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Abschied vom Glauben an eine gerechte Welt

Gegen Glaubenskriege unterschiedlicher, persönlicher Gerechtigkeits-Vorstellungen helfen nur demokratische Institutionen

von Angelika Petrich-Hornetz

Der Postkasten war wieder einmal voll - mit Werbung: Eine private Universität verspricht eine akademische Karriere als Garantie für ein gutes Einkommen, und angeblich, wie es weiter heißt, wäre das "die" Vorraussetzung auch für das private Lebensglück. Ein Yoga-Institut verspricht eine entspanntere Haltung zum Alltag, eine Verbesserung der Work-Life-Balance, und ebenfalls: ein viel schöneres Leben. Ein Kosmetikunternehmen preist seine Anti-Falten-Gesichtspflege an, weil angeblich "junges Aussehen", laut Herstellerangaben, "das" Tor zu beruflichem Erfolg und privatem Glück sei. Sollte der Kunde also alle diese teuren Angebote annehmen, die Privat-Universität, den Yoga-Workshop plus Gesichtscreme, wäre es nur gerecht, wenn dann zumindest dessen eigene Welt richtig schön, erfolgreich und glücklich ausfallen würde.

Auf die Werbepost folgt in der Tageszeitung ein drastisches Kontrastprogramm: Aus einer neuen Regional-Studie geht hervor, dass von rund 900 befragten Schülern, zwischen 13- und 16 Jahren fast 9 Prozent, und damit jeder elfte Schüler, eine rechtsextreme Haltung pflege und 26 Prozent Kontakt zur rechten Szene hätten. Etwa die Hälfte der Schüler gaben an, sie wären bereits Opfer rechter Gewalt oder solcher Anfeindungen gewesen. 13,7 Prozent der befragten Schüler waren "eher ja" oder "voll und ganz" der Meinung, dass "die Weißen zu Recht führend in der Welt" seien. 22,2 Prozent meinten, "Wie in der Natur sollte sich auch in der Gesellschaft immer der Stärkere durchsetzen". Ingesamt waren 11 Prozent der Auffassung, "Durch ihr Verhalten sind die Juden an ihrer Verfolgung in Deutschland mitschuldig" und 10,6 Prozent fanden, "Juden haben etwas Besonderes und Eigentümliches an sich und passen nicht so recht zu uns". Satte 30 Prozent befürworteten die Aussage "Wir haben genug Ausländer in Deutschland. Es sollten keine mehr kommen". Und 20,5 Prozent waren der Ansicht, "Die Ausländer haben Schuld an der Arbeitslosigkeit in Deutschland". Fast 11 Prozent (10,8) waren der Meinung, "Unter bestimmten Umständen ist eine Diktatur die bessere Staatsform", noch mehr Schüler, 14,1 Prozent gaben an, "Wir sollten wieder einen Führer haben, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert" und 31,9 Prozent meinten "Deutschland sollte wieder die führende Rolle in der Welt übernehmen".

Außerdem wurden die Schüler danach gefragt, wer ihnen diese Überzeugungen vermittelt habe. Neben den Eltern, die ihre Kinder von ihren rechtsextremen Ideologien zu überzeugen versuchten (4 von 9) sowie den Geschwistern (5 von 8) wurden Personen innerhalb der Feruerwehr (3 von 4), Jugendclubleiter und Nachhilfelehrer (5 von 8) angegeben. Als familiäre Risikobereiche der Befragten, ausgeprägte rechtsextreme Einstellungen zu entwickeln, gab es die höchsten Werte bei "erlebter häuslicher Gewalt", gefolgt von "dysfunktionaler Familienstruktur" (Scheidung der Eltern, Heimerfahrung), indes deutlich niedriger in Relation zu einer nicht vorhandenen rechtsextermen Einstellung bei "Geldsorgen/Armut".
Geringes bzw. "Fehlendes elterliches Monitoring" war der einzige Faktor, bei dem die rechtsextremen Einstellungen niedriger ausfielen als die nicht vorhandenen rechtsextremen Einstellungen. Allein Defizite reichen als Erklärung nicht aus, so die Forscher, es fanden sich auch rechtsextrem eingestellte Schüler, die aus gefestigten und harmonischen Familien stammten. Mit steigendem Alter der Jugendlichen wurde zudem der Freundeskreis immer prägender. Die große Mehrheit der Schüler beantwortete die Frage, ob sie über viele Freundschaften verfügen mit "Ja", auch die "Zufriedenheit mit der eigenen Person" ließ auf keine Unterschiede schließen: Selbst hoch gewaltbereite und rechtsextrem eingestellte Schüler waren eher mit sich selbst zufrieden.

Die Forscher stellten außerdem fest, es gibt nicht nur einen Typen eines rechtsextremen Weltbilds, jedoch zwei Richtungen: Anders als für rechtsextreme Gewalttäter, sei das, Zitat "Ziel von überzeugten Rechtsextremisten, eine nach ihren Idealen homogene Gesellschaft zu schaffen, für die sie nicht nur mit gemeiner Brutalität kämpfen. Sie sind in der Lage, ihre Gewaltbereitschaft auch gezielter und kontrollierter einzusetzen und so eher auch Führungspositionen zu übernehmen.", Zitatende. Auch Bildung scheint keine Garantie gegen an und für sich gewaltbereites Verhalten zu bieten, so kommt die Studie zu dem Ergebnis, Zitat: "Bezüglich der Schullaufbahnempfehlung wird deutlich, dass der größte Anteil derjenigen, die auf verschiedene Arten bereits allgemein gewaltätiges Verhalten zeigten, Schüler mit einer Empfehlung für das Gymnasium sind", Zitatende. Am friedlichsten verhielten sich demnach Mittel- bzw. Realschüler. Bei rechtsextremer Gewalt kehrte sich das Ergebnis allerdings um, und mehr Hauptschüler zeigten dieses Verhalten. Als Fazit der ganzen Studie formulierten die Autoren, dass die Ergebnisse den Eindruck untermauern, dass sich, Zitat: "Rechtsextremismus immer stärker in der Mitte unserer Gesellschaft etabliert", Zitatende.
Für weitere Ergebnisse und Details empfehlen wir Ihnen die Lektüre der Studie, siehe unten der Hinweis, die dazu beitrug, dass nun ein regionales Demokratiezentrum entsteht.

Was hat diese Studie nun mit dem Postkasten voller Werbung gemeinsam? Auf dem ersten Blick erst einmal gar nichts, weil niemand auf Anhieb irgendwelche Produkte oder Dienstleistungen zur Selbstoptimierung ausgerechnet in Verbindung mit Gewalt und Rechtsextremismus bringen würde, es sei denn, jemand nehme die Formulierungen gerade der sehr glückverheißenden Prospekte endlich einmal genauer unter die Lupe. Dann stellte dieser oder diese erstaunt fest, dass nicht nur Produkte und Dienstleistungen, sondern bestimmte Einstellungen und Werte zum Kauf angepriesen werden. Es wird offen damit geworben, dass durch das Kaufen, Einüben und Befolgen dieser Angebote und jener Lehren, der Kunde gleichermaßen einen vermeintlichen Vorteil gegenüber anderen erringen könnte. Die Botschaft lautet: Wenn Sie gebildeter, biegsamer und schöner als die anderen sind, werden sie glücklicher - als diese anderen - sein. Es geht gerade nicht lediglich um Produkte oder Aktivitäten, die alle haben oder ausüben können, sondern um die jeweils exklusive Selbstoptimierung, die, wenn sie erfolgreich verläuft, genauso erfolgreich den Ausschluss anderer garantiert. Damit sind die Aussagen der Werbesendungen denen in der Studie erstaunlich ähnlich, in der eine lautete, es bräuchten nicht noch mehr Ausländer nach Deutschland kommen, man bliebe lieber unter sich. Nur, wenn Sie unsere Produkte kaufen, nur, wenn Sie unserer Ideologie folgen, wird Ihr Leben exklusiv besser, glücklicher und gerechter - als das der anderen.

Hinter solcher Art Heilsversprechen, Optimierungswahn und Ausschluss von Minderheiten steckt häufig der so genannte "Gerechte-Welt-Glaube", den die Gerechtigkeitsforschung seit vielen Jahrzehnten wissenschaftlich untersucht und der seinen Anfang etwa in den 70er Jahren durch die "Gerechte-Welt-Skala" von Rubin und Peplau hatte. Der Sozialpsychologe Melvin J. Lerner stellte kurze Zeite später, ausgehend von der Fragestellung, warum es reiche Gesellschaften zulassen, dass es vielen Menschen in ihrer reichen Mitte materiell, gesundheitlich und sozial sehr schlecht geht, die "Gerechte-Welt-Hypothese" auf, (Engl: "Belief in a Just World").

An eine im Allgemeinen gerechte Welt zu glauben sei ein tiefes Bedürfnis, stellte Lerner fest. Einfach und kurz ausgedrückt würde nach dieser Hypothese "jeder bekommen, was er verdiene" - und umgekehrt. Mit dieser einfachen Formel erscheint das Leben geordnet, stabil und überschaubar, innerhalb dessen Plan- und Überschaubarkeit der Einzelne handlungsfähig bleibt, da er nicht mehr dem Chaos, einem Schicksal oder irgendeinem unvorhersehbaren Ereignis ausgesetzt ist. Weil die Handlungsfähigkeit auf dieses Denk- bzw. Glaubensmodell beschränkt bleibt, und entsprechend durch unverhergesehene Ereignisse dann doch schwer erschüttert werden kann, wird der Glaube an eine gerechte Welt bei Bedrohung dieses Glaubensmodells entsprechend vehement verteidigt. Das kann mehrere Formen annehmen, z.B. kann dieses Weltbild durchaus Hilfe und Unterstützung für Opfer von Ungerechtigkeiten hervorrufen, so kann das Bild einer grundsätzlich gerechten Welt wieder hergestellt werden. Genauso kann das bei vielen Menschen tief verankerte Glaubensmodell aber auch, und zwar, wenn Hilfe und Unterstützung für das Opfer aus den unterschiedlichsten Gründen nicht (mehr) möglich ist oder auch nur subjektiv unmöglich erscheint oder - auch als Folge der Unmöglichkeit - die Unschuld eines Opfers angezweifelt wird, zum Gegenteil, nämlich zur Beschuldigung des Opfers führen. Das Opfer eines Schicksalsschlags oder einer Gewalttat wird dann bezichtigt, es sei "selbst Schuld" an der ihm widerfahrenden Ungerechtigkeit, an seinem Unglück. Auch damit sind die Gerechte-Welt-Gläubigen in der Lage, ihr Bild einer grundsätzlich gerechten Welt weiterhin aufrecht zu erhalten.

In beiden Fällen, mit erheblich unterschiedlichen Folgen für die Opfer, bleibt der Glauben an die gerechte Welt unangetastet und wird damit erfolgreich aufrecht erhalten. Wer ein übles Schicksal hat, das aber aus der Sicht der Gläubigen selbst verursacht wurde, ist schließlich selbst schuld, und dessen Schicksal ist folglich nicht ungerecht. Eine Reihe von verschiedenen Erklärungen und Begrifflichkeiten existieren für solche Wiederherstellungen (Rekonstruktionen) des inneren Gleichgewichts der Gläubigen, z.B. der "fundamentale Attributionsfehler", der eine Überwertung von persönlichen Eigenschaften darstellt, so dass ein Ereignis, wie ein Schicksalsschlag als in der Person begründet betrachtet wird - und die tatsächlichen Umstände einer Situation mehr oder weniger (fahrlässig) außer Acht gelassen werden, so dass Vorurteile entstehen bzw. erhalten bleiben. In der Kriminologie kennt man die Herabwürdigung des Opfers einer Straftat durch den Täter als einen (von mehreren) möglichen Versuchen zur so genannten Neutralisation - zur Rechtfertigung der Tat. Aber auch das lediglich beobachtende Umfeld kann auf die Idee kommen, mit Hilfe von Neutralisation einer der Tat seinen Glauben an eine eigene gerechte Welt wieder herzustellen, bzw. erst gar nicht ernsthaft zu gefährden.

Seit Lerner bestätigten viele Untersuchungen seine Annahmen und führten zu weiteren Erkenntnissen. Inzwischen wird zwischen dem Glauben an eine persönliche gerechte Welt und dem Glauben an eine allgemein gerechte Welt unterschieden, die beide etwas unterschiedliche Bedeutungen und Auswirkungen haben können, außerdem ist der Glaube an einer persönliche gerechte Welt häufiger. Vielleicht bröckelt, dank schnellerer und weltweiter Information, globalen Nachrichten und Medien, der Glaube an eine allgemein gerechte Welt, aber es gibt ihn noch - und er wird von bestimmten Gruppen, aber auch von totalitären Staaten gehegt und gepflegt. Der Glaube an die persönliche gerechte Welt ist dagegen weit verbreitet, nicht zuletzt in Deutschland in der zahlenmäßig überlegenen Babyboomer-Generation, der man nicht wünschen will, sie komme erst im Alter auf den Trichter, dass es sich dabei um ein Glaubensmodell und nicht um die Realität handelt.

Während der persönliche Glaube an die gerechte Welt, als derjenige gilt, der eher positivere Auswirkungen habe, u.a., weil dieser zu einem subjektivem Wohlbefinden führt, gilt der Glaube an eine allgemeine Gerechtigkeit der Welt bei den Forschern als eher für die negative Auswirkungen zuständig, wie dem Abwerten von Menschen oder ganzen Menschengruppen. So wird der Versuch verschiedener Regierungen, das Internet zu kontrollieren oder auch ganz oder temporär abzuschalten nachvollziehbar, weil die Kontrolle dem Zweck der Aufrechterhaltung des Glaubens an eine gerechte Welt dient, und damit das Bedürfnis nach Stabilität erfüllt. Ganze Weltanschauungen, religiöse oder politische Strömungen, alte und neue Heilslehren, Gesundheitsdogmen und Werbeversprechen, uvm. basieren auf diesem Glauben, der beinhaltet, dass nur schlechten Menschen, schlechte Dinge widerfahren und guten Menschen folglich nur gute. Und gut, denkt der Mensch, vor allem über sich selbst. Dieses Vertrauen in die Welt und in sich selbst, ermöglicht in Folge Investitionen in die Zukunft, irgendwann werde man schon belohnt. Das motiviert, das persönliche Wohlbefinden und die persönliche Leistungsfähigkeit steigen, messbar auch in ganzen Gruppen und Gesellschaften. So weit, so gut.

Wird dieser Glaube jedoch erschüttert, weil das erlittene Schicksal oder der durch ein Ereignis erlittene Schaden nicht mehr innerhalb dieses Glaubensystem vollständig kompensiert werden kann, wird nicht das Glaubenssystem als solches in Frage gestellt, sondern nach Ersatz gesucht, um das Glaubensmodell unbedingt aufrecht zu erhalten, z.B., indem das Opfer eines Schicksalschlags abgewertet wird oder es sich selbst abwertet ("selbst Schuld", "verdiente Strafe"). Andere Möglichkeiten sind, das erlittene Schicksal, das Ereignis als solches oder die Folgen daraus herunterzuspielen. Weitere Möglichkeiten sind: Vergessen, Verdrängen und Vergeben, um den Glauben an die gerechte Welt als solchen aufrecht zu erhalten.

So erklären sich möglicherweise auch manche seltsame Reaktionen männlicher, indischer Politiker, angesichts der jüngsten Vergewaltigungen von Mädchen und Frauen, die den Opfern eine Mitschuld unterstellten oder die Tat herunterspielten. Der Glaube an die eigene gerechte Welt wird somit nicht angetastet. Die Erkenntnis, dass zumindest Teile der indischen Gesellschaft tatsächlich frauenfeindlich und korrupt sein könnten, würde diesem Glaubensmodell gefährlich werden. Und in Deutschland überlässt man arme Kinder lieber Lebensmittel-Tafeln und Bildungsinitiativen, als dieser Armut ins Gesicht zu sehen und sie abzustellen. Die Wahrheit wäre zu schrecklich - zu ungerecht - und des persönlichen Wohlbefindens der Verantwortlichen abträglich. Die Aufrechterhaltung des Glaubens an die eigene gerechte Welt und das Festhalten am persönlichen Wohlbefinden, das aus diesem Glauben hervorgeht, sind zu wichtig, weil man nur in diesem Rahmen selbst funktionieren kann. Und so wird weiterhin weggesehen und damit die viel schlichtere Realität genauso schlicht geopfert. So paradox es klingt: Ausgerechnet Menschen, die an eine gerechte Welt glauben, werden damit zu Vertretern zur Aufrechterhaltung vorhandener Ungerechtigkeiten. Dies dürfte sich zum Teil auch in der Kritik an so den genannten "Gutmenschen" wiederfinden.

Damit wird der Glaube zum Mythos - oder gar zum Syndrom - und der Mythos von der gerechten Welt hält sich hartnäckig. Oder er taucht in lediglich neuen Formen wieder auf, wie in der Esoterik, z.B. in den Annahmen einschlägiger Kreise, nicht etwa Ereignisse des schnöden, irdischen Diesseits, sondern mutmaßliche Misstaten "vergangener Leben" hätten in diesem Leben zugeschlagen. Oder Krebskranken wird unterstellt, sie grübelten einfach zu viel, das sei ungesund. So wird der Glauben aufrecht erhalten, man käme um eine todbringende Krankheit herum, wenn man sich nur richtig verhalte. Bis heute gilt im Geschäftsleben Krankheit immer noch häufig als verpönt, als hätten die Betroffenen "schlecht gearbeitet" und gelebt, statt einfach nur Pech zu haben. Das entspricht einer verzerrten Wahrnehmung sowie übelsten Vorurteilen und Vorstellungen in der Beurteilung von Schicksalsschlägen, die das schlichte Ziel haben, die allgemeine oder die persönliche, gerechte Welt am Leben zu erhalten, koste es, was es wolle, selbst wenn längst alle Grenzen der Menschlichkeit überschritten werden. So ist die durchaus verständliche (Sehn-) Sucht nach einer gerechten, stabilen, überschaubaren Welt zwar für einige ein Grund, altruistisch zu handeln, für andere aber nicht, die infolgedessen zur Aufrechterhaltung ihrer eigenen Welt lediglich Nicht-Passendes ausgrenzen. In diesem Zusammenhang stellt auch die Aussage einiger Jugendlicher in o.g. Studie über eine angebliche Mitschuld der Juden und deren angebliche Sonderbarkeit, eine Beschuldigung und Herabwürdigung der Opfer ("Blaming the victim") dar, mit dem Zweck, das eigene (selbst-) gerechte Weltbild, nicht zu gefährden.

Auch das Gegenteil des Gerechte-Welt-Glaubens ist vorhanden, der Ungerechte-Welt-Glauben. Genauso standhaft wie im anderen Extrem, hängen Menschen diesem Glauben an, richten sich in ihrem gemütlichen Elend ein und zelebrieren ihr persönliches Unwohlsein, ihre mangelnde Motivation sowie fehlende Leistungsbereitschaft. Sie verteidigen ihren Glauben genauso vehement wie die Gläubigen der gerechten Welt. Ausgeschlossen werden auch hier stets die Anderen, in diesem Fall die Erfolgreichen, die Glücklichen, die vom Schicksal Begünstigten.
Die Forscher gehen davon aus, das unter anderen Faktoren, insbesondere Erfahrungen eine große Rolle spielen. Wenn eine bestimmte Grenze ungerechter Erfahrungen im Leben eines Menschen überschritten wird, bekommt die Hypothese der gerechten Welt Risse. Wenn der Glaube erst zusammengestürzt ist, leidet darunter bei vielen Menschen zunächst einmal das persönliche Wohlbefinden, in Folge dessen die Motivation und damit einhergehend auch die Leistungsbereitschaft und in einem gewissem Umfang auch die Hilfsbereitschaft, zu der man im Glauben an eine gerechte Welt noch bereit wäre. Im schlimmsten Fall trifft es ganze Gruppen und Gesellschaften, inklusive aller daraus folgenden Wirkungen für diese. Darum ist es kein Wunder, das so vehement am Glauben an einer gerechten Welt festgehalten wird. Das eine wie das andere Extrem können jedoch die Realität nicht ersetzen, in der es keineswegs so einfach und so schwarz-weiß zugeht, wie in den so überschaubaren, eigenen Glaubenswelten.

Die Gewalt und damit Ungerechtigkeit, die Kindern widerfährt, nimmmt gegenwärtig wieder zu, allein schon durch die vielen kriegerischen Auseinandersetzungen, für die Kinder definitiv gar nichts können, aber auch durch familiäre und institutionelle Gewalt, und auch dafür können sie nichts. Der Glaube an die gerechte Welt ist damit aktuell nicht mehr aufrecht zu erhalten. Aber das ist nichts Neues, es ist schließlich nicht "das erste Mal", dass die Welt ungerecht ist, wie etwa spätestens nach den beiden Weltkriegen in Deutschland endlich von vormals verblendeten Massen erkannt werden musste. Das Erkennen steckt nichts vorurteilsbehaftet in vorhandene Heile-Welt-Schubladen, sondern sieht hin und bedient sich dabei einer gewissen Trennschärfe, bevor überhaupt das Deuten einsetzt. Dazu mussten in der Vergangenheit und müssen vielleicht auch in der Gegenwart nicht nur ein paar neue Schubladen, sondern ganz neues Mobiliar angeschafft werden.

InselUnd genau darum, gerade weil diese Welt alles andere als gerecht und schön, sondern schrecklich ungerecht ist, hat Deutschland keinen Klüngelclub exklusiv Besserwissender, sondern eine Verfassung, fünf ständige Verfassungsorgane, eine Legislative, eine Exekutive, eine Judikative eingerichtet - sowie u.a. eine Krankenversicherung, um soziale Härten abzufedern. Das heißt, es wird ein erheblicher Aufwand betrieben, um bereits zur Genüge erlebte, durch einseitige Sichtweisen und Wunschdenken hervorgerufene Machtkonzentrationen und Willkür, inklusive deren ungerechte Folgen, endlich nicht mehr dauernd zu wiederholen. Damit werden zwar weder die Welt noch das Leben als solche in jedem Fall gerechter, wie z.B. auch der im Juni angelaufene Film "Das Schicksal ist ein mieser Verräter" seinem Publikum zeigt, aber es macht die Welt für viele Menschen wenigstens etwas erträglicher, lebenswerter und planbarer. Auch hier wieder ein Paradox, dass ausgerechnet im Angesicht des Verlusts des Glaubens an die gerechte Welt, Verständnis, Vertrauen und Motivation steigen oder sogar auch erst hervorrufen können. Dahinter steckt das Erkennen, dass die Welt viel komplizierter, unüberschaubarer und instabiler ist, als es die fatalistischen Glaubensmodelle von gerechter und ungerechter Welt jemals zulassen könnten. Dafür geht immerhin der Zwang verloren, alles daran zu setzen, lediglich noch ein krampfhaftes Bild von einer Vorstellung der Welt aufrechterhalten zu müssen, inbesondere, wenn dieses nur noch über die Herabwürdigung anderer Menschen und das Herunterspielen schwerer Schicksalsschläge funktionieren sollte.

Schließlich muss man, trotz oder gerade wegen der derzeit weltweit wachsenden Kriegsfronten, in Deutschland und Europa endlich zur Kenntnis nehmen, dass wir eine Einwanderergesellschaft sind, wenn man nicht will, dass sich in nicht allzu ferner Zukunft immer mehr ältere Einheimische und immer mehr jüngere Eingewanderte lediglich noch verständnislos gegenüberstehen, jeder in seinem ganz eigenen Glauben an eine gerechte Welt gefangen, der, s.o., messbar dazu tendiert, konsequent alles auszuschließen, was dort jeweils nicht hineinpasst.


2014-07-01, Angelika Petrich-Hornetz, Wirtschaftswetter
Text: ©Angelika Petrich-Hornetz
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