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Die Wand - ein feministischer Roman?

von Juliane Beer

Am 6. Oktober 2014 zeigt der Sender Arte die Verfilmung des Romans "Die Wand" von Marlen Haushofer.

Protagonistin und Ich-Erzählerin in Haushofers drittem Roman Die Wand, erschienen 1963, ist eine Mittvierzigerin, die, wie subtil in den Text eingestreut wird, mit ihrem einerseits eintönigen, anderseits hektischen Stadtleben als Hausfrau und Mutter von zwei erwachsenen Töchtern unzufrieden ist.

Der Roman beginnt damit, dass die Ich-Erzählerin, die bis zum Schluss namenlos bleibt, einen Ausflug mit einem verwandten Ehepaar zu deren Jagdhütte im Gebirge unternimmt. Am Abend besucht das Ehepaar eine Gaststätte im Tal und kehrt nicht zurück. Die Protagonistin macht sich am nächsten Morgen mit dem Hund des Ehepaares auf den Weg, um die beiden zu suchen. Plötzlich läuft der Hund gegen ein unsichtbares Hindernis, verletzt sich. Die Protagonistin stellt fest, dass sie eingeschlossen sind, eine riesige Wand wie aus Glas steht ihnen im Weg. Durchs Fernglas betrachtet ist hinter dieser Wand alles Leben erstarrt, Menschen und Tiere stehen und liegen da wie Puppen.

Im Verlauf der nächsten Tage wird deutlich, dass die durchsichtige Wand ein ausgedehntes Gebiet einschließt. In der Jagdhütte der Familie gibt es immerhin Essensvorräte, Streichhölzer und Werkzeug. Innerhalb des eingeschlossenen Gebietes geht das Leben weiter, als sei nichts geschehen; es gedeihen Tiere und Pflanzen. Die Protagonistin beginnt, sich einzurichten und zu versorgen. Menschen begegnen ihr innerhalb ihres gläsernen Gefängnisses zunächst nicht, doch verschiedene Tiere laufen ihr zu: Katzen, ein Rabe, eine trächtige Kuh, die für Milch sorgt. Bald hat sich ein gut eingespieltes Team aus Mensch und Tieren zusammen gefunden. Die Sorge um ihre Schützlinge und die tägliche Mühe des Überlebens, wie das Erlegen von Wild, das Hacken von Brennholz, das Bestellen von Beeten usw. fordern die einstige Städterin bis zur Erschöpfung. Schließlich beginnt sie, ihr Leben innerhalb der gläsernen Wand aufzuschreiben.

Der Sommer kommt, die Protagonistin zieht mitsamt ihrer Tierfamilie um, auf die ebenfalls eingeschlossene Alm. Auch das Leben dort lässt sich zwar mühsam, aber ohne größere Zwischenfälle meistern. Die durchsichtige Wand steht nach wie vor da, ist aber immer weniger Thema. Es scheint fast, als habe die Protagonistin sich mit ihrer Gefangenschaft arrangiert. Einzig, wenn es darum geht, dass die Streichhölzer oder das Mehl nur noch einige Monate reichen werden, schreibt sie der Wand eine (negative) Bedeutung zu.

Auch der zweite Sommer wird auf der Alm verbracht. Als die Ich-Erzählerin eines Nachmittags von einem Ausflug zur Almhütte zurückkehrt, steht plötzlich ein fremder Mann auf der Wiese, der sogleich ohne ersichtlichen Grund den Stier und danach den Hund erschlägt. Die Protagonistin eilt in die Hütte, holt ihr Gewehr und erschießt den Eindringling. Trotz der Morde bleibt sie bemerkenswert gefasst und optimistisch, was die Zukunft angeht. Der Roman endet hier.

Immer wieder wurde "Die Wand" als eine radikale Zivilisationskritik gedeutet, in kaum einer Rezension bleibt beispielsweise der langsam zuwuchernde Mercedes neben dem Jagdhaus unerwähnt.

Doch nur um Zivilisationskritik zu üben, hätte die Autorin keine Wand hochziehen und sich dadurch in die Gefahr begeben müssen, nicht ernst genommen zu werden. Phantastische Elemente in hoher Literatur sind nach wie vor ein sensibles Thema, gerade im deutschsprachigen Raum ist das Prädikat ´Unterhaltungsliteratur´ schnell verliehen. Zivilisationskritik lässt sich gefahrloser üben, indem man seine Protagonisten beispielsweise mit einem Flugzeug über einer einsamen Insel abstürzen lässt und dann mit dem ´echten Leben´konfrontiert.

Worum mag es Haushofer also gegangen sein? Erstaunlich, aber bislang von Rezensenten relativ unbeachtet ist die Tatsache, dass die Protagonistin über das plötzliche Auftauchen der Wand nicht halb so erstaunt ist, wie sie eigentlich sein müsste.
Eines Morgens vor einer gläsernen Wand zu stehen ist ein Ereignis, dass selbst ausgeglichene, psychisch stabile Menschen in den Wahnsinn treiben könnte. Die Protagonistin jedoch ist zwar erschrocken, aber nur in dem Maße, als habe sie es mit einem zwar vollkommen unerwarteten aber doch möglichen Phänomen zu tun. Die Wand wird von ihr oberflächlich untersucht, und zwar so, als wäre mit dem Ereignis zu rechnen gewesen. Eingestreute kurze Kommentare bezüglich eines gewissen Überdrusses ob ihres bisherigen Gefangen-seins in bürgerlichen Konventionen tun ein übriges. [...]Manchmal erkannte ich den Zustand unserer Welt ganz klar, aber ich war nicht fähig, aus diesem unguten Leben auszubrechen[...]

Im weiteren Verlauf des Romans konzentriert die Eingesperrte ihre Kräfte nicht etwa darauf, sich mit der Beschaffenheit der Wand und damit ihren Flucht-Chancen zu befassen, sondern setzt vielmehr alles daran, sich innerhalb ihrer nicht sichtbaren Gefängnismauern einzurichten. Die gläserne Wand ist bald ein Nebenschauplatz, allerhöchstens ein hin und wieder erwähntes lästiges Übel. In großer Ausführlichkeit aber wird über den Tagesablauf, die beschwerliche Versorgung mit Lebensmitteln, über Ausflüge ins Tal, über das (Liebes)leben der Haustiere berichtet. Seitenlang meint man, eine gängige Robinsonade zu lesen, nun eben endlich einmal mit einer weiblichen Isolierten.

Aber ist "Die Wand" deshalb ein feministischer Roman? Seit den 1980er Jahren wird er als solcher geführt. Mit Recht? Die Reaktion der Protagonistin - sich von einem Gefangen-sein in ein anderes Gefangen-sein zu ´retten´, am Gefangen-sein an sich also nichts ändern zu wollen oder zu können, sich innerhalb der besseren (?) Freiheitsberaubung wieder einzurichten und typisch weibliche Eigenschaften, wie hier Pflege und Sorge um die Tiere an den Tag zu legen, ist kein emanzipatorischer Akt, im Gegenteil. Falls die Protagonistin also tatsächlich keine andere Möglichkeit sah, dem patriarchalen System zu entkommen, als eine Glasmauer um sich zu errichten, so tut sie innerhalb dieser Schutzzone wieder genau das, was von ihr auch zuvor erwartet wurde, und ihr verhasst war: Sie duldet den erkannten, begrenzten Zustand, richtet sich innerhalb dieses Zustands so gut es geht ein, unternimmt keine Fluchtversuche in die wirkliche Freiheit. So ist sie aus der Unfreiheit in die Unfreiheit entwischt, und man fragt sich, ob dies Haushofers Metapher dafür ist, dass für die meisten Frauen nach wie vor eine wirkliche Befreiung, wie auch immer diese aussehen könnte, nicht möglich ist. Wo frau auch hin flieht, sie findet sich immer im (unsichtbaren!) Gefängnis wieder.

Ein genauer Blick auf das Werk der Autorin lässt vermuten, dass es ihr selbst genau so in ihrem kurzen Leben erging. Erzogen in einem Klosterinternat und sozialisiert im Österreich der 1930er und 1940er Jahre (katholisch-ständestaatliche Diktatur, dann Anschluss an Hitler-Deutschland), ist sie als Erwachsene hin- und hergerissen zwischen eintönigem Familienleben der 1950er und frühen 1960er Jahre einerseits und einem unkonventionellen Leben als Künstlerin anderseits, letzteres ein Wagnis, das zu dieser Zeit bereits von einigen Frauen eingegangen worden ist. Haushofers Romane aber handeln von weiblichen, bürgerlichen Existenzen, die sich durch kleine Fluchten, zum Beispiel in "Die Mansarde" von 1969 und in "Wir töten Stella" von 1958 oder größere Fluchten in "Die Wand" von 1963, ein vermeintlich besseres Gefängnis schaffen. Der wirkliche Ausbruch, das Hintersichlassen aller Konventionen, scheint für Haushofer und ihre Protagonistinnen undenkbar zu sein.

Marlen Haushofer wurde 1920 in Frauenstein, Österreich geboren, studierte Germanistik und heiratete 1941. Aus der Ehe ging ein Sohn hervor, einen unehelichen Sohn hatte Haushofer in die Ehe mitgebracht. Marlene Haushofer schrieb Erzählungen und Romane und erhielt zahlreiche Auszeichnungen für ihr Werk. "Die Wand" wurde ihr erfolgreichster und meistdiskutierter Roman, er kam 2012 auf die Kinoleinwand. Mit nur 49 Jahren starb Haushofer an einer Krebserkrankung.


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Buch:
Die Wand von Marlen Haushofer
Taschenbuch, Broschur
288 Seiten
ISBN-13 9783548610665


2014-10-01, Juliane Beer, Wirtschaftswetter
Text: ©Juliane Beer
Foto Banner: aph
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