suche nach einer Symbiose aus Innovation, Nachhaltigkeit und Design unterstützt, weiß von Mankos: „Goldgruben, wie das Intranet, werden noch nicht angezapft.“ Obwohl in den Firmen selbst eine Menge an Wissen da sei. Seine Empfehlung: „Das Management muss jeden Tag durchs Unternehmen gehen und an Wissen interessiert sein.“

Dr. Ulrich Frenzel, Staufen AG, gab als Ziel aus, die Wertschöpfung nicht noch wertschöpfender zu machen, sondern die Verschwendung zu reduzieren: „Je genauer Du planst, desto härter überrascht Dich der Zufall.“ Karl Müller, Entwicklungsleiter Automobil bei der Marquardt GmbH, berichtete vom Wachstum des Familienunternehmens durch Lean Development und Orientierung an der Durchlaufzeit: „Wir erkennen mit viel weniger Planung viel schneller, wenn es irgendwo klemmt.“

Ein Spezialist darin, wie man Erfinder zum Erfinden bringt, ist Dr. Rainer Guggenberger, Corporate Scientist, bei der 3M Deutschland GmbH. Bei der Firma, die es Nils Armstrong durch ein spezielles Polymer an der Schuhsohle ermöglicht hat, den ersten Schuhabdruck auf dem Mond zu machen.

Auch er hält viel davon, nicht zu viel zu planen, denn in der Anfangsphase von Projekten seien Fehler sehr wichtig. „Ich bin immer sehr nervös geworden, wenn in den ersten Phasen alles fehlerfrei lief. Kurz vor der Markteinführung kam dann ein technischer Fehler“, berichtete Guggenberger im stark frequentierten Workshop von seinen Erlebnissen in mittelständischen Unternehmen und Großkonzernen.

Geführt werden solle über Ziele, für die ein Startpunkt festgelegt wird. Kreativität und Leidenschaft müsse dabei ausreichend Freiraum eingeräumt werden: „Wenn ein intelligenter Mensch von seinem Chef ständig vorgeschrieben bekommt, wie er die Dinge machen soll, wird das seine Kreativität abtöten“, warnte der gelernte Chemiker. Die eigenen Ideen zunächst selbst zu verfolgen, sei viel besser als technisches Ideenmanagement, besonders in Forschung und Entwicklung. „Es ist wichtiger, dass einer ein Produkt entwickelt, das 50 Millionen bringt, als dass einer 50 Leute herumkommandiert“, lautet Guggenbergers Credo.

Hochkomplexe Manöver: Der Flug der Bionic-Opter-Libelle

Bild Innovationsgipfel 2014 in München, Foto Annegret Handel-Kempf Während die Spitzenleute der deutschen Wirtschaft gerade mal nicht miteinander kommunizierten, um gemeinsam neue Ideen zu entwickeln und Partnerschaften für die 4. Industrielle Revolution auszuloten, kreiste eine Libelle über ihren Köpfen. Keine echte, sondern eine, deren hochkomplexe Flugmanöver-Befähigungen von der Natur abgeguckt worden sind.

Dr. Heinrich Frontzek von FESTO hielt wieder einmal die Luft an, während er den „Bionic Opter“ in alle Richtungen manövrieren ließ. Schließlich muss das 173 Gramm leichte Flugmodell vier Flügel ohne die Hilfe von Helium in der Luft halten, die leichter ist als der sogenannte „Bionic Opter“. Dabei soll die Hochtechnologie-Libelle fliegen wie ein Flugzeug, die Tragflächen drehen wie ein Hubschrauber und segeln wie ein Segelflugzeug - einzigartig.

„Bei diesem extremen Leichtbau ist alles aus Plastikpulver gedruckt“, sprach der Wirtschaftsingenieur und Fertigungstechniker mit 3D-Druck ein weiteres Thema des Innovationsgipfels an. „Indem wir derart beeindruckende Assoziationen aus der Natur holen, wollen wir auch junge Menschen für die Technik begeistern“, schlug der Bionik-Experte die Brücke zwischen den Errungenschaften der Evolution und den künftigen Möglichkeiten der 4. Industriellen Revolution. Und die dürfte nach diesem Revolutions-Gipfel bald von den Inseln der Einzelkämpfer in die Interoperabilitäts-Säle einziehen.


2014-04-01, Annegret Handel-Kempf, Wirtschaftswetter
Text: ©Annegret Handel-Kempf
Foto: ©Annegret Handel-Kempf für Wirtschaftswetter®
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